»Mama? Mama? «
Sie war nicht in der Küche. Dabei saß sie sonst gern am Feuer, stopfte Kleidung, scheuerte die Kochtöpfe blank oder schaukelte einfach nur vor und zurück, während sie in die Flammen blickte. Sie mochte es, weil es weit weg von Ihm war, Ihm, der durch das Haus pirschte wie ein wütender Schatten, Ihm, der betrunken und nach Bier stinkend aus den Kneipen nach Hause taumelte, immer auf der Suche nach einem Grund, um auf uns wütend zu sein.
Er würde mich niemals schlagen, wenn sie dabei war, weil sie sich mit ihren wild funkelnden blauen Augen vor mich stellen und ihm sagen würde, dass er ihren Jungen in Ruhe lassen solle.
Meine Augen waren nicht blau. Sie waren schwarz wie Seine, schwarz und ohne Pupillen, wie die Augen der Haie im Meer. Aber meine Haare waren wie ihre, weich und dunkel, und oft legte ich den Kopf auf ihre Knie, und sie streichelte meinen Kopf, und dann weinten wir beide und taten hinterher so, als hätten wir es nicht getan. Sie sang ein leises Liedchen, das bis in mein Herz drang und dort wohnen blieb, ein Lied, das ich in all den langen Jahren meines Lebens immer wieder singen würde.
Er war weggegangen, wie Er es jeden Abend machte, bevor ich vom Buchbinder zurückkam. Mama hoffte, dass ich dort eine Lehre machen konnte, wenn ich älter war, aber noch war ich Laufbursche, holte und brachte Dinge und machte hinter den älteren Männern sauber, und am Abend gaben sie mir eine Münze oder zwei, die ich nach Hause zu ihr bringen konnte.
Sie sparte alle diese Münzen in einem geheimen Versteck. Er wusste nichts davon, und ganz egal, wie heftig er sie schlug, sie sagte nie etwas. Ich sagte auch nie etwas, weil ich nicht wusste, wo es war. Aber sie sparte, damit wir eines Tages fortlaufen konnten, irgendwohin, wo es keine Prügel und keine Angst gab, nur ich und Mama, glücklich für immer.
Ich betrat das Häuschen und rief nach ihr, aber sie kam nicht mit einem Lächeln an die Tür, wie sie es sonst immer tat.
Er war nicht da, das wusste ich ganz sicher, denn wenn Er im Haus war, füllte er den gesamten Raum aus. Sogar wenn Er schlief, tat er das, dann scholl sein betrunkenes Schnarchen durch das ganze Haus, und der Gestank von Alkohol und Erbrochenem überwältigte jede frische Brise, die durch das offene Fenster hereinkommen mochte.
»Mama?«, rief ich, und als ich nach hinten zur Küche kam, war sie dort auch nicht, und ich begann mir Sorgen zu machen.
Unser Haus hatte nur vier Zimmer, und als ich in allen gewesen war, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Vielleicht war sie zum Markt gegangen, aber dafür war es zu spät, und der Markt hatte längst geschlossen. Mit Ihm wäre sie niemals aus dem Haus gegangen, weil sie fand, dass das Trinken Ihn ekelhaft machte, und sowieso wollte Er sie nicht bei sich haben.
Ich stand in der Küche und überlegte, ob ich sie suchen gehen sollte oder ob ich einfach genau da bleiben sollte, wo ich war, damit sie sich keine Sorgen machte, wenn sie zurückkam. Ich wollte ihr keine Sorgen machen, sie hatte schon so viele, ohne dass ich noch welche hinzufügte.
Dann bemerkte ich, dass die Hintertür offen stand, nur einen Spalt.
Mama würde niemals das Haus verlassen, ohne die Tür abzuschließen. In der schmalen Gasse hinter dem Haus gab es Ratten, und Mama hasste Ratten, und eine offen stehende Tür war wie eine Einladung an sie – das sagte sie immer.
Und die Kerzen brannten, genauso wie das Feuer. Kerzen waren ihr wichtig, Mama würde sie niemals verschwenden. Sie würde auch niemals das Haus verlassen und das Feuer unbewacht lassen.
Ich ging zur Tür und stieß sie ganz auf. Am ganzen Körper zitternd lugte ich in die Dunkelheit, das flackernde Licht aus der Küche im Rücken. Ich konnte nichts sehen außer unruhigen Schatten, aber ich hörte das Huschen der Ratten und schauderte. Ich mochte ebenfalls keine Ratten, auch wenn ich das Mama gegenüber nie eingestehen würde. Mama sollte mich für mutig halten.
