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Wohin zum Sterben?

Klingt es überraschend, dass sich Sterbebegleiter bei der Begegnung mit dem Tod mitunter an eine Geburt erinnert fühlen? Ein erster Impuls bei diesem Gedankengang mag in der tiefen Empfindung stecken, es würde sich ein Kreislauf schließen. Der Zyklus der Natur: Leben entsteht, wird geboren, wächst, reift und stirbt schließlich ab, auch um neuem Leben Platz zu machen. Man kann es manchmal sogar konkret beobachten: Während ein alter Mensch – die Großmutter oder der Urgroßvater – geht, wird ein Enkelkind oder Urenkel geboren. Dabei kann es sogar passieren, dass die Oma noch wartet, bis sie den Nachwuchs mit eigenen Augen gesehen hat, um kurz darauf zu sterben.

Noch ein Bild ist möglich: Entwickelt sich der schwer kranke Mensch mit seinen pflegerischen Bedürfnissen in gewisser Weise nicht wieder zurück zum Kind? Ein Aspekt, der im Verlauf dieses Kapitels noch beleuchtet wird.

Geboren, um zu sterben

Es existieren Parallelen zwischen einer Geburt und dem Sterbeverlauf an sich, mit den gleichen Fragen, die im Raum stehen: Wird es ein schmerzvoller Prozess? Muss man mit Komplikationen rechnen? Wer sind die richtigen Begleiter? Selbst die Wahl des stimmigen Orts ähnelt sich: Ist es die Klinik? Ein darauf spezialisiertes, familiäres Haus? Oder wäre sogar das eigene Daheim die passende Umgebung?

Analog verhält es sich mit dem Warten. Kaum ist das Ereignis angekündigt, beginnt die Wartezeit. Von Arzt oder Ärztin erfährt man zu Beginn einer Schwangerschaft einen möglichen, häufig recht präzisen Geburtstermin. Doch es kann auch schneller gehen – oder sich hinauszögern. Die Prognose, wie eine tödliche Krankheit verlaufen wird, kann recht genau sein – oder ziemlich ungenau. Und schließlich erweisen sich sowohl Geburt als auch Tod als einzigartige, höchst individuelle Ereignisse.

Wo kann ich sterben?

Tempo, Art und Intensität bestimmt der Mensch, der auf die Welt kommt bzw. derjenige, der die Welt verlässt. Diesem Rhythmus sollten sich alle anderen unterordnen. So gesehen ist es durchaus sinnvoll, über das Sterben nachzudenken, als würde man sich auf eine Geburt vorbereiten, und in ähnlicher Form die Rahmenbedingungen durchspielen. Schon allein die Umgebung hat einen Einfluss auf den weiteren Fortgang. Man sollte sich also fragen: Wo würde ich am liebsten sterben? Auf einer Palliativstation? Im Hospiz? Oder zu Hause?

Die Palliativstation

Krankenhaus. Für Schwersterkrankte ein Synonym für Kranksein. Zu oft musste man in schlechtem Zustand hierher, um Behandlungen auszuhalten, die man keinem Feind wünscht: Chemotherapien, die den bitteren Geschmack nach Silberputzmittel im Mund hinterlassen. Bestrahlungen, die die Haut verbrennen. Stundenlanges Ausharren an Schläuchen, ohne sich groß bewegen zu dürfen. Operationen, die erst Wunden und dann Narben hinterlassen, an Körper und Seele. Dazu karge Flure, fades Essen und keine Privatsphäre. Auch wenn es natürlich Kliniken gibt, die mit diesen Stereotypen nichts gemein haben, so gilt selbst für das schönste Krankenhaus: Niemand, der hier liegt, möchte wirklich hier sein. Insbesondere Menschen, die mehrfache Klinikaufenthalte hinter sich haben, wünschen sich nur eines: entlassen zu werden. Und bei jedem erneuten »Einrücken« begleitet sie das dumpfe Gefühl von »Nicht schon wieder!«. Natürlich ist den Patienten bewusst, von welch hervorragenden medizinischen Leistungen sie profitieren und dass diese nur in einer solchen Institution möglich sind. Es ist keine Frage, dass sie jede noch so anstrengende Behandlung wünschen, sie sogar einfordern. Und sie sind dankbar für jeden noch so kleinen Erfolg. Aber »dort« ist eben nicht »zu Hause«. So sehr sie vom Apparat mit seinen Apparaten abhängig sind, so sehr möchten sie ihm entfliehen. Kein Wunder, dass sich kaum jemand wünscht, auf der Akutstation einer Klinik zu sterben.

AUF EINEN BLICK

Eine Palliativstation ist …

… eine stationäre Einrichtung in einem Krankenhaus, auf die Patienten mit einer fortschreitenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung aufgenommen werden können. Ziel ist eine Symptomlinderung der komplexen medizinischen Probleme. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein – Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Atemnot –, aber nicht nur medizinischer, sondern auch psychosozialer oder spiritueller Art.

So kann die Palliativstation den Rahmen bieten, um beispielsweise als Familie mit dem multiprofessionellen Team (Pflegende, Sozialarbeiter, Psycholog*innen, Krankengymnasten, Atemtherapeut*innen, Seelsorgerinnen und Ärzt*innen) zu überlegen, welche Form der Therapie im Sinne des oder der Patient*innen wäre, wenn dieser selbst keine Entscheidung mehr treffen kann. Solche Gespräche werden »Therapiezielfindungs-« oder »-änderungsgespräche« genannt. Es können Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen erstellt werden.

Eine Palliativstation ist nicht …

… der Ort für eine allgemeine Stärkung und Erholung, um nächste Therapien, die als Ziel eine Heilung haben, besser zu verkraften. Sie erfordert komplexe medizinische oder psychosoziale Symptome; eine lebenslimitierende Erkrankung allein oder ein fehlender Platz in einem Pflegeheim bzw. einem Hospiz ist kein Grund zur Aufnahme.

Dauer der Versorgung Die durchschnittliche Liegezeit auf einer Palliativstation beträgt zehn bis zwölf Tage, vorwiegend werden dort Patienten mit Tumorerkrankungen behandelt. Ca. 50 Prozent der Patienten können wieder entlassen werden – entweder nach Hause mit spezialisierter ambulanter Palliativversorgung oder in ein Hospiz.

Wie kann die Versorgung organisiert werden? Anmeldung über den Konsiliardienst, Haus- und Fachärzte, Einweisung über den Hausarzt

Wer kommt für die Kosten auf? Die Krankenkassen

Doch nicht nur die Patienten leiden unter der »Maschine Krankenhaus«. Menschen, die dort arbeiten, tauschen sich ebenfalls über die Bedingungen aus. Auch Ärztinnen, Ärzte, Schwestern und Pfleger wünschen sich größere Räume in angenehmen Farben, die dazu einladen, sich länger darin aufzuhalten. Mehr Zeit zu haben für Gespräche, die Pflege, die Angehörigen. Den Menschen als Ganzes wahrnehmen zu können, mit seiner bisherigen Biografie und seiner möglichen Zukunft, mit all seinen Ängsten und Hoffnungen. Den Mut haben zu dürfen, keine unerfüllbaren Hoffnungen mehr wecken zu müssen.

Ummantelt bis zuletzt

Wer so denkt, findet im Arbeitsleben seinen Weg oftmals auf eine Station, die sich in vielem so grundlegend vom klassischen Krankenhausbetrieb unterscheidet. Prof.in Claudia Bausewein leitet diesen Ort im Klinikum Großhadern. Die Direktorin der Klinik für Palliativmedizin nennt ihr Umfeld »luxuriös« und meint damit nicht etwa ein verschwenderisches oder gar prunkvolles Interieur, auch wenn die freundliche, in Holz und warmen Farben gehaltene Ausstattung sich nachdrücklich von der üblicher Klinikräume unterscheidet. Nein, mit »Luxus« meint sie »Zeit«, und davon ist hier mehr als genug vorhanden. Zeit für Gespräche, für Gefühle und für Gehörtwerden.

Bereits beim Betreten des hellen Flures umfängt einen eine besondere Atmosphäre, die ein ernsthaftes Willkommen ausstrahlt. Mit nur einem Schritt befindet man sich in einer anderen Welt, die spontan ungemein wohltuend wirkt. Wie kann das sein an einem Ort, an dem gestorben wird? Neben der Farbgebung, den bewusst ausgesuchten Bildern, den als Blickfang platzierten Kunstwerken ist es die Ruhe, die über den Räumen liegt.

Einmal habe ein Patient, ebenfalls ein Mediziner, der von der Privatstation zu ihnen auf die Palliativstation verlegt wurde, nach zehn Minuten erstaunt festgestellt, so Prof.in Bausewein: »Hier ist alles so anders!« Auf ihre Nachfrage, wo denn genau der Unterschied läge, antwortete der Kollege: »Hier sehen mir die Leute in die Augen, sie kennen meinen Namen und sie geben mir zur Begrüßung die Hand!« Für Prof.in Bausewein ein trauriger Moment, denn, so betont sie, all das habe schließlich nichts mit Palliativmedizin zu tun, sondern schlicht mit einer Haltung.

Der Mensch im Mittelpunkt. Dass sich auf der Palliativstation alles so anders anfühlt, liegt mit an einem großzügigeren Personalschlüssel und einem Mehr an Zeit für die Schwersterkrankten. Es gibt eine wöchentliche Besprechung mit dem gesamten Team, in dem sich Ärzte, Pflegepersonal, Therapeutinnen, Seelsorger und Apothekerinnen ausführlich über jede einzelne kranke Person austauschen und dabei ihre Anforderungen und Bedürfnisse beleuchten, weit über das rein Medizinische hinaus. Schließlich spiegeln Architektur und Einrichtung wenig typische Krankenhausatmosphäre. Die Pflegebetten aus Holz, die Zimmer mit begrünter Terrasse, der »Raum der Stille« als Ort des Rückzugs und ein weiträumiger Aufenthaltsraum mit Sofas und großem Tisch. So begrüßenswert es für die Patienten ist, in der letzten Spanne ihres Lebens diese herzliche Umsorgung zu erfahren, so ernüchternd erscheint, dass ihnen diese nicht schon bei Aufenthalten auf anderen Stationen zuteilwurde.

