Kapitel 17

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Nick rannte mit mir oder versuchte es zumindest, aber schon bald fiel er zurück. Ich hörte ihn schwer keuchen, während er versuchte, mit mir mitzuhalten. Sally schrie weiter und weiter.

Ich weiß nicht mehr, wie lang ich rannte und diesen Schrei in der Luft hängen hörte, aber irgendwann brach er ab.

Als er abbrach, rannte ich noch schneller, obwohl ich nicht gewusst hatte, dass das überhaupt ging. Mein Körper fühlte sich an, als sei er schon weit über die Erschöpfung oder den Schmerz hinausgetrieben worden. Ich spürte nichts außer der Angst, außer dem Schlagen meines Herzens, das mich antrieb.

In meiner Vorstellung sah ich Sally mit zu einem X ausgestreckten Armen und Beinen am Strand liegen wie Krähe, ein großes rotes Lächeln in ihrer Kehle, wo kein Lächeln hingehörte.

Ihre blauen Augen starrten leer zum Himmel hinauf, eine Wolke aus dunklem Haar um ihren Kopf. Genau wie bei meiner Mutter.

Genau das tat Peter. Wenn ich jemanden liebte, nahm er ihn mir weg. Es wäre besser gewesen, ich hätte sie gar nicht erst geliebt. Oder Charlie. Oder Nick.

Oder Nebel oder Krähe oder Del oder sonst jemanden.

Nicht mal meine Mutter. Ich hatte sie geliebt, also hatte Peter sie von mir abgeschnitten, so schnell und gefühllos wie der Pirat, der er war. Er nahm sich, was er wollte, und ließ zurück, was er nicht brauchen konnte.

Der Mond war voll, wie er immer voll war auf dieser Insel, und beobachtete alles mit seinem kalten, kalten Auge. Die Jahreszeiten wechselten, aber der Mond änderte sich nie. Darin waren sie Brüder, der Mond und Peter. Sie änderten sich nie.

Er erhellte auch den Strand und den Ozean, fast wie Tageslicht, doch ich sah sie nicht gleich. Dafür sah ich das Ruderboot – Charlie hatte recht gehabt. Aber wozu brauchte ich das Boot, wenn Charlie und Sally tot waren?

Dann sah ich sie. Und alles war viel, viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Peter hatte nicht Sallys Kehle durchgeschnitten und sie für mich da liegen gelassen, damit ich sie beweinen konnte.

Er hatte ein Krokodil mit an den Strand gebracht.

Ich wusste, dass er das mit Absicht getan hatte, denn die Krokodile blieben üblicherweise in der Nähe des Teichs. Keins hätte sich je von allein in den Wald gewagt oder auch nur an die Stelle, wo die Marsch in die See überging. In all den Jahren, die ich hier gewesen war, hatte ich so was nicht erlebt.

Ein riesiges Krokodil, das seinen fetten runden Bauch über den Sand schleifte, lief mit überraschender Geschwindigkeit hinter Charlie her.

Peter schwebte hoch oben in der Luft und lachte sich kaputt, während Charlie auf die Felsen am anderen Ende zurannte. Der Kleine war so verängstigt, dass er hierhin und dahin rannte und immer nur knapp dem zuschnappenden Kiefer des Krokodils entkam. Ich hörte sein entsetztes, dünnes Heulen hinter ihm herwehen.

Falls Charlie die sicheren Felsen erreichte, würde Peter ihn sich einfach schnappen und in das offene Maul des Krokodils fallen lassen, da war ich mir sicher. Es war niemand mehr übrig, dem er etwas vormachen musste – beinahe alle Jungen waren tot, und diejenigen, die noch übrig waren, glaubten nicht mehr an ihn.

Ich rannte, immer noch, ohne zu wissen, wie ich das schaffte. Ich wusste nur, dass Charlie, wenn ich ihn nicht rechtzeitig erreichte, mit Sicherheit gefressen würde. Und ich wünschte, ich hätte daran gedacht, Pfeil und Bogen mitzunehmen, denn nichts hätte mir in diesem Augenblick mehr Genugtuung verschafft, als Peter einfach vom Himmel zu schießen und ihn auf die Erde fallen zu sehen wie einen brennenden Stern.

Es waren dunkle Blutspuren im Sand. Aus dem Augenwinkel nahm ich etwas wahr, das aussah wie Sally.