Ich wollte die Ratten nicht ins Haus lassen, aber ich wollte auch nicht hinaus ins Dunkle gehen, also blieb ich in der Tür stehen und rief: »Mama?«
Sie antwortete nicht.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Tür war offen, also musste Mama hier entlanggegangen sein. Die Kerzen brannten, also wollte sie nicht weit weg. Aber sie antwortete nicht.
Vielleicht war sie verletzt, beschloss ich. Und wenn Mama verletzt war, musste ich jetzt mutig sein, damit sie stolz auf mich war.
Ich holte eine der Kerzen aus der Küche, trat damit in die Nacht hinaus und schloss die Tür hinter mir. Das Geräusch, mit dem die Tür ins Schloss fiel, ließ mich zusammenzucken. Kerzenwachs tropfte zischelnd auf meine Hand.
Es roch komisch, nicht nach verrottendem Abfall und Ratten wie sonst. Es lag noch etwas anderes in der Luft, das in meiner Nase kitzelte.
Ganz vorsichtig tastete ich mich weiter vor, die Steine klingelten unter meinen Absätzen. Meine Schritte waren so laut in der Dunkelheit, obwohl von der anderen Seite des Hauses Straßenlärm herüberdrang, Menschen, die lachten, redeten oder sich etwas zuriefen. Diese Menschen schienen sehr weit weg von mir zu sein.
Der Lichtkreis, den die Kerze warf, war sehr klein, und rundherum drängte die Dunkelheit auf mich ein. Für einen kurzen Augenblick war mir, als blitzte etwas Silbernes vor mir auf, das schwache Licht meiner Kerze wurde für einen Wimpernschlag reflektiert, und dann war es wieder dunkel.
Dann trat mein Fuß gegen etwas, etwas Weiches. Dann fand der Kerzenschein es, und da war sie.
Ihre Augen waren blau und leer, und ihr dunkles Haar lag wirr um ihren Kopf ausgebreitet auf dem Boden. Sie lag auf der Seite, ihre Arme zum Haus hin ausgestreckt, als wollte sie nach etwas greifen, als streckte sie die Arme nach mir aus.
Ihr Mund stand offen, genau wie ihre Kehle, und das Blut war überall auf ihrem blauen Kleid, quoll aus dem Lächeln, wo kein Lächeln hingehörte.
»Mama?«, fragte ich, und meine Stimme klang sehr, sehr klein.
Ich streckte die Hand nach ihr aus, weil es einfach nicht sein konnte, es konnte nicht sein, dass meine Mama, die mich küsste und in den Arm nahm und mich so eng an sich drückte, hier mit aufgeschnittener Kehle und blutüberströmtem Kleid auf den kalten Steinen lag.
Ich versuchte, sie aufzuheben, sie aufzuwecken, sie dazu zu zwingen aufzuhören, so zu tun, als sei sie tot. Die Kerze fiel mir aus der Hand und erlosch.
»Was hast du getan?«, kam eine Stimme durch die Dunkelheit.
»Meine Mama«, schluchzte ich.
Ein Junge erschien aus dem Nichts. Anfangs dachte ich, ich hätte ihn noch nie gesehen, doch dann fiel mir ein, dass ich ihn kannte. Er war etwas älter als ich und hatte grüne Augen und rotes Haar, und ich hatte ihn mehr als einmal in der Nähe unseres Hauses gesehen. Er schien nirgendwo hinzugehören, und manchmal hatte ich das Gefühl, er beobachtete mich, wenn ich am Abend nach Hause ging, aber wenn ich versucht hatte, ihn genauer anzusehen, war er immer verschwunden.
Jetzt stand er über Mama und mir und blickte streng auf mich herab.
»Was hast du getan?«, fragte er noch mal.
»Ich habe gar nichts getan«, sagte ich. »Ich habe sie so gefunden.«
»An deinen Händen ist überall Blut, und wenn der Schutzmann kommt, wird er denken, du hast sie getötet, und dann werden sie dich aufhängen«, sagte er.
»Aber …«, sagte ich.