Warum diese Unterschiede? Prof.in Bausewein ist es sehr wichtig, hier keine Kollegenschelte zu betreiben oder gar zu behaupten, im Palliativbereich laufe alles richtig und woanders eben nicht. Für sie liegt das Dilemma in der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Beispielsweise daran, dass Ärzte vermehrt zeitraubende bürokratische Tätigkeiten erledigen müssten, wie etwa die ausführliche Dokumentation in einer Patientenakte. Dadurch würden sie immer mehr Zeit am Computer und entsprechend weniger am Bett ihrer Patienten verbringen. Die Liegezeiten für Erkrankte würden immer stärker begrenzt, auf lediglich drei oder vier Tage am Stück. Wie aber sollte man in dieser kurzen Zeit eine Beziehung aufbauen? Wie ein Gespräch über die psychosoziale Situation führen?

Dass ausgerechnet Patienten auf Palliativstationen diese ganz besondere Behandlung erfahren, liegt daran, dass sie sich in einer extrem schwierigen Situation befänden, so Prof.in Bausewein: »Sterben per se ist kein Grund, zu uns zu kommen. Unsere Patienten sind so krank, dass sie sowieso stationär in einem Krankenhaus lägen. Sie könnten nicht im Hospiz, im Pflegeheim oder zu Hause versorgt werden. Wir erleben hier äußerst komplexe Situationen von Symptomen, von psychosozialen oder existenziell-spirituellen Dimensionen, sodass diese Menschen ein spezialisiertes Team brauchen, mit mehr Zeitressourcen, mehr Kompetenz und mehr Expertise. Eine gängige Schmerzeinstellung muss hier nicht passieren, sondern zu uns kommen Betroffene erst dann, wenn die Kollegen und Kolleginnen mit ihrem herkömmlichen Schmerztherapiewissen nicht mehr zurechtkommen.«

Frieden finden

Die Patienten und Patientinnen hier haben bereits viele Komplikationen durchgemacht. Oft sind es junge Familien, in denen ein Elternteil erkrankt ist und kleine Kinder zurückbleiben werden. Es handelt sich immer um Situationen, in denen Schwersterkrankte und Angehörige an die Grenzen der Belastbarkeit und ihre Helfer an die Grenzen der Machbarkeit gekommen sind. Hier kann die Palliativstation viel leisten, so Prof.in Bausewein: »Die Schmerzen können reduziert, die Atemnot gelindert, die Ängste gemindert werden. Die Situation kann so weit stabilisiert werden, dass man die Station wieder verlässt – lebend. Denn nicht jeder kommt hierher, um zu sterben. Wir können knapp die Hälfte unserer Patientinnen und Patienten entlassen, davon geht ungefähr die eine Hälfte ins Hospiz, die andere nach Hause oder in ein Pflegeheim.«

Manche Erkrankte kehren sogar immer wieder zurück und lassen sich so über Monate hinweg regelmäßig einstellen. Natürlich kommt es ebenso vor, dass jemand auf die Station kommt und nach kurzer Zeit stirbt. Das liegt oft daran, dass viele den Schritt erst sehr spät wagen und die Krankheit entsprechend weit fortgeschritten ist. Das Bestreben der Professorin zielt daher auf eine frühere Einbindung der Palliativmedizin: »Ich bin davon überzeugt, dass eine gute Symptomkontrolle und Unterstützung bei psychischen, sozialen und spirituellen Fragen lebensverlängernd wirken. Es ist nicht verwunderlich, wenn jemand mit stärksten Schmerzen nicht mehr leben will, wenn all seine Energie sich darauf konzentriert, diese Schmerzen auszuhalten.«

Ein weiterer Faktor seien Depressionen – eines der häufigsten übersehenen Symptome, so die Professorin: »Menschen, die ängstlich sind, werden häufig depressiv. Ihre Angst mauert sie ein, sie leiden extrem darunter. Wir müssen aber unterscheiden, bei welcher Patientin oder welchem Patienten es sich um adäquate Traurigkeit handelt und bei wem eine behandlungsbedürftige Depression vorliegt.«

Bei Bedarf wird ein Antidepressivum eingesetzt, was in mehrfacher Hinsicht hilfreich sein kann, denn viele Präparate haben Nebenwirkungen, die in diesem speziellen Fall durchaus von Vorteil sind. Gerade bei »Müdigkeit« und »Appetitsteigerung«, was unter anderen Umständen unerwünscht ist, kann die Professorin von positiven Effekten berichten: »Wird das Medikament abends gegeben, schlafen die Kranken besser, denn es macht müde. Da eigentlich alle unsere Patientinnen und Patienten unter Appetitlosigkeit leiden, freuen sie sich, wenn sie als Nebenwirkung des Medikaments wieder mehr essen können.«

Der medikamentöse Weg ist nicht der einzige bei der Bewältigung aufwühlender Empfindungen; Gespräche oder eine Therapiesitzung gehören dazu. Daher ist das Angebot auf der Station mit Seelsorgern, Sozialarbeiterinnen, Krankengymnasten, Atemtherapeutinnen und Psychologen so umfassend.

Manchen hilft es, ein Bild zu malen, anderen helfen Musik oder der Besuch eines Seelsorgers. Wichtig ist, einen Weg zu finden, um seine Emotionen ausdrücken zu können. Dabei spielt die gesamte Persönlichkeitsstruktur eine Rolle, so die Professorin: »Menschen bringen Ängste aus ihrer Biografie mit. Wer grundsätzlich ein ängstlicher Typ ist, wird dies in der Regel in der Sterbephase nicht verlieren, sondern es kann sich eher verstärken. Die persönliche Vorgeschichte muss also immer mit einbezogen werden. Wir beobachten allerdings, dass viele Kranke sich deutlich weniger um sich selbst sorgen als um die eigene Familie: ›Wie geht es weiter? Kommen sie ohne mich zurecht? Warum muss ich sie jetzt allein lassen, sie sind doch auf mich angewiesen!‹ Wenn kleine Kinder zurückbleiben, ist es natürlich eine große Not für die Eltern, dass sie sie nicht groß werden sehen. Und im Erwachsenenalter vor den eigenen Eltern gehen zu müssen, ist belastend. Für alte Menschen ist es ebenso bitter, das eigene Kind zu beerdigen, wie für junge. Da spielt das Alter keine Rolle.«

Last Exit

Es passiert nicht selten, dass auf der Palliativstation plötzlich Dinge in Gang kommen, die Jahre ruhten. Menschen aus dem Umfeld der oder des Sterbenden kehren zurück in den Orbit, Familienangehörige, zu denen jahrzehntelang kein Kontakt bestand. Oder der Rest der Familie erfährt am Sterbebett, dass es Kinder aus einer früheren Verbindung gibt. Oder es taucht zur Ehefrau noch eine Lebensgefährtin auf. Manche schaffen es erst hier, ihr Testament zu schreiben, ihre Wohnung aufzulösen oder zu heiraten. Mit sich selbst ins Reine zu kommen, sei ein häufiges Motiv hier, meint die Professorin: »Es gibt niemanden, der sagt, sein Leben sei zu hundert Prozent gelungen. Jeder von uns macht Höhen und Tiefen durch. Wenn jemand starke Schuldgefühle mit sich herumträgt, glaubt, zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens etwas falsch gemacht zu haben, dann können wir ihn unterstützen im Akzeptieren dessen, was passiert ist. Man kann nichts mehr rückgängig machen, aber versuchen, seinen Frieden damit zu finden. Trotzdem gibt es Leute, die sterben mit ihrer Seelenlast – vielleicht sogar, ohne überhaupt je darüber gesprochen zu haben.«

Skeptisch ist Claudia Bausewein bei denen, die sehr abgeklärt wirken – »Ich weiß, dass ich sterben werde, und es ist in Ordnung!« Denn, so die Professorin: »Wenn es wirklich ans Eingemachte geht, stehen plötzlich größte Nöte im Raum. Im Kopf kann man das noch so klar sehen, aber gelingt es einem auch auf emotionaler Ebene? Ähnlich ist es mit dem Glauben: Manche verlieren ihn, andere gewinnen ihn neu. Selbst Strenggläubige können am Schluss hadern mit ihrem Gott. Umgekehrt erlebe ich Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind und plötzlich wieder Halt im Glauben finden. Natürlich gibt es auch sehr viele, die ihr Leben lang aus einem tiefen Glauben als Ressource schöpften, bei denen die Krankheit nichts daran ändert.«

Selbst das Alter ist für Prof.in Bausewein keine Garantie dafür, dass man leichter stirbt. Manchmal lasse sogar jemand mit 85 Jahren schwerer los als ein junger Mensch mit 25, der extrem bewusst gelebt hat und daher sagen kann: »Das war meine Zeit.« Was im hohen Alter nicht jeder schafft.

Die erträgliche Leichtigkeit des Sinns

Was ist es, das uns ganz am Ende hilft? Nach der langjährigen Erfahrung der Professorin weder Alter noch Religion: »Letztendlich geht es um die Persönlichkeit jedes Einzelnen, um seine Lebenseinstellung: Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Habe ich es bewusst gelebt und aktiv in die Hand genommen? Und natürlich: Was bleibt? Es mag sein, dass nicht jeder über diese existenziellen Themen spricht, was aber nicht heißt, dass sie am Lebensende ausbleiben. Dann ist nicht entscheidend, welches Auto gefahren, wie viele Publikationen veröffentlicht und welches Gehalt verdient wurde, sondern es zählt nur noch: Wen habe ich geliebt? Wie bin ich mit den Menschen umgegangen, die mir anvertraut waren? Was habe ich aus meinen Gaben gemacht? Das ist die Bilanz, die am Ende gezogen wird.«

Der Insider

Einer der Patienten kennt die Palliativstation im Klinikum Großhadern schon lange. Genauer, seit Anbeginn, als sie im Jahr 2003 mit sechs Palliativbetten eröffnet wurde. Wolfgang Hepperle ist 51 und wollte eigentlich Pfarrer werden, doch nach dem Abitur bewirbt er sich für ein Praktikum im Krankenhaus und spürt in diesen drei Monaten: Krankenpfleger, das ist sein Weg. Da er schon für das Theologiestudium eingeschrieben ist, wird es noch vier Semester und das Durchlaufen der Bundeswehr dauern, wo er seine Ausbildung zum Pfleger absolviert, bis er schließlich 1987 mit seinem Wunschberuf starten kann. Wolfgang Hepperle beginnt in Tübingen auf der Station der Neurochirurgie als Pfleger. Als er später nach München zieht und im Klinikum Großhadern anfängt, arbeitet er erneut in der Abteilung, die unter anderem die Diagnosestellung und Behandlung von Hirntumoren zur Aufgabe hat.