Oder etwas, das Sally gewesen war.

Wenn Sally tot war, konnte ich ihr sowieso nicht mehr helfen. Jetzt ging es um Charlie.

Peter schien mich noch nicht bemerkt zu haben, er war viel zu beschäftigt damit, sich darüber kaputtzulachen, wie Charlie sich mühte, die Felsen zu erreichen und dort hinaufzukommen.

Das letzte Mal, als ich an diesen Felsen gewesen war, hatte ich die Überreste von sechs Jungen von den Steinen abkratzen und dann begraben müssen. Ich wollte das nicht schon wieder tun. Ich glaubte nicht, dass ich es ertragen könnte, Charlie zu begraben.

Das Krokodil schnappte wieder zu, und dieses Mal erwischte es Charlies Bein. Der schrie entsetzt auf, als die scharfen Zähne seine Hose wegrissen und an seinem Bein entlangschrammten, aber er war noch nicht gefangen, noch nicht.

Ich sprintete noch schneller, den gezogenen Dolch in der linken Hand, und warf mich auf den Rücken des Krokodils. Seine schuppige Haut zerschrammte meinen nackten Oberkörper, und ich spürte, wie die Muskeln des Tiers sich unter mir anspannten. Es bockte, versuchte, sich auf den Rücken zu rollen, um mich abzuwerfen, aber ich klammerte mich mit den Knien an, wickelte meinen rechten Arm um seinen dicken Hals und schnitt mit aller Kraft, die ich zur Verfügung hatte, mit dem Dolch in der anderen Hand quer über seinen Nacken.

Es reichte nicht ganz, auch wenn sich sein Blut über meinen Arm ergoss und das Krokodil sich aufbäumte und versuchte zu drehen, um mich loszuwerden und mir den Kopf abzubeißen.

Peter rief: »Das ist nicht fair, Jamie! So macht das keinen Spaß!«

Ich wusste nicht, wo Charlie war, hoffte aber, er versteckte sich vor Peter. Ich konnte kaum etwas anderes sehen als das sich windende Tier unter mir, das mit dem Schwanz schlug und den Kopf hin und her warf, verzweifelt bemüht, mich loszuwerden.

Ich stach wieder auf das Krokodil ein, wieder und wieder, versuchte an den weichen Bauch zu kommen, und irgendwann wurden seine Bewegungen endlich langsamer. Heißes Blut quoll aus zahllosen Wunden, und dann rührte es sich nicht mehr.

Ich rollte mich von seinem Rücken und robbte außer Reichweite seiner Klauen und Zähne, weil ich nicht wusste, ob es schon ganz tot war. Blut bedeckte meine Hände und Arme, und der Sand blieb daran kleben, sodass ich mir Sand in die Augen und das ganze Gesicht rieb, als ich versuchte, mir den Schweiß abzuwischen.

Spuckend versuchte ich die Augen freizubekommen und schrie: »Charlie!«

»Jamie!«, sagte er von irgendwo vor mir, aber er klang weder froh noch erleichtert darüber, dass ich das Krokodil getötet hatte. Er klang entsetzt.

Ich schüttelte den Sand ab, konnte immer noch nicht klar sehen, doch dann wurde die Welt wieder scharf.

Peter hielt Charlie in einem Arm, beinahe so, als würde er ihn mögen, nur dass er in der anderen Hand ein Messer hielt, dessen Spitze über Charlies Herzen schwebte.

Peter beobachtete Charlies Gesicht und meins, Charlie sah nur mich an. Seine Augen flehten mich an, etwas zu tun, irgendetwas, um ihn zu retten.

Ich hatte ihm versprochen, ihn immer zu beschützen.

»Hab ich dein kleines Küken am Ende also doch noch erwischt, was?«, fragte Peter.

Seine Stimme klang singend und irgendwie sehr jung. Sein Blick schoss zwischen mir und Charlie hin und her, er wusste ganz genau, dass ich ihn nicht aufhalten konnte. Ich erkannte die grausame Schadenfreude darin, erkannte, wie er unsere Not genoss.