»Du bist manchmal ganz schön wütend, oder?«, fragte er. »Oder stürzt du dich etwa nicht manchmal auf deinen Vater und hämmerst mit den Fäusten auf ihn ein? Wirst du etwa nicht manchmal so wütend, dass du das Geschirr in der Küche zerschlägst?«
Das stimmte, aber ich wusste nicht, woher dieser Junge davon wusste. Manchmal stürzte ich mich auf Ihn und schlug Ihn so hart ich konnte, wenn ich es nicht mehr ertrug, wie sich meine Mutter zwischen uns stellte. Und was mich noch wütender machte, war, dass Er mich dann lieber zu mögen schien. Ich hätte Temperament, sagte er dann, und dass ich mich zumindest nicht mehr hinter Mamas Röcken versteckte. Ich hasste es, wenn ich irgendetwas tat, das Ihn freute, aber ich hasste es auch, wenn meine Mama verletzt war, und manchmal rissen und zerrten diese Gefühle an mir, bis ich nicht mehr wusste, was ich tun sollte, sodass ich Sachen herumschleudern und kaputt machen musste, bis sie endlich weg waren. Wenn alles vorüber war, legte Mama die Arme um mich und hielt mich, bis es mir wieder besser ging.
»Jeder hier in der Gegend weiß, dass du diese Wutanfälle hast, und wenn sie sie so finden …« Der Junge zeigte mit dem Kinn auf das Ding, das mal meine Mama gewesen war. »Dann wissen sie, dass du es warst, weil du immer so wütend wirst und ihr Blut an deinen Händen klebt. «
Da sah ich auf meine Hände, und obwohl es dunkel war, konnte ich die Blutflecke darauf sehen und bekam furchtbare Angst, dass es stimmte, was dieser Junge sagte.
»Aber ich war das nicht«, sagte ich. »Ich würde ihr niemals wehtun. Dafür hab ich sie viel zu lieb.«
Tränen rollten über meine Wangen, und der Junge versetzte mir einen Hieb dafür.
»Hör auf zu flennen«, sagte er. »Jungen flennen nicht so. Hör zu – du musst mit mir kommen. Ich weiß, wo du in Sicherheit bist und sie dich niemals kriegen können.«
Er hatte mich vollkommen verwirrt, durcheinandergebracht und im Kreis gedreht. Ich war mir sicher, dass sie mich verhaften würden, wenn der Schutzmann kam, und in ein dunkles, dunkles Verlies werfen würden, voller Ratten, wo ich bleiben müsste, bis sie mich aufhängten.
»Wenn du mit mir kommst, gehen wir zu meiner Insel. Das ist ein ganz besonderer Ort, nur für Jungen wie du und ich. Da kannst du rennen und spielen, und niemand wird dich jemals schlagen, und du musst nie, niemals groß werden.«
»Wie soll das denn gehen, niemals groß werden?«
»Es ist eine Zauberinsel«, sagte er lächelnd. »Und ich lebe ganz allein da, und ich will, dass du dort hinkommst und mit mir spielst und für immer mein Freund bist.«
Er zog mich hoch, zog mich weg, und ich war so verwirrt und verängstigt und begann schon, meine Mama zu vergessen und ihre leeren blauen Augen und ihre Arme, die sich nach mir ausstreckten. Peter zog mich von ihr weg und erzählte mir alles über diesen herrlichen Ort, an den wir gehen würden, eine Insel, nur für uns allein.
Wir gingen die ganze Nacht und kamen zum Baum und an den Tunnel, und dann war ich so müde, und Mama kam mir vor wie eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit.
Wir gingen durch den Tunnel, und ich roch zum ersten Mal die Insel, roch die Bäume und das Meer und die süßen Früchte, und der Geruch der Stadt wurde fortgewaschen. Später sammelten Peter und ich auf einer Wiese Früchte vom Boden, und er zeigte mir, wie man die Schale mit einem Messer löste. Es waren rote Flecken auf diesem Messer, aber damals machte ich mir darüber keine Gedanken, denn ich sah nur Peter, der mich anlächelte.
»Jamie, du erdrückst mich.«
»Jamie, lass ihn los. Er bekommt keine Luft.«
Ich riss die Augen auf und fand Charlie wach in meinem Schoß. Sal beugte sich über mich und riss an meinen Armen.
»Was ist?«, fragte ich.
»Du erdrückst mich!«, sagte Charlie und drückte die Hände gegen meine Brust.
»Du hast geträumt«, sagte Sal.