Er kennt ihn lange und gut, »seinen« Tumor. Das Glioblastom IV begleitet ihn seit Beginn seines Berufslebens, in all den Jahren in der Neurochirurgie sowie in zehn Jahren auf der Palliativstation. Immer wieder lernt er Patienten kennen, die an dieser Art Hirntumor erkrankt sind, und als ihm im Herbst 2013 die Diagnose mitgeteilt wird, weiß er nur zu genau, was auf ihn zukommt.

Ohne jedes Vorzeichen erleidet Wolfgang zu Hause einen epileptischen Anfall und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Die Aufnahme der Computertomografie zeigt es klar: ein Glioblastom IV. Dieser Tumor ist grausam. Er wächst schnell und lähmt im schlechtesten Fall, je nach Lokalisation, alles, was wichtig und nötig für den Körper ist – Sprache, Sehzentrum, Bewegungsapparat. Er drückt auf das Gemüt und auf die Persönlichkeit, und am Ende wird sich der Tumor so weit ausgebreitet haben, dass er das Atemzentrum blockiert. All das ist Wolfgang präsent, als der Professor für Neurochirurgie ihm eröffnet, was der Grund für den Anfall war: »Als ich die Diagnosestellung ›Glioblastom IV‹ gehört habe, dachte ich nur: ›Gott sei Dank! Da kann man nicht viel herumexperimentieren.‹ Wäre es ein Glioblastom I oder II gewesen, hätte es alle möglichen Therapieansätze gegeben. Nicht bei diesem Tumor. Die Lebenserwartung ist deutlich begrenzt; vier Monate, wenn man nichts macht. Eine Heilung ist definitiv nicht möglich.«

Wolfgang Hepperle weiß: Dieser Tumor ist praktisch inoperabel, denn das Tumorgewebe würde sofort wieder nachwachsen. Was jeden anderen vermutlich schockiert hätte, stellt für Wolfgang eine Erleichterung dar. Er weiß ganz genau, was er will – und vor allem, was er auf keinen Fall will: »Früher wurden an einem Glioblastom Erkrankte zwei-, dreimal operiert, das macht man heute nicht mehr. Sofern es noch sinnvoll ist und der oder die Betroffene es wirklich will, operiert man heute maximal einmal. Damit kann man die Lebensspanne etwas verlängern. Wohlgemerkt: Wir reden hier von ein paar Wochen oder wenigen Monaten. Eine Operation wäre daher für mich nie infrage gekommen. Wäre ich alleinstehend, hätte ich sofort gesagt: Ich nehme die vier Monate, und dann ist es gut!« Doch Wolfgang hat eine Frau und eine 13-jährige Stieftochter. Er entscheidet nicht nur für sich, sondern auch für seine Familie, Menschen, die er liebt und die ihn lieben und die diese Hiobsbotschaft verkraften müssen. Und vier Monate sind verdammt kurz, um Abschied zu nehmen.

Als ihn der behandelnde Professor, der Wolfgang schon lange kennt, fragt: »Was machen wir?« und ihm eine experimentelle fotodynamische Therapie vorschlägt, gerät Wolfgang ins Wanken. Das Verfahren wird bisher noch sehr selten angewandt. Dabei werden Elektroden direkt in das Gehirn eingeführt und über einen bestimmten Zeitraum eine im Tumorgewebe angehäufte Substanz über Licht aktiviert. Die so übertragene Energie wird in mehreren Schritten auf den im Gewebe befindlichen Sauerstoff übertragen; dadurch können, kombiniert mit einer Chemotherapie und Bestrahlung, bestimmte Zellstrukturen des Tumors zerstört werden.

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Nach einer halben Stunde Bedenkzeit und einem intensiven Gespräch mit seiner Frau, die als Krankenschwester ebenfalls in Großhadern tätig ist, stimmt er entgegen seiner ersten Empfindung der Therapie zu: »Wenn man selbst hier als Pfleger arbeitet, überlegt man schon, ob man damit die Forschung weiter voranbringt. Vielleicht hilft es ja einem anderen Patienten. Jedenfalls wird mit dem Experiment an Erfahrung gewonnen. Schließlich war das der Grund, warum doch was gemacht wurde.«

Ferienverlängerung

Aus den ursprünglichen vier Monaten Überlebenszeit sind inzwischen zwölf geworden. Regelmäßig wird Wolfgang Hepperle von Prof. Feddersen besucht. Die beiden kennen sich schon etliche Jahre, aus der Zeit, als Prof. Feddersen auf der Palliativstation arbeitete. Für Prof. Feddersen ist es in dem Fall von Vorteil, dass sich die beiden schon vor der Erkrankung begegnet sind: »Wir sind den Betroffenen gegenüber grundsätzlich sehr offen und liberal und stellen uns auf deren Wünsche ein. Wenn man sich kennt, lässt sich die Richtung, in die es gehen soll, schneller einschätzen, denn man weiß ja, was dem Gegenüber wichtig ist. Auf der anderen Seite darf man nicht den Fehler machen, zu viel vorauszusetzen und zu denken: ›Wolfgang wünscht sich das und das, darüber müssen wir gar nicht mehr viel reden.‹ Da war es sicher hilfreich, dass wir zwar viel zusammen gearbeitet und etliche Nachtdienste miteinander verbracht haben, uns aber doch nicht so gut kennen. Ansonsten hätte ich Sorge, ob ich Entscheidungen adäquat vermitteln könnte. Ist das Verhältnis zu eng, läuft man Gefahr, den anderen schützen zu wollen; dann könnte man der Rolle, die mehr Abstand erfordert, nicht mehr gerecht werden.«

Wenn die beiden in Wolfgang Hepperles Esszimmer hoch über den Dächern des Münchner Südens zusammensitzen, ist die Stimmung gelöst. Man tauscht sich über Neuigkeiten aus dem Klinikum aus und fachsimpelt über den aktuellen Gesundheitszustand. Beide verfügen über die nötige Portion Humor, um diesem mit Ironie zu begegnen. Wolfgang erzählt lachend, er habe gerade eine briefliche Aufforderung für Darmkrebsvorsorge erhalten, denn bei Männern in seinem Alter sei ja Vorsicht geboten. »Eindeutig zu spät«, pflichtet ihm Berend Feddersen bei. Er solle doch zurückschreiben: »Danke für den Tipp, aber Krebs habe ich bereits im Kopf.«

Wolfgang Hepperle sieht gut aus im Spätsommer 2014, sein Gesicht, das noch ein Dreivierteljahr zuvor durch die Kortisongabe stark angeschwollen war, ist wieder schmal. Er hat die Monate genutzt und alles geregelt.

Wolfgang ist froh, dass im Moment alles stabil ist. Die aktuelle Bildgebung zeigt erstaunlicherweise nicht nur einen Stillstand, sondern deutet sogar auf eine leicht rückläufige Entwicklung des Tumors hin. Damit, so Prof. Feddersen, ist die Frage nach der Zeit, die Wolfgang noch bleibt, eigentlich gar nicht mehr so leicht zu beantworten.

Wolfgang selbst sieht diese Entwicklung gelassen: »Das weckt in mir keine neue Hoffnung. Wenn ich etwas hoffe: dass die Zeit, die vor mir liegt, eine gute ist; dass es, wenn es so weit ist, schnell geht.« Wolfgang weiß, dass es für ihn keine Heilung gibt. Aber – und man nimmt es ihm wirklich ab: »Ich lebe ganz gut damit. Ich bin zufrieden, denn das, was ich machen wollte, habe ich gemacht. Und das, was ich noch machen werde, entscheidet sich danach, wie es mir geht.« Was jetzt noch wichtig ist? In erster Linie sei das, was er sich wünsche und am meisten brauche, Ruhe.

Natürlich liegt das mit an der großen Müdigkeit. Und am Nachdenken über sein Leben. »Wie Fernsehschauen« sei das, meint er. Dann lässt er einfach Sequenzen aus seiner Vergangenheit an sich vorbeiziehen. Schmerzlich sei das nicht, im Gegenteil, so lächelt er: »Bisher habe ich dabei noch keine schlechten Erfahrungen gemacht! Ich habe nicht das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. Wenn mir etwas in den Sinn kam, habe ich das auch getan. Vielleicht lag es daran, dass ich immer realistische Ziele hatte. Mir hat es gereicht, wenn ich mich in die S-Bahn setzen konnte und an den Starnberger See gefahren bin. Oder mit dem Rad eine größere Tour gemacht habe.«

Abends sitzt er im Dunkeln im Wohnzimmer und schaut in den Himmel. Lange kann er so sitzen, ohne dessen überdrüssig zu werden. Denn das Gefühl für Zeit, erzählt er, hat sich massiv verändert: »Früher hat man zehn Minuten auf den Bus gewartet, und es kam einem ewig vor. Jetzt vergeht die Zeit so schnell! Es fühlt sich ein wenig so an wie damals in der Schule: Als Kind empfand man zu Beginn die sechs Wochen Sommerferien wie eine Ewigkeit, zum Teil hat man sich sogar gelangweilt. Und irgendwann fing die Zeit an zu rennen. Man hätte gern viel länger Ferien gehabt, und es kam einem viel zu kurz vor.«

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Wolfgang Hepperle, Diagnose Glioblastom IV, hat früher selbst in der Palliativstation als Pfleger gearbeitet.

Jetzt hat Wolfgang wohl eine unerwartete Ferienverlängerung bekommen. Beim letzten Arztgespräch hieß es, ein Patient, der an derselben Studie teilnimmt, tue dies jetzt schon im vierten Jahr. Vier Jahre statt vier Monate! Ist alles wieder offen? Wolfgang entgegnet gelassen auf die Frage, wie sich diese Neuigkeit anfühle: »Wie das richtige Leben. Jeden Tag muss man damit rechnen, dass etwas völlig Unvorhergesehenes passiert.«

Sollte bei ihm »der Tag« kommen, weiß er, wo er hinmöchte: »Die meisten Menschen haben den Wunsch, zu Hause zu sterben. Bei mir ist das nicht so. Ich möchte ins Hospiz.« Dahinter steckt der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen, insbesondere seiner Frau und seiner Adoptivtochter nicht. Bei einer akuten Verschlechterung würde er auf »seine alte« Palliativstation gehen, doch dort ist der Aufenthalt auf maximal zwei Wochen begrenzt. Für eine längere Zeitspanne erscheint Wolfgang das Hospiz ideal: »Zu Hause zu sterben, das ist eine sehr große Belastung. Im Hospiz können die Menschen, die einen daheim pflegen würden, einfach zu Besuch kommen. Und sie können entscheiden, wie lange der Besuch dauern soll.«

Das Hospiz

Hospiz. Ein Schreckenswort, das nach Endstation klingt, nach einem Ort, den man nicht lebend verlassen wird. Ein Ort, der Fragen in den Raum stellt: Ist es denn schon so weit? Was erwartet mich dort? Ist alles trist und traurig? Liegen die Menschen in abgedunkelten Räumen? Wird nur noch geweint? Darf man dort überhaupt lachen?