»Du dachtest wohl, du könntest mir entkommen, aber das wirst du nicht. Niemand verlässt diese Insel, Jamie. Niemand. Und du schon gar nicht. Und ganz sicher nicht diese kleine Ente, die ihrer Mama weggelaufen ist. Hättest halt zu Hause bleiben sollen. Hättest hören und gehorchen sollen. Jetzt warst du ein böser Junge und musst bestraft werden. Alle Jungen müssen meinen Regeln gehorchen, denn das hier ist meine Insel.«

Er strich mit der Messerspitze über Charlies Brust hinunter bis zum Nabel, und der Kleine versuchte auszuweichen, aber Peter hielt ihn fest.

»Ich bin es doch, den du bestrafen willst«, sagte ich und versuchte mit aller Macht, nicht ängstlich zu klingen, nicht zu klingen, als würde ich alles dafür tun, dass er Charlie gehen ließ. »Warum also ihm wehtun?«

»Weil es für dich die größte Strafe wäre, wenn ich ihn töte«, sagte Peter. »Ich kenne dich, Jamie. Ich kenne dein Herz. Es wird dir mehr wehtun, ihn nicht retten zu können, als wenn ich dich hier auf der Stelle töte.«

»Warum lässt du uns nicht einfach gehen?«

»Mit wem sollte ich denn dann spielen, wenn ihr alle weg seid?«, fragte Peter. »Nein, du musst mit mir hierbleiben, Jamie, so wie du versprochen hast. Und damit du hierbleibst, müssen die anderen sterben. Sie entfernen dich von mir.«

»Ich bleibe kein kleiner Junge mehr, Peter. Ich werde erwachsen«, sagte ich. »Ich bin es fast schon.«

Da schien er mich zum ersten Mal wirklich anzusehen, wie er es nicht mehr getan hatte, seit er Charlie zu den Vieläugigen entführt hatte. Jetzt bemerkte er, dass mein Körper länger und meine Hände breiter geworden waren und sah das neue Haar in meinem Gesicht.

Sein Gesicht verzog sich zu einer monströsen, furchterregenden Grimasse. Er riss Charlie noch näher an sich, und der Kleine schrie auf vor Schmerz.

»Nein«, sagte Peter und kam mit steifen Schritten auf mich zu. »Nein, nein, nein! Du darfst nicht größer werden. Du sollst für immer hier bei mir bleiben, für immer. Mit wem soll ich spielen, wenn du erwachsen wirst, Jamie?«

In seinen Augen glitzerten Tränen, aber ich konnte ihnen nicht mehr glauben. Peter war nicht wirklich verletzt. Er wollte nur seinen Willen durchsetzen, so wie immer. Aber er kam näher und näher, und ich lauerte auf meine Gelegenheit. Der Dolch war noch immer in meiner Hand.

»Es ist vorbei, Peter«, sagte ich. »Niemand will mehr mit dir spielen. Und du hast den Tunnel nach Andernorts zerstört, also kannst du auch keinen neuen Jungen herholen. Du wirst hier für immer allein sein, solange du nicht erwachsen wirst.«

»Nein, ich werde nicht erwachsen! Niemals werde ich erwachsen!«, schrie Peter schrill.

Dann schrie er noch mal auf, überrascht dieses Mal, und ließ Charlie fallen. Ich stürzte mich auf Charlie, während Peter mit wild um sich schlagenden Armen nach hinten an seinen Oberschenkel griff.

Nick hatte sich von hinten an ihn herangeschlichen, während er mit mir geredet hatte, so leise und so vorsichtig, dass nicht mal ich etwas gemerkt hatte, und ihm dann von hinten sein Messer ins Bein gerammt.

Heulend vor Schmerz und wohl auch vor Schreck darüber, dass er tatsächlich verletzt worden war, zog Peter sich das Messer aus dem Oberschenkel, stieg dann direkt in die Luft empor und stieß alle schrecklichen Flüche aus, die er jemals von den Piraten gehört hatte.

Ein kleines goldenes Glühwürmchen tanzte um seinen Kopf, während er seine ganze Wut auf uns herausschrie. Dann sauste er davon und ließ uns am Strand allein.

Nicks Miene war wild und stolz. »Ich hab es ihm heimgezahlt. Er hat mich erwischt, aber ich hab es ihm heimgezahlt.«

»Und du hast Charlie gerettet«, sagte ich.

Dann wurde die Welt auf einmal ganz wabbelig, ich sank zu Boden, und Charlie rollte mir aus den Armen.