Ich ließ Charlie los, und er strampelte sich von meinem Schoß. Mit den Händen rieb ich mir über das Gesicht. Es war nass, auch wenn ich nicht sagen konnte, ob von Schweiß oder von Tränen.
»Was hast du geträumt?«, fragte Sal.
»Dasselbe, was ich immer träume. Eine Frau mit blauen Augen und schwarzem Haar mit aufgeschlitzter Kehle«, sagte ich. »Nur wusste ich bis heute nicht, dass sie meine Mutter war.«
»Und?«, fragte Sal, weil sie wusste, dass da noch mehr war.
»Und es war Peter, der sie getötet hat.«
Ich wusste nicht, wie ich sie vergessen haben konnte, die Mama vergessen haben konnte, die ich so sehr geliebt hatte, vergessen haben konnte, wie sie sich zwischen mich und meinen Vater gestellt und mich beschützt hatte. Beschämung zerrte an mir darüber, dass ich sie so leicht vergessen hatte, dass ich einfach mit einem fremden Jungen auf und davon gelaufen war und sie dort liegen gelassen hatte.
Ich hatte sie allein gelassen. Allein mit den Ratten, die bestimmt an ihr genagt hatten, bis jemand sie gefunden hatte – mein Vater vielleicht, vielleicht ein Nachbar oder irgendein Betrunkener, der zum Pinkeln in die Gasse hinausgetaumelt und zufällig über sie gestolpert war.
Aber Peter hatte mich verwirrt. Er hatte mir erzählt, es sei mein Vergehen gewesen, man würde mir die Schuld geben. Ich war verängstigt und verwirrt, und der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, starrte mit stumpfen, leeren Augen zu mir herauf, und seine Hand bot mir eine Ausflucht vor dem Henker, der mich mit Sicherheit aufknüpfen würde. Wer würde schon einem kleinen Jungen glauben, besonders einem, der mit dem Blut seiner Mutter bedeckt war?
Als er damals also meine Hand nahm, war es leicht, sie dort zu lassen, leichter, vor dem Horror davonzulaufen, leichter zu vergessen, dass sie mich geliebt hatte, besonders zusammen mit Peter, der mir immer sagte, ich solle vergessen. Nichts aus Andernorts spiele noch irgendeine Rolle und dass es von nun an nur noch ihn und mich gäbe.
Ich hatte sie geliebt, und ich hatte sie vergessen. Zum Teil war es Peters Schuld, aber genauso auch meine. Ich hatte vergessen wollen.
Meine Wut auf Peter brannte heißer denn je, aber meine Trauer und Scham waren fast noch schlimmer. Die Erinnerung an meine Mutter war fest verknüpft mit der Erinnerung an das, was ich getan hatte.
Ich hatte sie dort liegen gelassen, die Arme nach mir ausgestreckt. Das Letzte, woran sie gedacht hatte, war ich gewesen, und ich hatte sie verlassen .
Um mit dem Ungeheuer wegzulaufen, das sie getötet hatte.
Sal holte erschreckt Luft und schlug die Hand vor den Mund, als sie meine Worte hörte, auch wenn ich nicht glaube, dass es sie überraschte – nicht wirklich. Es war genau das, was man von Peter erwartete, wenn er jemanden wollte und jemand anders ihm im Weg stand.
Peter machte sich keine Gedanken über Hindernisse, auch nicht, wenn sie in Form von Menschen kamen. Es war nur etwas, das man überspringen oder umstoßen musste. Man interessierte sich nicht wirklich dafür.
Er hatte alles sehr geschickt eingefädelt, das musste man ihm lassen. Er hatte nach mir Ausschau gehalten – nicht jeder beliebige Junge war für Peter gut genug – und dann einen Jungen gefunden, der das Potenzial hatte, nach dem er suchte. Dann hatte er mich beobachtet und auf die passende Gelegenheit gewartet. Und als er sie bekam, hatte er sie getötet und mich dann so mit seinen Worten verwirrt, dass ich es mit der Angst bekam. Und als ich erst mal Angst hatte, konnte er mich dazu bringen, alles zu tun, was er wollte, und sich selbst zu meinem Retter machen. Und dann hatte er mir das Gefühl gegeben, etwas ganz Besonderes zu sein, geliebt zu werden, und dann hatte er alle Erinnerungen an meine Mutter aus mir hinausgestoßen.