Den Mitarbeitern eines Hospizes sind diese Ängste, Vorurteile und Klischees vertraut. Sie wissen um die Hemmschwelle, die es zu überwinden gilt, und sie bedauern, dass die meisten diese erst sehr spät zu überschreiten wagen. »Der überwiegende Teil unserer Gäste kommt eigentlich zu spät«, so Peter Johannsen, Geschäftsführer des Hospizes Nordheide in der Nähe von Hamburg. Was umso bedauerlicher ist, wenn mit dem Einzug ins Hospiz der immer gleiche Satz fällt: »Wäre ich doch schon früher gekommen.«

Gleichzeitig herrscht im Hospiz maximales Verständnis dafür, dass es sich um einen schwierigen Prozess handelt, in dem diese Entscheidung reifen muss, so Peter Johannsen: »Man muss bereit dafür sein, sich in andere Hände zu begeben und fallen zu lassen. Das muss wachsen, und viele Erkrankte versuchen, es so lange wie möglich hinauszuzögern. Wenn allerdings der richtige Zeitpunkt gekommen ist, kann man es viel besser annehmen.« Um den Aufenthalt als Gast im Hospiz richtig erleben zu können, die wohltuende Atmosphäre aufzunehmen und sich auf die dort angebotenen Möglichkeiten einzulassen, brauche es mehr als ein, zwei Tage. Dennoch, so Peter Johannsen, gebe es immer wieder Gäste, die nur ganz kurz hier seien – und trotzdem erfüllt von großer Dankbarkeit.

»Mein Herz sagt mir, dass ich sterben muss«

Auch Steffis Ankunft im Hospiz hat eine lange Vorgeschichte. Die 33-jährige Grundschullehrerin erkrankt in der Schwangerschaft an Darmkrebs. Zunächst bleibt es unbemerkt, Anzeichen einer möglichen Erkrankung werden »typischen« Schwangerschaftsbeschwerden zugeschrieben. Erst nach der Geburt ihres Sohnes, er ist damals zwei Monate alt, wird die Krankheit diagnostiziert. Aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums der Erkrankung deuten die Ärzte an, dass keine Hoffnung auf Heilung bestehe, doch Steffi will das nicht hören: »Immer wenn ein Arzt mit so einem Gespräch angefangen hat, habe ich ihn sofort gestoppt. Ich will keine Zahlen oder Wahrscheinlichkeiten; das Einzige, was mich interessiert, sind die Möglichkeiten, die ich noch habe.«

Steffi, die Mathematikerin, die sonst alles nüchtern und strukturiert analysiert, fordert Hoffnung. Ihr neugeborener Sohn aktiviert in ihr einen unerschütterlichen Glauben an sich. Sie stellt sich allen machbaren Therapien, Operationen und Behandlungen, denn Steffi braucht Zeit. Ihr Sohn soll sich an sie erinnern können. Als er eineinhalb Jahre alt ist, entstehen für das Buch Jung. Schön. Krebs. Fotos von Steffi, gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrem Mann. Es werden wertvolle Erinnerungsstücke an einen heiteren, sonnigen Septembertag.

Greta Rose, die Steffi im Studium kennenlernte, hat dieses Fotoshooting initiiert. Sie begleitet ihre Freundin in Hamburg in all den Monaten, obwohl sie selbst in Hannover lebt und zwei kleine Töchter hat. Greta klärt und organisiert – und sie ist es auch, die das erste Mal den Gedanken an ein Hospiz einbringt. Denn es ist keinesfalls so, dass Steffi das Thema Sterben völlig ausgrenzt. Die Freundinnen reden oft darüber, ganz theoretisch. Diskutieren, wo man überhaupt sterben kann. Greta gibt offen zu: »Wir wussten nichts darüber! Wer beschäftigt sich, wenn er so jung ist, mit dem Tod? Kein Mensch! Entweder man fällt tot um oder man stirbt im Krankenhaus, das war unsere Vorstellung. Und dann gab mir Steffi einen Auftrag: ›Du musst herausfinden, wo ich sterben kann, denn im Krankenhaus möchte ich das nicht!‹«

AUF EINEN BLICK

Ein Hospiz ist …

… eine unabhängige Pflegeeinrichtung mit pflegerischer Leitung. Die Aufnahmeindikation ist eine schwere lebenslimitierende Erkrankung mit nur noch kurzer Lebenserwartung. Die Anzahl der Hospizbetten ist begrenzt, sodass es meist eine Warteliste gibt. Daraus resultiert, dass eine eher frühzeitige Anmeldung sinnvoll ist, kurzfristige Aufnahmemöglichkeiten sind selten. Die Betreuung erfolgt rund um die Uhr. Die ärztliche Versorgung gewährleisten meist Hausärzt*innen.

Dauer der Versorgung Patienten im Hospiz haben eine Lebenserwartung von weniger als drei Monaten. Die Betreuung erfolgt bis zum Versterben und darüber hinaus: Der Verstorbene wird entsprechend versorgt, es gibt für die Angehörigen Raum und Zeit zum Abschiednehmen, und sie werden in ihrer Trauer begleitet.

Wie kann die Versorgung organisiert werden? Die Anmeldung ist durch den Betroffenen selbst, seine Angehörigen bzw. sehr nahestehende Personen oder durch Hausärzt*innen, Sozialdienste oder Palliativstationen etc. möglich. Kann sie nicht durch den Patienten selbst erfolgen, sollten sich Angehörige ein Bild von der Einrichtung machen, damit der Patient eine Vorstellung hat, an welchen Ort sein letzter Umzug erfolgt.

Wer kommt für die Kosten auf? Die Kranken- und Pflegekassen; 10 Prozent müssen vom Gesetzgeber vorgeschrieben über Eigenmittel des Hospizes (Spenden) finanziert werden. Da dies aber häufig nicht ausreicht, kann dieser Anteil auch deutlich höher liegen.

Das ist für Steffi der Ort, den sie hasst, der sie depressiv macht, dort ereilt sie regelmäßig der Krankenhauskoller. Dass es zu Hause schwierig werden könnte, ist ihr ebenso bewusst – obwohl die Familie in einem wunderschönen neu gebauten Haus wohnt, möchte Steffi es ihrem Mann, ihrem kleinen Sohn, ihren Eltern nicht zumuten. Also nimmt Greta Kontakt mit einer Bekannten auf, von der sie weiß, dass diese in einem Hospiz arbeitet: »Sie hat mir zunächst von der Palliativstation erzählt, die aber eher Krankenhausatmosphäre habe. Dann beschrieb sie das Hospiz, was eine Art Mittelweg aus Zuhause und Krankenhaus sei. Ich war fasziniert von ihrer Beschreibung, mit welcher Würde und Gelassenheit sie über den Tod und das Sterben sprach.«

Greta informiert Steffi sofort über diese Möglichkeit und stößt auf großes Interesse. Im Internet finden sie das Hospiz Nordheide, ganz in der Nähe von Steffis Wohnort. Von da an hat Steffi einen festen Entschluss gefasst: »Ich sterbe im Hospiz!« Es vergehen abermals einige Monate ohne ein weiteres Gespräch über das Thema, bis Steffi im November 2013 Greta bittet, einen Termin auszumachen – sie möchte es sich einmal anschauen. Der Empfang ist herzlich und liebevoll. Auch wenn es sich beim Hospiz Nordheide um eine ehemalige Station der angrenzenden Klinik handelt, erinnert nichts an einen typischen Krankenhausflur. Lichtschächte fluten die Gänge von oben mit Sonnenlicht, das sanfte Gelb der Wände unterstreicht ein spontanes Gefühl von Wärme. Möbel aus hellem Holz, farbenfrohe Bilder und viele Grünpflanzen strahlen Wohnlichkeit aus.

Steffi und Greta lernen sehr viel bei ihrem Besuch: etwa dass es im Hospiz keine »Patienten« gibt, sondern wie in einem Hotel nur »Gäste«. Dass keine Verbote existieren, nur Freiheiten, selbst das Rauchen ist erlaubt. Dass die geräumigen Zimmer Platz für ein zweites Bett und sogar für die eigenen Möbel bieten, dass jeder noch so immobile Gast in die komfortable Riesenbadewanne hineingehoben werden kann und dass der Raum der Stille auch zum Weinen und Musikhören da ist.

Als sie das Hospiz verlassen, ist wieder ein neuer Schritt getan. Der musste gefeiert werden, so Greta: »Wir sind erst mal in eine Kneipe gefahren und haben Cocktails getrunken. Darauf, wie cool wir sind, dass wir uns das getraut haben!« Und wieder ist für Steffi das Thema erst einmal erledigt. Greta, die hautnah miterlebt, wie sich der Zustand ihrer Freundin Steffi stetig verschlechtert, versucht, sie darauf anzusprechen. Schließlich habe das Hospiz nur relativ wenige Betten, die seien meist ausgebucht, und im schlimmsten Fall sei dann kein Platz frei, wenn sie ihn benötige. Doch Steffi will nichts davon hören. Bis sie Greta schließlich offenbart: »Ich habe dir ein großes Geschenk gemacht. Ich habe den Eilantrag fürs Hospiz ganz allein gestellt. Mein Herz sagt mir, dass ich sterben muss.« Am 29. Januar 2014 schließlich bezieht Steffi ihr Zimmer im Hospiz Nordheide, fünf Tage vor ihrem Tod.