Nick sprang zu mir und gab mir einen Schubs, sodass ich nicht auf dem Gesicht, sondern auf dem Rücken liegen blieb. Ich zitterte am ganzen Körper, jeder Muskel flatterte vor Anstrengung und Schrecken.

Seit Tagen, so schien es mir, war ich nur gerannt und gerannt und gerannt, um zu versuchen, das Unvermeidliche aufzuhalten, um Peter davon abzuhalten, sie alle abzuschlachten.

Ich rang keuchend nach Luft. Nick und Charlie beugten sich über mich, ihre Gesichter gleichermaßen besorgt.

»Jamie?«, fragte Charlie.

Ich ließ meine Hand in seine Richtung fallen, für mehr hatte ich keine Kraft mehr. »Mir geht’s gut.«

»Nein, dir geht’s nicht gut«, sagte Nick. »Du bist kreidebleich unter dem ganzen Blut und Sand.«

Ich versuchte zu nicken und zu sagen, dass es mir gut ging, aber dann musste ich das Bewusstsein verloren haben, denn als Nächstes waren die Sterne weg, und der Himmel über mir hatte das blasse Hellblau direkt nach Sonnenaufgang.

Charlie hielt meine Rechte in seiner kleinen Hand. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Meine linke Hand war immer noch um den Dolch geschlossen.

»Charlie? Wo ist Nick?«

»Begräbt Sally«, sagte er und zeigte hinter mich.

Da setzte ich mich gerade auf. Ich hatte alles vergessen, die langen Blutspuren im Sand, das Ding, das ich aus dem Augenwinkel gesehen hatte, als ich auf den Strand gekommen war, um Charlie vor dem Krokodil zu retten.

Ich hatte das Mädchen vergessen, das mit mir hatte erwachsen werden wollen.

Jetzt würde sie es nie tun.

Ganz langsam schaffte ich es aufzustehen, alles an mir war steif und schmerzte. Das Blut des Krokodils war an meinen Händen getrocknet und fiel in Flocken ab.

»Du siehst aber nicht gut aus, Jamie«, sagte Charlie. »Du siehst krank aus. Vielleicht solltest du dich wieder hinsetzen.«

Ich schüttelte den Kopf, sprechen konnte ich nicht. Langsam ging ich los, humpelnd, weil mein rechter Knöchel geschwollen war. Ich erinnerte mich nicht mehr, wo oder wie ich ihn mir verstaucht hatte. Charlie trottete neben mir her und hielt die Hände ausgestreckt, als könnte er mich auffangen, wenn ich stürzte.

Nick war an dem Platz unter der Kokospalme, wo wir die anderen begraben hatten an dem Tag, an dem die Kanonenkugel sie getötet hatte. Er hatte ein breites, flaches Stück Holz in den Händen, mit dem er ein Loch in den Sand grub.

Auf dem Boden neben dem Loch lag das, was noch von ihr übrig war.

Nick hielt einen Moment inne und sah mich kommen. Hastig kletterte er aus dem Loch und lief auf mich zu, wedelte mit den Händen und schüttelte den Kopf.

Nick war größer geworden seit gestern Abend. Er war jetzt fast so groß wie ich, obwohl er mir immer kaum bis zur Schulter gereicht hatte. Sein blonder Bart war dicker als meiner. Er wirkte fast schon richtig erwachsen, nicht so zwischendrin wie ich. An ihm war überhaupt nichts Jungenhaftes mehr.

Er legte seine Hand auf meine Brust, um mich daran zu hindern weiterzugehen. Diese Hand war groß und kräftig und mit lockigem blonden Haar bedeckt.

»Nein«, sagte er. Seine Stimme klang auch erwachsen, tief und rumpelnd. »Ich möchte nicht, dass du sie so siehst.«

»Ich muss sie sehen«, sagte ich.

»Du willst das nicht«, antwortete Nick. »Ich wünschte, ich hätte es nicht gesehen.«

»Das Krokodil hat sie gefressen«, sagte Charlie ganz leise und mit gesenktem Blick. »Es tut mir so leid, Jamie. Es hat sie nur gefressen, weil sie mich beschützt hat, wie sie es versprochen hatte.«

Ich strich mit der Hand durch sein Haar, seinen gelben Entenkükenflaum, und beobachtete, wie es ihm im Sonnenlicht vom Kopf abstand. Charlie war immer noch ein kleiner Junge, weil er nicht lange genug auf der Insel gewesen war, um nicht mehr normal zu wachsen und dann wieder anzufangen, wie Nick und ich. Er war jetzt sehr klein im Vergleich zu uns.