Peter hatte mich als Ersten erwählt. Er hatte mich aus meinem Zuhause herausgerissen und auf die Insel mitgenommen, und ich war zu sehr ein kleiner Junge gewesen, um mich daran zu erinnern, was ich verloren hatte. Ich erinnerte mich nur an die Zeit, als es nur Peter und mich gab, und daran, wie glücklich wir damals gewesen waren.
Doch das Lied war in meiner Erinnerung geblieben, das Lied, das meine Mutter mir vorgesungen hatte. Kein Wunder, dass er es immer so gehasst hatte. Er wollte, dass ich mein gesamtes Leben von Andernorts ablegte wie eine alte Haut, aber er konnte nicht verhindern, dass ein bisschen davon an mir hängen blieb.
Alles, was ich verloren hatte, wallte jetzt in mir auf, das Leben, das ich ohne Peter vielleicht gelebt hätte. Ja, mein Vater war ein Trunkenbold, der uns geschlagen hatte. Aber wir hatten gespart, Mama und ich. Wir hätten ihn verlassen und einen ruhigen Ort fern der Stadt gefunden, an dem wir in Sicherheit gewesen wären.
Und ich wäre groß geworden und meine Mama alt, aber sie hätte Enkelkinder gehabt, die sie hätte auf dem Schoß halten, umarmen und küssen können. Wir hätten ein Leben gelebt, in Peters Augen ein ganz normales, langweiliges Leben, das der natürlichen Ordnung der Dinge folgte.
Es war nicht natürlich, dass kleine Jungen für immer Jungen blieben. Wir mussten groß werden und eigene Jungen bekommen und sie lehren, Männer zu sein.
Ein scharfer, stechender Schmerz fuhr in meine Seite, dann in meine Arme und Beine, und am Kinn juckte und kratzte es.
Charlie riss die Augen auf. »Jamie, du hast einen Bart bekommen!«
Ich rieb mir das Kinn. Es war zwar kein richtiger Bart, aber ein paar wollige Haare wuchsen da, wo bis eben noch keine gewesen waren.
Sal versetzte mir einen Schlag auf den Oberarm. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht zu schnell wachsen! Wir wollten doch zusammen erwachsen werden!«
»Ich glaube nicht, dass ich darauf Einfluss habe, Sal«, sagte ich, und ein bisschen Trauer schwang darin mit. Was, wenn ich weiter wuchs und bald zu alt für Sal wurde? Was dann? »Ich kann es nicht aufhalten.«
Ich stand auf und streckte mich und merkte, dass mir alles wehtat – meine Augen und die Lunge brannten vom Rauch, meine Beine davon, vor dem Feuer wegzulaufen, meine Arme, weil ich Charlie so fest umklammert hatte.
Der Kleine wich meinem Blick aus, er starrte auf die Massen toter Vieläugiger, die den Strand bedeckten. Hinter ihnen qualmte das Grasland noch, auch wenn es dort jetzt kein Gras und keine Blumen mehr gab, sondern nur eine schwarze Ebene, so weit das Auge reichte.
»Peter«, sagte Charlie, und ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle.
Sal streckte die Hand nach ihm aus, aber ich schüttelte den Kopf. Er brauchte noch keinen Trost. Er musste erst aussprechen, was ihm auf dem Herzen lag.
»Peter mochte mich gar nicht wirklich«, stammelte Charlie. »Er hat mich reingelegt, und ich habe ihm geglaubt.«
Dann sah er mich an, und ich erkannte, dass seine Augen nie wieder die des unschuldigen kleinen Entenkükens sein würden. So war das, wenn man verraten wurde.
»Ich habe ihm geglaubt, und dann hat er versucht, mich zu töten«, sagte Charlie. »Du hast mir nie wehgetan, Jamie. Du hast immer auf mich aufgepasst. Ich hätte ihm nicht glauben dürfen.«
»Wir haben ihm alle geglaubt, am Anfang«, sagte ich. »Sogar ich. So lockt er uns hierher mit seinen Versprechungen.«
»Und dann reißt er uns alle in Stücke«, sagte Sally.
»Er wird niemanden mehr herbringen«, sagte ich und holte tief Luft, denn jetzt musste ich ihr sagen, was ich ihr nicht sagen wollte. »Der Weg nach Andernorts ist weg.«
»Weg?«
Ich erklärte, was ich entdeckt hatte: dass der Baum gefällt und der Eingang zum Tunnel mit Gras überwachsen war.