Kein Leben ohne Sterben

Greta ist seit den fünf Tagen, die sie an Steffis Seite bis zu deren Tod im Hospiz verbrachte, von der Sinnhaftigkeit dieser Einrichtung überzeugt: »Du lernst im Hospiz, dass der Tod zum Leben gehört, beide sind untrennbar miteinander verbunden. Warum sollten wir große Ängste davor haben? Sogar derjenige, der schwer krank ist, kann hier seine Angst vor der Endlichkeit verlieren. Auf einmal wirkt alles so normal.«

Ein Weg, um Berührungsängste abzubauen, liegt in der Öffentlichkeitsarbeit, so Peter Johannsen, der damals die Geschäfte im Hospiz Nordheide führt: »Wir haben den Auftrag, den Hospizgedanken in die Öffentlichkeit zu tragen. So entstand die Regel, dass ein bestimmter Prozentsatz – bei uns sind es 10 Prozent – über Spenden vom Träger selbst aufgebracht werden muss. Zu Beginn hat mich das fast ein bisschen geärgert, weil es ja ein großer Aufwand ist. Heute weiß ich, dass damit viel Raum für Engagement entsteht. Wenn Schulen und Sportvereine ihre Erlöse aus Veranstaltungen spenden oder Privatleute bei einer Feier zu unseren Gunsten auf Geschenke verzichten, profitieren wir zweifach: Wir erhalten Geld und Aufmerksamkeit. Hier im Landkreis denken sehr viele Menschen immer wieder ans Hospiz, und dies hat zur Folge, dass das Thema Sterben in der Bevölkerung automatisch präsenter wird.«

Endstation mit Notausstieg

Steigendes Bewusstsein für das Hospiz führt dazu, dass man sich frühzeitig mit dem Gedanken beschäftigen sollte, denn einen Platz bekommt man meist nur über eine Warteliste. Die bewusst wenigen Zimmer – in der Nordheide sind es zwölf – sind rar und begehrt. Ein Beispiel: In einer Großstadt wie München kommen auf 1,5 Millionen Einwohner gerade mal 28 Hospizplätze (Stand 2024). Erforderlich für die Aufnahme ist eine entsprechende medizinische Indikation. Wie auf der Palliativstation reicht »Sterben« allein nicht aus. Zu über 90 Prozent werden die Räume von Gästen mit Krebserkrankungen bezogen, der übrige Teil sind solche mit Herz-Kreislauf- oder neurologischen Erkrankungen. Die größte Altersgruppe liegt zwischen 50 und 70, die Altersspanne zwischen Mitte 20 und Ende 90.

Selbst wenn es für die Mehrheit der Gäste der letzte Aufenthaltsort sein wird, besitzt jeder Gast die Freiheit, ihn wieder zu verlassen. Das, so Sonja Euhus, stellvertretende Pflegedienstleitung im Hospiz Nordheide, sei ein wichtiges Thema. Allerdings, so die Krankenschwester weiter: »Das kommt in der Realität vielleicht bei zwei Gästen im Jahr vor. Manche gehen unfreiwillig, weil ihre Bewilligung durch die Krankenkasse abgelaufen ist. Der längste Aufenthalt wurde von der Krankenkasse für mehr als ein Dreivierteljahr bewilligt.«

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Das Hospiz Nordheide – Impressionen.

Eine einheitliche Regelung für die Aufenthaltsdauer im Hospiz existiert nicht – das wird von Kasse zu Kasse unterschiedlich gehandhabt. Spätestens nach drei Monaten, oft jedoch früher, muss der Aufenthalt erneut autorisiert werden. Im Durchschnitt beläuft er sich auf drei bis vier Wochen, manchmal sind es nur wenige Tage oder Stunden. Mitbringen darf man nicht alles, aber doch einiges. Die Zimmer sind großzügig geschnitten, mit eigenem Bad. Freunde und Angehörige dürfen mit im Zimmer oder in einem Besucherzimmer übernachten. Selbst Tiere sind willkommen, wenn sich andere Gäste nicht gestört fühlen.

Ärztliche Versorgung im Hospiz

Sie wird in der Regel von Hausärztinnen und Hausärzten geleistet. Häufig gibt es eine enge Zusammenarbeit mit darauf spezialisierten Hausärzten, die regelmäßig nach ihren Patienten sehen. Durch die extrem selbstständige Arbeitsweise der Pflegenden ist aber keine hohe Arztpräsenz mit täglichen Visiten notwendig. Wichtiger ist ein breiter Bedarfsmedikationsplan, sodass in jeder Situation eine sichere Handlungsfähigkeit der Versorgenden möglich ist. Sofern bei einem Umzug ins Hospiz ein nochmaliger Arztwechsel als belastend empfunden wird, betreuen einige Hausärzte den Patienten im Hospiz mit. Bei den anderen können im Ausnahmefall Ärztinnen der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung die hausärztliche Betreuung mit übernehmen. Fünf Tage begleitete Greta ihre Freundin Steffi auf deren letztem Weg. Eine bereichernde Zeit, die sie veränderte: »Wenn ich es mir wünschen dürfte, würde ich ebenfalls ins Hospiz gehen, aber rechtzeitig. Dort kannst du dich auf das, was kommt, einstellen. Du bist umgeben von Menschen, die du jederzeit ansprechen kannst, die tatsächlich Zeit haben. Es ist nicht so wie im Krankenhaus, wo du das Gefühl hast, du störst. Wenn du traurig bist und weinen musst und du gehst raus auf den Gang, bist du keine zwei Sekunden allein, wenn du es nicht willst. Komischerweise spüren die Mitarbeiter das; ich weiß nicht, wie, aber sie wussten immer ganz genau, wann sie uns allein lassen mussten und wann nicht. Es ist einfach ein herzlicher, warmer Ort. Alle denken immer, das ist ein Haus, in dem gestorben wird. Na klar wird in dem Haus gestorben! Aber du kannst hier das Leben so intensiv spüren wie nirgendwo sonst.«

So begeistert Greta von der Einrichtung eines Hospizes ist – tief in ihrem Herzen hegt sie dennoch einen Wunsch: »Klar wäre es mein Traum, zu Hause zu sterben, wenn es so weit ist! Da habe ich gelebt und da möchte ich auch sterben. Aber ich fürchte, in der heutigen Zeit ist der Tod so aus dem Leben gerückt, dass zu große Ängste vorherrschen, dass viele denken: ›Nein, das kann ich nicht, das ist ja alles furchtbar!‹ Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, die dem entspannt entgegenblicken, weil sie den Tod Angehöriger in ihrem eigenen Heim erlebt haben.«

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Greta an dem Bett, in dem ihre Freundin Steffi starb.

»Steffi hat Frieden mit sich und der Welt gemacht«

Ein Gespräch mit Greta Rose, die die letzten Tage ihrer Freundin Steffi mit ihr im Hospiz verbrachte

Du hast deine Freundin sehr eng begleitet und lange auf den Schritt, ins Hospiz zu gehen, hingearbeitet. Wie war es, als ihr wirklich dort angekommen seid?

Ich war fürchterlich aufgeregt bis zuletzt, weil ich Sorge hatte, dass es nicht mehr klappt. Ich spürte ja, dass das Zeitfenster sehr eng war. Und dann war die Ankunft einfach nur lustig! Ich hatte vorher angerufen, weil wir einen Rollstuhl brauchten; Steffi konnte ja nicht mehr laufen. Also erwartete uns schon ein gut aussehender junger Mann namens Timo mit Rollstuhl. Man muss wissen, dass es Steffi die ganzen Monate zuvor ein absoluter Graus war, sich von »Fremden« anfassen zu lassen. Sie machte dort die Autotür auf, und ich sagte: »Ich hole dich nicht da raus; wir haben drei Stunden gebraucht, um dich reinzuhieven! Hier sind Menschen, die können das, du brauchst keine Angst zu haben.« Steffi schaute Timo an und sagte lachend: »Was ’ne geile Sau!« Worauf Timo antwortete: »Ja, mein Schatz, ich bin hier für die heißen Ladys abgestellt. Ich muss immer die tollen jungen Frauen in Empfang nehmen!« Da wusste ich, dass wir alles richtig gemacht hatten.

Damit hattest du sozusagen schon auf dem Parkplatz die Pflegeverantwortung abgegeben?

Ja, Timo durfte alles, was sonst wir gemacht hatten. Er hob Steffi aus dem Auto, und innerhalb von Sekunden saß sie gänzlich ohne Schmerzen im Rollstuhl. Endlich war da einer, der wusste sie anzufassen, ohne ihr wehzutun. Bei uns hat sie bei der kleinsten Berührung angefangen zu weinen, weil ihr Körper ja nur noch Schmerz war. Als ich den Rollstuhl schieben wollte, schritt Steffi lachend ein: »Nein! Also mal ehrlich, wenn ich mit Timo fahren kann, fahre ich doch nicht mit dir!« Dann hat er ihr alles gezeigt und etwas zu essen geholt. Als Steffi bat: »Ich hätte gerne Fanta!«, stellte er alles Mögliche auf den Tisch: Fanta, Cola, Sprite, Bier, Wasser, Kaffee, Tee … Ich war furchtbar erleichtert, musste aber am ersten Tag auch viel heulen, weil ich einfach so froh war, dass wir es geschafft hatten und bei Steffi ein wahnsinniger Prozess stattfand.

Wie veränderte sich Steffi an diesem Tag?

Sie war locker, entspannt, sie fühlte sich supergut aufgehoben. Sie musste nicht mehr irgendeinen Schein wahren, sondern konnte einfach nur sie selbst sein. Sie konnte akzeptieren, dass es nur noch um sie ging, um niemand anderen mehr. Nicht um ihren kleinen Sohn, um den man sich kümmern musste, es gab keinen Alltag mehr, der bestritten werden musste, nichts, was noch hätte organisiert werden müssen mit ihrem Mann oder ihren Eltern. Sie allein war der Mittelpunkt.

Man kann es ein »Ankommen« nennen, sie strahlte aus: »Hier bin ich richtig. Hier kann ich mich gehen lassen. Hier können die Dinge so laufen, wie ich mir das vorstelle.«

Woran glaubst du liegt dieses Loslassenkönnen?

Die Menschen im Hospiz vermitteln einem sofort das Gefühl des Zu-Hause-Seins. Man fühlt sich nicht fremd. Es arbeiten dort so tolle Menschen, die dich einfach mal so drücken, nebenbei, ganz selbstverständlich. Alle Last der letzten eineinhalb Jahre fiel einfach ab, von Steffi, von mir. Das spürte ich auch bei Steffis Ehemann, dem schien ebenfalls eine Bürde von den Schultern genommen zu sein. Er wusste: Auch er kann hier sein, wie er ist. Er kann sich zurückziehen, er findet Menschen, mit denen er reden kann, hier wird auch ihm geholfen.

Wie ging es weiter in den nächsten Tagen?

Die erste Nacht habe ich auf dem Gästebett bei Steffi und ihrem Mann im Raum geschlafen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fragte sie: »Greta, bist du da?« Ich antwortete: »Klar, wo soll ich sonst sein?« Darauf meinte sie: »Du musst mich noch einmal schön machen!« Ich fragte: »Wieso?« Steffis Antwort: »Wieso?! Ist doch ganz klar, weil ich heute Hochzeitstag habe!«

Das stimmte natürlich nicht, aber die Hospizschwester, die im Zimmer war, sagte: »Ja, Steffi, du hast ab heute jeden Tag Hochzeitstag! Was willst du denn anziehen?« Steffi hatte mittlerweile sehr empfindliche Beine, wollte aber dennoch eine Strumpfhose anziehen und einen Minirock. Also haben wir ihr zu viert innerhalb von zwei Stunden diese Strumpfhose angezogen, sie hat sehr geweint zwischendurch, doch sie wollte es unbedingt. An diesem Tag stand Hühnchenbrust mit Festtagsgemüse auf dem Menüplan – da musste ich ziemlich lachen, das hat so gepasst! Das war übrigens das letzte Essen, das Steffi so richtig zu sich nehmen konnte.