»Es war nicht deine Schuld, Charlie«, sagte ich. »Es war Peters.«

Charlie trat mit geballten Fäusten gegen den Sand. »Es ist immer Peters Schuld. Immer, immer. Seinetwegen ist Sally tot.«

Nicks Hand lag immer noch an meiner Brust. Ich sah ihn lange an, und er erwiderte meinen Blick, und schließlich ließ er mich vorbei.

Es war nicht mehr viel von ihr übrig. Das Krokodil hatte ein Bein fast ganz gefressen, davon war nur noch etwas Haut und ein abgescheuertes Stück Knochen übrig. Am gegenüberliegenden Arm war das Fleisch abgeschält, und aus ihrem Körper war ein großer Brocken in der Mitte herausgerissen. Überall waren Klauen- und Bissspuren, auf ihren Händen, ihrem Gesicht, ihrer Brust.

Sie hatte gekämpft. Charlie brauchte mir nicht erst zu sagen, dass sie sich dem Krokodil in den Weg gestellt und ihm zugerufen hatte, dass er weglaufen sollte. Das passte zu ihr, so was hätte sie getan. So was hätte ich getan, und in unseren Herzen waren wir uns einig, was Charlie anging.

Ihre blauen Augen waren milchig grau und leer. Ihre lachenden blauen Augen, die Augen, die mir versprochen hatten, dass wir für immer zusammenbleiben würden, die Augen, die mir Sachen versprochen hatten, die ich nicht wirklich verstand – es war keine Sally mehr darin, kein wildes, glückliches Mädchen, das ich liebte.

Ich hätte weinen sollen, aber alle meine Tränen waren schon aus mir herausgepresst. Meine Trauer konnte mich nicht mehr überwältigen, weil sie schon seit ewigen Zeiten ein Teil von mir war, all die Namen und all die Gesichter und all die Jungen, die ich nicht vor Peter beschützt hatte.

All die Jungen und ein Mädchen.

Charlie und ich halfen Nick, das Loch zu graben, und dann legte ich sie vorsichtig hinein, und wir bedeckten ihr Gesicht mit Sand.

Danach setzten wir uns auf den Boden neben ihrem Grab, und jeder von uns hielt eine Hand auf dem frisch umgegrabenen Sand, als könnten wir sie bei uns behalten, solange wir dort sitzen blieben. Und wenn wir dort sitzen blieben und nur lange genug hinsahen, dann würde sie sich aus dem Sand herausgraben, wieder frisch und neu und jung, denn wir wussten, dass die Insel so etwas tun könnte, wenn sie wollte.

Ich warf einen Blick den Strand entlang, wo das Ruderboot so unerwartet liegen geblieben war.

Ich war so müde. Seit zwei Tagen hatte ich nicht mehr richtig geschlafen, und mein Knöchel schmerzte schon von dem kurzen Gang zur Kokospalme. Mein Kopf kippte mir auf die Brust.

Ich riss mich aus dem Schlaf. Ich durfte nicht einschlafen. Wir mussten hier weg. Peter würde seine Wunde pflegen – die erste, die er jemals davongetragen hatte, und der Schrecken darüber mochte ihn vielleicht noch etwas länger aufhalten –, und das war unsere Chance. Wenn wir warteten, würde Peter zurückkommen, und dieses Mal würde er nicht mit Krokodilen herumspielen. Er würde Charlie direkt erstechen, und das wär’s dann.

Wenn ich mir Nick so ansah, dachte ich, würde Peter ihn wohl kaum töten können. Nick war als Junge schon hart gewesen, und jetzt war er beinahe ein Mann. Er hatte es schon geschafft, mit Peter gleichzuziehen, indem er ihn verletzt hatte. Peter hatte Nick schon nicht besiegen können, als sie noch gleich groß gewesen waren.

Verblüfft starrte ich auf Nicks Hände. Mir war gerade erst wieder eingefallen, dass Peter versucht hatte, Nicks Hand abzuhacken, und dass noch letzte Nacht das Handgelenk ernsthaft zerfleischt gewesen war.

Jetzt war die Haut dort heil und rosa und frisch und neu.