Sie sackte in sich zusammen, und kurz hatte ich Angst, sie würde in Ohnmacht fallen, weil sie auf einmal sehr blass wurde.
»Wie hat er davon erfahren? Wir werden ihm nie entkommen«, flüsterte sie. »Oh, warum nur, warum bin ich überhaupt hierhergekommen!«
»Weil du dachtest, es würde hier besser als da, wo du herkamst«, sagte ich. »Du dachtest, du würdest hier glücklicher sein.«
»Ich könnte hier auch glücklich sein«, sagte sie heftig. »Wenn er nicht wäre. Wenn es nur dich und mich und Charlie, Nick und Krähe gäbe, dann könnten wir hier groß werden, wie es nur natürlich ist, und wären hier glücklich.«
»Aber er ist hier«, sagte ich. »Und ich will nicht mehr auf der Insel bleiben. Ich bin schon viel zu lange hier.«
»Was wollen wir machen?«, fragte Charlie.
Dann kam er zu mir und wickelte seine Faust in meinen Rock, wie er es früher immer getan hatte, aber den Daumen steckte er nicht mehr in den Mund. Er war kein kleines Kind mehr.
»Wir werden segeln müssen«, sagte ich. »Das ist unsere einzige Hoffnung.«
»Aber doch nicht mit den Piraten, oder?«, fragte Sally. »Ich glaube nicht, dass die uns gern bei sich aufnehmen, nicht nach allem, was passiert ist.«
»Das war alles Peters Schuld und Nips«, sagte ich scharf. »Wenn Peter nicht ihr Camp niedergebrannt und Nip ihnen nicht verraten hätte, wo wir waren, hätten wir keinen von ihnen töten müssen. Oder zumindest nicht so viele. Vielleicht hätte es einen Überfall gegeben, aber es wäre nicht dasselbe gewesen.«
Alles war Peters Schuld. Meine Mutter war von Peter ermordet worden. Die Jungen, die er hierherbrachte, starben wegen Peter. Die Piraten wollten Krieg wegen Peter, und wir massakrierten uns gegenseitig wegen Peter. Charlie wäre beinahe von den Vieläugigen gefressen worden wegen Peter. Es war alles Peters Schuld.
»Es spielt jetzt keine Rolle mehr, ob es seine Schuld ist oder unsere«, sagte Sally und schüttelte den Kopf, als sie mein Gesicht sah. »Tut es nicht. Die Piraten machen keine Unterschiede. Wenn wir jetzt zu ihnen gehen und sie um Hilfe bitten, wenn wir sie bitten, uns auf ihrem Schiff mitzunehmen, werden sie uns wehtun.« Dann setzte sie leise und verzagt hinzu: »Und mir werden sie noch mehr wehtun als euch, sobald sie wissen, dass ich ein Mädchen bin.«
Damals verstand ich nicht wirklich, was sie meinte, aber ich wusste, dass die Piraten nach ihren Fahrten manchmal Mädchen mit ins Camp zurückbrachten und dass die Mädchen die ganze Zeit schrien und weinten.
Also glaubte ich Sal. Immerhin hatte sie es für so gefährlich gehalten, ein Mädchen zu sein, dass sie sich als Junge ausgegeben hatte, weshalb sie überhaupt erst auf der Insel gelandet war.
»Wir werden ein Boot bauen müssen«, sagte ich. »Irgendwo an einem geheimen Ort, wo Peter es nicht finden kann.«
»Er kann alles finden«, sagte Charlie. »Weil er fliegen kann. Er hat mir erzählt, dass er über die ganze Insel fliegt und alles sieht. Das Fliegen war schön, auch wenn Peter mich am Ende auf die Erde hat fallen lassen. Das war gruselig. Dieser riesige Vieläugige hat diese ganzen Geräusche gemacht, und Peter hat der Fee gesagt, was sie ihm sagen soll, und dann hat die Fee dem Vieläugigen gesagt, dass Peter mich als Geschenk zum Essen mitgebracht hatte.« Tränen stiegen ihm in die Augen. »Ich dachte, er wäre mein Freund, und er hat versucht, mich an die Ungeheuer zu verfüttern.«
Wieder wollte Sally ihn in den Arm nehmen und trösten, aber ich hielt sie davon ab.