Ich bin dann ins Gästezimmer gezogen, ich hatte das Gefühl, die Eheleute brauchten jetzt Zeit für sich. Die zwei haben viel gekuschelt, Händchen gehalten, er hat ihr Gesicht gewaschen, ihr zu trinken gegeben. Es mag sich komisch anhören, aber ich hatte das Gefühl, dass es beide sehr genossen haben. Es war eine wertvolle Zeit, in der beide mit Hochachtung Abschied voneinander nehmen konnten – Steffi sagte oft: »Es ist so schön!«

Wie hast du Steffis Sterben erlebt?

Für mich hatte Steffi einen schönen Sterbeprozess, sofern man das von außen beurteilen kann. Würdevoll und friedlich, in harmonischer, aufgefangener Atmosphäre. Zu keiner Zeit für uns Begleitende mit Angst besetzt, denn wir waren nie allein. Als klar wurde, Steffi würde bald sterben, waren ab da immer zwei Schwestern in der Nähe, auch nachts. In der ersten Nacht hatte nur eine Dienst, was mich sehr belastet hat, denn ich dachte: »Wie soll das gehen? Wenn jetzt was passiert, dann ist da nur eine Schwester, die auch noch für elf andere zuständig ist!« Weil ich mir Sterben ganz anders vorgestellt habe. Ich dachte, da brauchen wir jemanden. Aber wenn wir jemanden gebraucht haben, waren sie immer ganz dezent in der Nähe.

Wie ist das heute für dich, dass du deine beste Freundin bis in den Tod begleitet hast?

Das ist ein großes Geschenk. Das größte, das mir jemals jemand gemacht hat. Im Sterben siehst du den Menschen ganz, da gibt es keine Maske mehr, du erlebst ihn in seinem puren Sein. Da kann man nichts vorspielen, man ist absolut echt. Aber es ängstigt dich nicht. Vorher hatte ich gedacht: »Ich werde furchtbare Angst haben, der Prozess wird mit so viel Schmerzen seelischer Natur verbunden sein, das halte ich nie aus!« Doch dann war alles ganz ruhig und still und ergreifend.

In der Nacht bevor Steffi gestorben ist, hat sie sich bei mir bedankt, »fünfhunderttausendmillionen Mal«, wie sie sagte. Ich antwortete ihr, dass ich mich niemals würde bei ihr bedanken können für das, was sie mir gegeben hat, weil es so tiefgreifend ist. Dann habe ich keine Worte mehr gefunden. Und Steffi hat mich angeguckt und gesagt: »Ich sterbe doch nur, ich habe doch gar nichts gemacht.«

Was kannst du aus deiner Erfahrung Menschen raten, die in der gleichen Situation sind wie deine Freundin und du?

Wer Angst vor dem Sterben hat und fürchtet, es nicht allein tragen zu können, dem würde ich auf alle Fälle raten: Schaut euch ein Hospiz an! Ihr werdet dieselbe Erfahrung machen wie ich. Ich habe mit vielen in diesen fünf Tagen gesprochen. Das waren sehr unterschiedliche Menschen, und wirklich alle haben die gleiche Erfahrung gemacht: Es fällt eine große Last von einem ab. Natürlich ist es erst mal schlimm! Es ist der letzte Umzug! Doch spüren alle diesen tiefen Frieden.

Ich kann nur empfehlen: Gebt dem Hospiz eine Chance. Und wartet nicht zu lange. Wäre Steffi früher dort eingezogen, hätte sie noch viel mehr positive Lebenszeit gehabt.

Daheim heimgehen

Zu Hause sterben – eine tröstliche, geradezu schöne Vorstellung. In der vertrauten Umgebung. Im eigenen Bett. Alle sind anwesend, die Stimmung zwar ernst, aber gleichzeitig ruhig, alles ist gesagt und getan. Jetzt kann er kommen, der Tod.

Romantisch? Unrealistisch? Unerfüllbar? Ein sicher stark idealisiertes Bild, das zunächst als Schwärmerei abgetan werden kann. Doch genau dies ist erreichbar. Allerdings ist eine große Menge an Vorarbeit vonnöten – und zwar von allen in einen Sterbeprozess involvierten Menschen. Je mehr auf dem Weg zum letzten Moment geklärt wurde, je besser alle vorbereitet sind, desto weniger muss »auf den letzten Metern« erledigt werden. Versucht man, sich davor zu drücken, kann es passieren, dass man von dem einen oder anderen Ungeklärten eingeholt wird.

Zunächst einmal müssen sich alle sehr ehrlich darüber klar werden, ob sie den Herausforderungen gewachsen sind. Für den sterbenden Menschen heißt das, sich aufrichtig zu fragen, wen er überhaupt bei sich haben möchte. Will er, dass sein engstes Umfeld alles sieht, was jetzt kommen kann? Dass andere vielleicht seine Schmerzen und seine Ängste miterleben müssen? Kann er durch die Zunahme an Pflegebedürftigkeit zulassen, dass Partnerin, Partner oder die eigenen Kinder den Verlust seiner Selbstständigkeit ausgleichen müssen? Dass sie den Sterbenden waschen, eincremen, anziehen, füttern, zur Toilette begleiten? Ist er bereit, möglicherweise eine neue Rollenverteilung zu akzeptieren, in der er seine frühere Selbstbestimmtheit aufgeben muss, weil andere jetzt bestimmen werden, was »gut« für ihn ist und was unternommen werden soll?

Mit derselben Offenheit sollten die pflegenden Angehörigen ihre Haltung überdenken: Was können sie alles aushalten? Sind sie auch über einen längeren, unabsehbaren Zeitraum belastbar? Haben sie Angst vor der direkten Begegnung mit dem Tod, vielleicht auch, weil sie so ebenfalls mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert werden? Wie viel Überwindung kostet es, den Partner, die Freundin, einen Elternteil zu pflegen? Ist man in der Lage, gegebenenfalls selbst Medikamente zu spritzen? Traut man sich zu, rechtzeitig Nein zu sagen, wenn man an seine Grenzen stößt? Und wen kann man um Hilfe bitten, wenn man feststellt, dass man sie an der einen oder anderen Stelle benötigen würde?

ERSTE ORIENTIERUNG

Persönliche Fragen der Sterbenden oder des Sterbenden an sich selbst, die ehrliche Antworten erfordern

Wie viele Pflegepersonen braucht ein sterbender Mensch?

Grundsätzlich kann man sagen: Je mehr Menschen für die verbleibende Zeit zu Hause zur Verfügung stehen, desto besser – vorausgesetzt, alle ziehen am selben Strang. So kann man sich abwechseln in der Pflege, der Betreuung und den Wachen am Bett des Sterbenden, die speziell in der Endphase natürlich an Bedeutung gewinnen.

Der Zeitaufwand, den die Koordination mit Ärzten und Ärztinnen, den ambulanten Diensten, den Behörden wie dem Medizinischen Dienst und den Krankenkassen mit sich bringt, ist nicht zu unterschätzen. Ebenso können spontane Einkäufe in Drogerie und Medizinfachhandel sowie eine unmittelbare Fahrt zur Apotheke nötig sein, weil sich der Zustand verschlechtert und entsprechende Utensilien und Medikamente gebraucht werden. Kurzum: Ein Mensch kann diese Aufgabe praktisch nicht allein bewältigen.

Abschied von alten Rollen

Insbesondere der Verlust der Intimsphäre ist für alle Beteiligten ein heikler Einschnitt. Sich von seinen erwachsenen Kindern nach dem Stuhlgang gründlich säubern lassen? Seinem eigenen Vater den Penis waschen? Wer noch nie in der Situation war, mag spontan gedanklich »Niemals!« rufen. Und doch schafft man wesentlich mehr, als man zunächst vermutet. Wie so oft im Leben ist die Pflege ein Prozess, in den alle hineinwachsen. Schließlich verlieren Patienten auf dem letzten Weg sukzessive an Kraft und sind mehr und mehr auf die Hilfe anderer angewiesen.

Die gedankliche Nähe zur Geburt zeigt sich hier wieder: Es kann passieren, dass der Mensch sich am Ende des Lebens in seinen Fähigkeiten wieder zum Kleinkind entwickelt. Dass er gefüttert, gewaschen und bekleidet werden muss, manchmal sogar gewindelt. Damit er hierbei so liebevoll umsorgt wird wie ein Baby, müssen alle lernen, diese Rollenumkehrung zu akzeptieren.

Wem das nicht gelingt, für den kann es kompliziert werden, so Prof. Feddersen: »Wer nicht in diesen Rollenwechsel hineinwächst, den stellt die Pflege daheim auf eine harte Probe. Wenn der gestandene Banker es nicht bewerkstelligen kann, jemandem auch nur den Mund abzuwischen, wie soll er seine Frau dann nachts versorgen, wenn sie auf die Toilette muss? Wenn er nicht weiß, wie und wo er sie anfassen muss, damit er ihr nicht wehtut, wie soll er sie nachts drehen, damit sie sich nicht wund liegt? Auf den Angehörigen lastet ein Hauptteil der Aufgaben, sie nehmen die wichtigste Rolle ein. Wenn die Familie es nicht schafft, jemanden zu Hause zu pflegen, dann wird es schwierig mit dem eigenen Heim als Sterbeort – es sei denn, man hat rund um die Uhr eine Pflegekraft, und das muss man sich leisten können.«

Weg ohne Wendemöglichkeit

Maria Lehner, die ihre Mutter bis in den Tod daheim betreute, empfindet diese Erfahrung als ungemein wertvoll. Dennoch rät sie jedem, sich diesen Schritt gründlich zu überlegen: »Man muss sich sicher sein, ob man das wirklich will, denn abbrechen kann man diesen Weg nicht. Das käme einer Totalniederlage gleich, sowohl für die Betroffene oder den Betroffenen als auch für die Pflegende. Der eine hätte das Gefühl, er wäre verstoßen worden, und die andere, sie hätte komplett versagt. Ich bin mir sicher, dass sich so ein Eindruck eingraben würde, genauso wie jetzt die positive Erfahrung für mich Bestand hat.«

Wo man Hilfe findet – Pflegedienste

Das Netz an mobilen Pflegediensten ist groß; hier erhält man Unterstützung bei allen pflegerischen Tätigkeiten. Von Waschen, Lagern, Bekleiden, Nahrungszubereitung und Toilettengang bis hin zu Medikamentengabe und medizinischer Versorgung etwa eines Dekubitus (ein Geschwür, das sich durch Wundliegen bilden kann) – der Leistungskatalog eines Pflegeunternehmens ist breit gefächert und wird in einzelnen Positionen abgerechnet. Je nachdem, ob für den zu Pflegenden ein vom Medizinischen Dienst begutachteter und bewilligter Pflegegrad bescheinigt ist, steht ein entsprechender Zuschuss zur Verfügung.