Er bemerkte mein Starren und drehte sein Handgelenk in der Sonne hin und her.

»Es ist passiert, als ich gewachsen bin«, sagte er. »Es ist so schnell geheilt, dass ich es gar nicht gemerkt habe. Aber ich glaube nicht, dass so was noch mal passieren würde.«

»Du bist so schnell gewachsen, dass sich dein ganzer Körper erneuert hat«, sagte ich und nickte. »Wenn du erst mal ganz erwachsen bist, wirst du nur noch auf normalem Weg wieder gesund.«

Nick kniff die Augen leicht zusammen, als dächte er über etwas sehr Schwieriges nach. »Meinst du, dass ich bald aufhöre zu wachsen? Oder mach ich einfach die ganze Zeit weiter, bis ich alt und grau bin, und dann sterbe ich?«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Wahrscheinlich war ich davon ausgegangen, dass wir zwar schnell größer würden, dass es aber sofort aufhören würde, sobald wir erwachsen waren. Aber Nick und ich, wir waren sehr viel älter, als wir selbst wussten. Was, wenn die Magie der Insel sich einfach umkehrte und alles auftrennte, bis das Ende des Fadens erreicht war? Was, wenn Nick recht hatte, und wir einfach mit jeder Stunde älter würden, bis wir schließlich starben?

»Nein«, sagte ich. Ich hatte keinen Grund, das zu behaupten. Es war nur so ein Gefühl. Ich dachte, dass es der Insel reichen müsste, wenn wir einfach nur erwachsen wurden und dann das Alter auf normale Art in unsere Knochen kriechen fühlten. »Du und ich, wir wachsen nicht mal im selben Tempo. Du bist schon viel älter als ich, dabei bin ich schon viel länger hier.«

»Ich glaube«, sagte Nick, »es liegt daran, was in unserem Herzen ist. Mein Herz war nicht mehr jung, seit Nebel gestorben ist.«

»So toll ist es nun auch nicht, jung zu sein«, sagte ich. »Es ist herzlos und selbstsüchtig.«

»Ja, aber oh, so frei«, sagte Nick traurig. »So frei, wenn du keine Sorgen hast und alles egal ist.«

Da lächelte ich ein wenig. »Ich hatte immer Sorgen, und mir war nie etwas egal, vor allem damit der Rest von euch so frei und sorglos leben konnte.«

Ich sah wieder zu dem Ruderboot. »Meinst du, du könntest die Sachen finden, die ich gestern habe fallen lassen?«, fragte ich Nick.

Er folgte meinem Blick. »Ich helfe dir ins Boot. Dann geh ich und sehe, ob ich sie finde.«

»Wenn du sie nicht findest, sollten wir ein paar Kokosnüsse sammeln und trotzdem in See stechen. Wir können ihr Wasser trinken, wenn wir auf dem Meer sind.«

Ich mochte nicht darüber nachdenken, wie weit wir vom nächsten Land entfernt waren oder was uns passieren würde, wenn wir auf dem Meer in einen Sturm gerieten. Aber selbst ein Sturm auf dem offenen Meer erschien mir immer noch besser, als einen weiteren Tag auf dieser Insel zu versuchen, nicht von einem irren Kind umgebracht zu werden.

Er half mir auf die Beine. Mein Knöchel war sogar noch empfindlicher als zuvor. Nick schob seine Schulter unter meine Achsel und stützte mich, sodass ich den verletzten Fuß einfach im Sand hinterherschleifen konnte.

Charlie wurde mein langsames Tempo bald zu langweilig, aber ich wollte ihn nicht vorlaufen lassen. Ich würde ihn nie wieder weiter als eine Armeslänge von mir weglassen, nie wieder.

Wenn ich das tat, würde Peter mit Sicherheit von irgendwo aus dem Himmel heruntergeschossen kommen und ihn mitnehmen, und wir könnten nur noch zusehen, denn ich konnte nicht mehr rennen, und fliegen konnte ich sowieso nicht.

Wir erreichten das Ruderboot und starrten fassungslos hinein.

Der Boden war aufgehackt worden, ein riesiges Loch gähnte darin. Es sah aus, als sei das Boot mit einer Axt zerstört worden.

Peter war uns zuvorgekommen, wieder einmal, genau wie es ihm am Baum gelungen war.

Wir hatten keine Möglichkeit mehr, die Insel zu verlassen.