»Charlie«, sagte ich. »Was redest du da von einer Fee? Meinst du das Spielzeug, das Peter dir geschenkt hat?«
Charlie schüttelte den Kopf. »Nein, du Dummer, das ist nur ein Spielzeug. Ich rede von einer richtigen Fee, einer Fee, die auf der Insel lebt. Sie kann mit den Vieläugigen reden, und sie hat Peter gezeigt, wie man fliegt.«
»Hier gibt’s keine Feen«, sagte ich. »Ich hab noch nie eine gesehen.«
»Gibt es wohl«, sagte Charlie. »Aber sie mögen nur Peter, die anderen Jungen mögen sie nicht, deshalb kommen sie nicht raus, wenn wir sie sehen könnten. Nur Tink macht das, weil sie Peters ganz besondere Freundin ist.«
»Tink?«
»So nennt er sie, weil sie sich so hell klingelnd anhört, wenn sie spricht.«
Ich warf Sally einen vielsagenden Blick zu. »Ich habe ein klingelndes Geräusch gehört, als wir auf dem Weg zum Tunnel waren und darüber gesprochen haben, nach Andernorts zurückzugehen.«
»Glaubst du, sie hat uns für Peter ausspioniert?«, fragte Sally.
»Sie spioniert immer für Peter«, erklärte Charlie. »Und das ist ganz leicht für sie, weil sie aussieht wie ein Glühwürmchen, wenn man nicht genau hinschaut.«
»Und sie hat Peter beigebracht, wie man fliegt?«, fragte ich.
»Na ja«, sagte Charlie. »Nicht richtig beigebracht. Sie wirft etwas Staub auf ihn, und der Staub macht, dass er fliegen kann.«
»Also wenn wir etwas von diesem Feenstaub hätten, dann könnten wir von der Insel wegfliegen«, sagte ich langsam.
»Er hält nicht besonders lange«, sagte Charlie. »Zumindest hat Peter das gesagt. Man muss die Fee dabeihaben, damit sie immer weiter Staub auf einen pusten kann. Aber ich glaube sowieso nicht, dass Tink das für uns machen würde. Sie mag niemanden außer Peter, und ich glaube nicht, dass es besonders angenehm wäre, sie zu fangen.«
»Was ist mit den anderen Feen? Wo leben die?«, fragte ich.
»Im Grasland«, sagte Charlie und zeigte auf die Verwüstung.
»Oh«, sagte ich.
»Wenn irgendeine von ihnen überlebt hat, werden sie nicht denjenigen helfen wollen, die ihr Zuhause niedergebrannt haben«, sagte Sally traurig.
»Dann müssen wir eben doch segeln«, sagte ich.
»Aber Peter fliegt überallhin und weiß alles«, wandte Sally ein. »Und wenn nicht, dann wird seine Fee uns ausspionieren.«
»Irgendwas müssen wir aber tun«, sagte ich. »Wir können nicht hierbleiben. Wie wäre es, wenn wir ein Ruderboot von den Piraten stehlen? Wir sind ja nur fünf.«
»Wie sollen wir das denn anstellen?«, fragte Sally. »Wir müssten zum Piratenschiff rausschwimmen, und ich kann nicht schwimmen.«
»Ich auch nicht«, sagte Charlie.
»Das ist kein Problem«, sagte ich, während mir mein Plan immer besser gefiel. »Nick und ich können nachts hinausschwimmen und das Boot holen und dann rüber zur Meerjungfrauenlagune rudern und euch da abholen.«
Sally machte ein zweifelndes Gesicht. »Und die Meerjungfrauen sagen Peter nicht, was wir vorhaben?«
»Sie wissen ja nichts davon, bis es passiert«, erklärte ich. »Ich teile meine Geheimnisse nicht mit den Meerjungfrauen. Abgesehen davon mögen die Meerjungfrauen Peter nicht besonders. Sie mögen nur sich selbst.«
»Und wann wollen wir das machen?«, fragte Sally.
»Heute Nacht. Wir gehen zurück und finden Nick und Krähe, dann sammeln wir alles ein, was wir brauchen.«
»Dann gehen Krähe, Charlie und ich zur Lagune«, sagte Sally. »Und du und Nick, ihr holt das Ruderboot.«
»Genau«, sagte ich.
»Was, wenn Peter versucht, uns aufzuhalten?«, fragte Charlie.
Ich antwortete nicht. Wir wussten alle, dass es auf einen Kampf ›er gegen uns‹ hinauslief, denke ich.
Wenn Peter versuchte, uns aufzuhalten, war ich bereit für ihn.