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In Deutschland gibt es derzeit vier Pflegegrade, von Pflegegrad 1 bis 4. Die Beantragung des Pflegegrades läuft über die Krankenkassen; Sie können den Antrag bei der Pflegekasse telefonisch stellen, dann können Sie aber nicht nachweisen, wann Sie ihn gestellt haben. Besser ist es daher, den Antrag per Fax oder Mail zu schicken: Der bewilligter Pflegegrad gilt rückwirkend ab dem Tag der Antragstellung.

Günstig ist es, im Antrag die »Kombinationsleistung« anzukreuzen. Der Hintergrund: Für bestimmte Aufgaben bekommt der Pflegedienst Geld von der Pflegekasse. Sofern der zur Verfügung stehende Rahmen des Bezugs aber nicht ausgeschöpft wird, kann der restliche Anteil an die Angehörigen, die ja die Pflege leisten, wenn der Pflegedienst nicht da ist (Hilfe beim Anziehen, Toilettengang, Waschen, Unterstützung beim Essen), ausbezahlt werden. Für Familien mit wenig finanziellem Spielraum kann das sogar solch eine Wichtigkeit bekommen, dass man aus finanziellen Gründen einen Pflegedienst ablehnt, da das Geld aus der Pflege im eigenen Haushaltsbudget unabdingbar ist.

Sinnvoll für die Zeit der Pflege kann eine Haushaltshilfe sein, denn der Bedarf an hauswirtschaftlichen Tätigkeiten erhöht sich in den meisten Fällen. Hierzu zählt die Zubereitung von Speisen, die vielleicht püriert werden müssen oder mehrmals am Tag und vielleicht zu ungewöhnlichen Zeiten gewünscht werden, weil jemand plötzlich mitten in der Nacht Appetit bekommt. Es kann sein, dass vermehrt Wäsche zu wechseln ist, sollten Harn- oder Stuhlinkontinenz oder Erbrechen auftreten. Im Haus ist oft Besuch, vielleicht sogar unangekündigt, sodass eine geordnete und saubere Umgebung wünschenswert ist. Badezimmer und WC werden möglicherweise von unterschiedlichen Menschen benutzt, etwa Angehörigen, Besucher*innen, Medizin- und Pflegepersonal; daher ist hier tägliche Reinigung und gegebenenfalls Desinfektion angezeigt. All diese Tätigkeiten sind in der Phase, in der sich ein sterbender Mensch im Haus befindet, für die Angehörigen und/oder Freunde von geringerer Priorität, denn man möchte ja so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. Es ist also überlegenswert, sich hierfür Unterstützung von außen zu holen. Angebote und Informationen gibt es dazu teilweise von Nachbarschaftshilfen, Sozialstationen oder Pflegediensten. Die Bezahlung muss meist selbst geschultert werden.

Ehrenamtliche Helfer

Ebenfalls eine große Entlastung können ehrenamtliche Besuchsdienste sein, wie sie Nachbarschaftshilfen oder Hospizvereine anbieten. Gerade für eine durchgehende Betreuung, die ab einem gewissen Zeitpunkt nötig ist, sollte man sich Beistand holen, sofern die Betreuung zeitlich nicht komplett von der Familie oder Freundinnen und Freunden abgedeckt werden kann. Und wenn es nur die Stunde zum Einkaufen, für den Gang zur Apotheke oder ins Sanitätshaus ist, die man durch den Helfer gewinnt, weil dieser zu Hause parat steht.

Örtliche Hospizvereine bieten ein umfassendes Spektrum an ehrenamtlichen Tätigkeiten durch geschulte Hospizbegleiter in der Sterbephase an, deren Bereitschaft, ihre Erfahrung zu teilen, die Situation erleichtern kann. Dabei wird in einem Erstgespräch anhand von Bedürfnissen und Verfügbarkeit geklärt, welcher Hospizhelfer oder welche Hospizhelferin am besten passen würde. Denn es kommt immer derselbe Hospizhelfer, meist für einige Stunden einmal die Woche, und das bis in die Trauerphase hinein.

GUT ZU WISSEN

Ambulante Einrichtungen

Eine Palliativambulanz …

… richtet sich an Patienten mit palliativmedizinischen Bedürfnissen bzw. Symptomen. Der Kontakt kann schon sehr früh erfolgen, z. B. bei Diagnose einer unheilbaren Erkrankung. Wenn im Verlauf eine Kontrolluntersuchung beim jeweiligen Spezialisten ansteht, kann ein zusätzlicher Termin bei dem oder der Palliativspezialisten*in vereinbart werden, mit der oder dem an einer verbesserten Symptomkontrolle gearbeitet werden kann. Geplante Therapien können mit dem Palliativmediziner aus einem anderen Blickwinkel besprochen werden, Pflegende und Sozialarbeiter*innen können bei Bedarf in spezifischen Fragen unterstützen.

Dauer der Versorgung Sie kann relativ lang sein. Wenn bei fortschreitender Erkrankung ein Transport in die Klinik sehr belastend wird, können ambulante aufsuchende Dienste wie die Allgemeine Ambulante oder Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (AAPV und SAPV) die Weiterversorgung übernehmen.

Wie kann die Versorgung organisiert werden? Die Anmeldung erfolgt mit Überweisung des Hausarztes.

Wer kommt für die Kosten auf? Die Krankenkassen

Die Allgemeine Ambulante Palliativversorgung (AAPV) ist …

… eine Palliativversorgung, die in erster Linie von niedergelassenen Hausärztinnen zusammen mit ambulanten Pflegediensten geleistet wird. Über einen Hospizverein ist eine palliativ geschulte Pflegekraft in die Koordination mit eingebunden. Diese pflegt Kontakt zur Patientin oder zum Patienten je nach Bedarf. Ziel ist, Lebensqualität und Selbstbestimmung von Palliativpatient*innen so weit wie möglich zu erhalten, zu fördern und zu verbessern und ihnen somit ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod in ihrer gewohnten Umgebung zu bieten. Der Großteil der Palliativpatient*innen, die medizinische und pflegerische Versorgung benötigen, kann so ausreichend versorgt werden. Geschulte ehrenamtliche Hospizmitarbeiter werden je nach Wunsch aktiv eingebunden.

Dauer der Versorgung Eine Einbindung sollte möglichst früh erfolgen, spätestens nach Diagnose einer lebenslimitierenden Erkrankung, um Hausarzt und Pflegedienst in palliativmedizinischen Fragen zu unterstützen. Sollten die Symptome komplexer werden und der Versorgungsaufwand steigen, kann auch zu einem späteren Zeitpunkt eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung organisiert werden.

Wie kann die Versorgung organisiert werden? Über den Hausarzt/die Hausärztin oder lokale Hospizvereine

Wer kommt für die Kosten auf? Die Krankenkassen

Die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) ist …

… eine Versorgung von Schwersterkrankten und deren Angehörigen in ihrem eigenen sozialen Umfeld. Die SAPV leistet zu Hause eine spezialisierte Versorgung bei Patient*innen und deren Angehörigen durch ein multiprofessionelles Team bei besonders komplexen und schwierigen palliativmedizinischen Symptomen oder Situationen am Lebensende. Das Team besteht aus Pflegenden, Sozialarbeitern, Psychologinnen, Seelsorgern und Ärztinnen. Die Arbeit beinhaltet spezialisierte palliativärztliche und -pflegerische Beratung einschließlich der Koordination von Versorgungsleistungen bis hin zum individuellen Unterstützungsmanagement. Die Pflege selbst erfolgt, wenn notwendig, durch einen Pflegedienst. Für Patient*innen und Angehörige ist das »Sicherheitsversprechen« einer der wichtigsten Aspekte: Es soll gewährleisten, dass mittels 24-stündiger Rufbereitschaft ein Ansprechpartner telefonisch erreichbar ist, der den Patienten kennt und zu ihm nach Hause kommt, falls notwendig. Somit werden Noteinsätze und Krankenhauseinweisungen vermieden, die nicht im Sinne der Erkrankten wären.

Dauer der Versorgung Sie beträgt im Schnitt vier Wochen, kann aber stark variieren. Ziel ist, ein würdevolles Sterben zu Hause zu ermöglichen.

Wie kann die Versorgung organisiert werden? Die Anmeldung erfolgt über den Hausarzt, eine Fachärztin, das Krankenhaus, den Patienten selbst oder eine Angehörige. Eine Verordnung muss vom Patienten, dessen Hausarzt und dem SAPV-Team unterschrieben werden, bevor sie bei der Krankenkasse eingereicht wird.

Wer kommt für die Kosten auf? Die Krankenkassen

Spezialisten für spezielle Fälle

Um zu Hause sterben zu können, bedarf es nicht zwingend der hoch spezialisierten Versorgung durch ein SAPV-Team. Man kann das – je nach medizinischer Situation – durchaus gemeinsam mit einem niedergelassenen Hausarzt, einem ambulanten Pflegedienst und der Unterstützung durch ehrenamtliche Hospizmitarbeiterinnen und -mitarbeiter schultern. Das SAPV-Team wird dann ins Boot geholt, wenn Komplikationen drohen, die mit einer Versorgung durch die Hausärztin nicht mehr in den Griff zu bekommen sind, etwa:

Das SAPV-Team besteht daher nicht nur aus rein medizinischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern ist multiprofessionell zusammengesetzt: Therapeut*innen, Seelsorger*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen kommen ebenfalls zu Hausbesuchen und erweitern so das Spektrum an Hilfsleistungen für Betroffene in sehr schwierigen Verhältnissen.

Netzwerkpartner des Palliative-Care-Teams

Psychologe*in Führt Gespräche mit Patient*innen und Angehörigen und trägt somit zur Entlastung bei. Ermöglicht dabei neue Blickrichtungen und die Stärkung der einzelnen Familienmitglieder.

Apotheker*in Berät das Team in pharmazeutischen Fragestellungen, speziell nach möglichen Medikamenteninteraktionen, alternativen Applikationsarten und die Verträglichkeit einzelner Medikamente miteinander in Mischpumpen.

Atemtherapeut*in Lindert durch eine Körper-Geist-Anwendung Atemnot und andere belastende Symptome. Ermöglicht das individuelle Erarbeiten innerer Rückzugsmöglichkeiten.

Hausarzt oder Hausärztin Stellt die Verordnung aus, wird in die weitere Therapie mit einbezogen und von palliativmedizinischer Seite unterstützt.

Pflegedienst Führt die notwendigen Pflegeleistungen am Patienten durch, wie z. B. Körperpflege oder Medikamentenabgabe. Dabei wird stets versucht, eine »Bezugspflege« zu gewährleisten, bei der möglichst immer dieselbe Pflegekraft zuständig ist.

Physio-/Ergotherapeut*in Strebt bei fortschreitender Erkrankung eine Erhaltung der Alltagsfunktionen an. Ödeme etwa lassen sich durch manuelle Lymphdrainage effektiv vermindern. Massagen und physikalische Anwendungen können Symptome lindern. Das Ziel eines »Muskelaufbaus«, um wieder »zu Kräften zu kommen«, ist meist unrealistisch und nicht zielführend.

Pumpendienst Organisiert und koordiniert Medikamentenpumpen, wenn der Patient z. B. nicht mehr schlucken kann. Die Gabe kann über den Port oder über eine subkutane Gabe (unter die Haut) erfolgen. Angehörige und Pflegedienste werden in der Handhabung geschult.

Sanitätshaus Stellt erforderliche Hilfsmittel bereit, die ein Verbleiben zu Hause erst ermöglichen, wie beispielsweise Pflegebett, Toilettenstuhl und Badewannenhilfen.

Hospizverein Ermöglicht durch den Einsatz von ehrenamtlichen Hospizhelfern, dass Angehörige wieder Freiräume erhalten, indem sie den Patienten oder die Patientin z. B. regelmäßig besuchen.

Facharzt oder Fachärztin Wird bei speziellen Fragestellungen kontaktiert, um fachspezifische Therapien abzuwägen oder durchzuführen.

Religionsvertreter*innen Unterstützen Patient*innen und Angehörige in seelischen Belangen und Fragestellungen. Zum Teil gibt es hier natürlich Kontakte, die bereits bestehen oder wieder aktiviert werden können. Wenn nicht, können solche Kontakte auch vom Palliativteam hergestellt werden, unabhängig von der jeweiligen Religionszugehörigkeit.

Die Dame »Charly«

Die Historikerin Dr. Maria Lehner lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in einem gemütlichen Haus in einer ruhigen Wohngegend im Münchner Süden, bis Anfang des Jahres 2014 gemeinsam mit ihrer Mutter Charlotte Helbig, 89. Frau Lehner nennt sie nur »Charly«: »So hieß sie sehr lange, eigentlich seit meiner Jugend. Sie war nie so eine typische ›Mutter‹-Mutter, hatte immer gerne junge Leute um sich, und wenn Freunde im Haus waren, hieß es nicht ›deine Mama‹, sondern das war ›die Charlotte‹. Irgendwann wurde Charly daraus, und plötzlich haben alle Charly zu ihr gesagt.«

Seit Charlotte Helbig 85 ist, leidet sie an einem Multiplen Myelom, einer Art Blutkrebs. Sie ist medikamentös gut gegen ihre Schmerzen eingestellt, bis sie eines Morgens ihre Tochter zu sich ruft, wie sich Maria Lehner erinnert: »Es war morgens um halb sechs, und sie meinte: ›So eine Nacht mache ich nicht mehr mit!‹ Die Schmerzen waren einfach unerträglich. Meine Mutter lag schon einmal auf der Palliativstation, und ich hätte sie wieder dorthin gebracht, doch es hieß, eine Aufnahme sei erst wieder in einigen Tagen möglich. Stattdessen gab man uns den Tipp mit dem SAPV-Team.«

Ein Glücksfall, findet Frau Lehner. Denn nach einem Telefonat und dem Faxen der Befunde steht das Team bereits vor der Tür: »Ich war völlig von den Socken, wie rasant das insgesamt ging! Zum einen, wie schnell sie bei uns waren, zum anderen, in welcher Geschwindigkeit Notwendiges organisiert wurde. Das ging mit nur einem Anruf: ›Wir brauchen dies und jenes‹, dann wurde es kurze Zeit später geliefert. Wir hatten auch einen guten, netten Pflegedienst, auf den wir uns immer verlassen konnten. Dennoch: Die Verantwortung liegt letztlich bei einem selbst; und wenn man nicht vom Fach ist, kann das extrem belastend sein. Dafür hatte ich aber eine Telefonnummer mit Experten und Expertinnen, die man rund um die Uhr erreichen kann. Alles in allem war das so beruhigend!«

Charlotte Helbig wird sofort medikamentös umgestellt. Da das Tablettenschlucken zunehmend schwieriger für sie ist, wird über ein kleines Schläuchlein, das unter der Haut liegt, eine Schmerzpumpe angeschlossen. Das Unterhautfettgewebe gibt die Wirkstoffe an die Blutgefäße ab; so gelangen sie in den gesamten Körper, auch an die speziellen Rezeptoren im Gehirn. Ihre Tochter erhält eine Anleitung zur Bedienung der Pumpe sowie eine Telefonnummer, die sie zu jeder Zeit anrufen kann, sollte es Fragen oder Probleme geben. Die äußeren Faktoren sind nun geklärt – die Pflege bestreitet ein ambulanter Dienst, die medizinische Versorgung liegt in der Hand des SAPV-Teams.

Prof. Feddersen hat bei seinen Besuchen immer wieder konkrete Tipps, so Maria Lehner: »Er sagte beispielsweise: ›Geben Sie Ihrer Mutter nur, was sie will. Wenn sie nicht essen will, braucht sie nichts zu essen. Wenn sie nicht trinken will, trinkt sie nichts. Und wenn sie Wodka will, geben Sie ihr einen Wodka!‹ Er erklärte mir, dass wir noch Spielraum bei der Erhöhung der Medikamentendosen haben. Ich konnte mit ihm offen über meine Sorgen reden, etwa, dass etwas Unvorhergesehenes passieren könnte und wir sie doch noch ins Krankenhaus bringen müssten. Das wäre das Schrecklichste gewesen, in erster Linie für Charly, aber natürlich auch für uns!«

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Das SAPV-Team ermöglicht die Begleitung in vertrauter Umgebung.

Charly Helbig wohnt im ausgebauten Dachgeschoss des Hauses. Hell und luftig ist es hier, alles offen, der gesamte Raum mit der hohen, spitzen Decke umfasst Küche, Sitzecke und eine Schlafnische. Von der breiten Fensterfront am Esstisch aus geht der Blick in den grünen, zugewachsenen Garten mit den hohen Tannen. Sie hat sich immer wohlgefühlt hier oben in ihrem Reich, doch jetzt verliert Charly Helbig täglich an Kraft, so ihre Tochter: »Sie artikulierte ganz klar, dass sie nicht mehr mochte. Zusehends wurde sie schwächer, am Ende wollte sie sich überhaupt nicht mehr ins Bett legen, aus Panik davor, nicht mehr selbstständig aufstehen zu können und am Ende bettlägerig zu werden. Also saß sie in ihrem Sessel, Tag und Nacht, und schlief sogar darin.«

Bis sie schließlich eine große Unruhe packt, eine Rastlosigkeit. Sie will weg, weiß aber nicht, wohin. Die Nervosität überträgt sich auf ihre Tochter Maria, die morgens ganz früh aus dem Schlaf hochfährt: »Es war gegen halb fünf, und ich wachte plötzlich auf. Ich bin gleich zu ihr hoch, sie war aus dem Sessel gekippt. Gemeinsam mit meinem Mann habe ich Charly mit Mühe und Not zurückgehievt. Zwei Stunden saß ich bei ihr und habe sie festgehalten, damit sie nicht wieder aus dem Sessel fiel. Das war die Zeit, in der wir uns verabschiedet haben.«

Dass Charly gerne zu Hause sterben würde, war keine Frage. Pflegeheime kannte sie noch aus der Zeit, als sie dort als Fußpflegerin arbeitete. In der allerletzten Phase schließlich fragte Charlotte Helbig ihre Tochter, ob das Heim nicht doch eine Option wäre, doch die Tochter entgegnete: »›Charly, das ist keine gute Idee! Irgendwie packen wir das hier.‹ Wie hätte ich die alte, kranke Frau, die hier ihr ganzes Leben verbracht hat, irgendwohin abschieben können?«

Das Einzige, was für die 64-Jährige problematisch war, ist die ganz persönliche Perspektive: »Wenn man hautnah erlebt, wie jemand so abbaut, sieht man auch sein eigenes Ende vor sich, und das jeden Tag! Das ist natürlich belastend.« Möglicherweise liegt hierin für manche Angehörige der Grund, sich gegen die Pflege zu Hause zu entscheiden. Für Maria Lehner allerdings keine Sichtweise, die ihrem Charakter entspricht: »In dem Moment, in dem ich diese Zusammenhänge erkenne, kann ich sie doch nicht verdrängen! Nein, so bin ich nicht.«

Für Maria Lehner beinhaltet das Sterben ihrer Mutter zu Hause zahlreiche positive Aspekte, die sie nach deren Tod trösten: »Das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, erleichtert! Ich bin Charly nichts schuldig geblieben, sondern lebe mit der Sicherheit, mich anständig verhalten zu haben. Es lief gleichermaßen für uns beide gut: ganz in ihrem Sinne und stimmig für mich.« Unisono sei das die Erfahrung aller, mit denen sie seit dem Tod ihrer Mutter darüber ins Gespräch komme. Jeder, der einen lieben Menschen zu Hause begleitet habe, erzähle das Gleiche: »Alle würden es jederzeit wieder tun und sind in der gleichen Weise damit im Reinen. Und interessanterweise erzählt jeder genau dasselbe über den Verlauf, bis ins kleinste Detail.«

Diesen Aspekt kann Prof. Feddersen nur bestätigen: »Wir haben das Gefühl, dass es den Angehörigen auch in der Trauer hilft, diesen letzten großen Liebesdienst erwiesen zu haben. Trotzdem muss natürlich darauf geachtet werden, dass es zu keiner Überforderung kommt.«