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Vom richtigen Zeitpunkt

Die Frage nach dem Wann stellt sich im Laufe einer schweren Erkrankung immer wieder: Wann werde ich gesund? Wann werde ich wissen, ob es für mich keine Heilung mehr gibt? Wann werden die Therapien keine Verbesserungen mehr bringen? Ab wann kommt man auf eine Palliativstation? Wann sollte man sich ein Hospiz ansehen? Wann muss ich mit meiner Familie reden, wenn ich zu Hause sterben möchte? Wann darf ich überhaupt denken: Ich sterbe? Und: Wann werde ich sterben?

Abfahrtszeit: unbekannt

So häufig die Frage nach dem Wann gestellt wird, so oft wird entgegnet, wie unbeantwortbar sie sei. Schließlich kennt man doch die Geschichten von den Totgesagten, die ihre düstere Prognose um Monate oder sogar Jahre überlebten! Und hört man nicht umgekehrt immer wieder davon, »wie schnell es plötzlich ging«, wo noch niemand damit gerechnet hatte?

Prof. Feddersen wird permanent konfrontiert mit dem bangen »Wie lange noch?« – von Betroffenen ebenso wie von Angehörigen: »Die meisten Mediziner antworten darauf: ›Das können wir nicht genau prognostizieren, das ist zu individuell und zu unterschiedlich.‹ Natürlich ist diese Aussage grundsätzlich richtig; es ist schwer, das genau vorherzusagen! Trotzdem finde ich persönlich das nicht ganz fair, denn als Arzt entwickelt man ein gewisses Gespür dafür, wie es um den Erkrankten steht, und warum sollte man das nicht mit dem oder der Betroffenen und den Angehörigen teilen? Man kann es ja entsprechend vorsichtig formulieren, indem man einen gewissen Zeitraum angibt: ›nur noch wenige Tage‹, ›einige Tage bis Wochen‹ oder ›Wochen bis Monate‹, je nach Situation. Das ist zwar immer noch eine sehr vage Aussage – und doch können Patientinnen und Patienten damit sehr viel mehr anfangen.«

Wie lange noch?

Luise Ganschor stellt sich dieselbe Frage. Immer mal wieder, seit dem Tag im Herbst 2013, als eine Ärztin der 25-Jährigen nach eigentlich überstandener Krebserkrankung mitteilte, dass Lungenmetastasen entdeckt wurden: »Ich konnte in dem Moment gar nicht weinen, so groß war der Schock. Ich habe die Ärztin gleich gefragt, wie man sterben muss. Es war mein erster Gedanke: ›Wie stirbt man daran? Wie schnell?‹ Man weiß ja, dass die Ärzte einem keine Prognose geben können, aber man will eben einfach eine hören! Man will wissen, wovon sie reden: von ein paar Wochen, von einem Jahr, von fünf Jahren?«

Luises Ärztin klärt sie auf, dass niemand direkt an den Metastasen sterben würde. Man könne sich das eher so vorstellen, als würde man einen Marathon nach dem anderen rennen und wäre davon irgendwann so müde und kaputt, dass man sich ins Bett legt. »Sie meinte auch, dass das Gehirn irgendwann nicht mehr mit so viel Sauerstoff versorgt würde, sodass man träge würde und einfach einschliefe.« Für Luise eine sehr beruhigende Erklärung: »Für manche mag das schlimm klingen, aber ich war erleichtert, zu erfahren, dass ich nicht ersticke. Woher hätte ich das denn wissen sollen?«

Luise würde es begrüßen, solche Informationen automatisch zu erfahren: »Ich bin ein Mensch, der die Ärzte ausfragt, ich will alles wissen. Aber es gibt Patienten und Patientinnen, die trauen sich das nicht, und daher wissen sie vieles nicht. Das wäre mir wichtig, dass diese Art der Aufklärung einfach von allein kommt.«

Prof. Feddersen glaubt, manche Kollegen hätten schlicht Angst, etwas Verkehrtes zu sagen und damit falsche Hoffnungen bei den Schwersterkrankten zu wecken. Für ihn erzeugt das aber das genaue Gegenteil: »Mit dem Satz ›Das kann man nicht sagen!‹ lässt man alles offen, und plötzlich stehen eher unrealistische Hoffnungen im Raum.« Er selbst spielt daher manchmal den Ball an die Patientinnen und Patienten zurück: »Wenn ich spüre, eine Person ist ehrlich zu sich, stelle ich ihr die Gegenfrage: ›Was glauben Sie denn? Wie ist Ihr Gefühl?‹« Meist bekommt der Mediziner dann erstaunlich präzise Angaben, die sich nicht selten mit seiner persönlichen Annahme decken: »Da höre ich Antworten wie: ›Ich glaube, meinen Geburtstag in zwei Wochen erlebe ich noch, danach wird es nicht mehr lang gehen.‹ Manchmal sind die Aussagen verwischter; das hängt auch davon ab, wer sich noch mit im Raum befindet. Im Großen und Ganzen haben die Patientinnen und Patienten selbst das beste Gefühl, wie lange es noch dauert. Und meist trifft das erstaunlich präzise zu.«

Hinterm Zeithorizont geht’s weiter

Greta Rose, die ihre schwer krebskranke Freundin Steffi sehr eng begleitet hat, stellte ihr häufig die Fragen: »Hat sich etwas in deiner Wahrnehmung verändert? Spürst du irgendwas?«, doch Steffi entgegnete jedes Mal überzeugt und konsequent: »Nein.«

Steffi, die 33-jährige Mutter eines kleinen Sohnes, ist an Darmkrebs erkrankt. Da der Krebs während der Schwangerschaft nicht entdeckt und erst nach der Geburt diagnostiziert wurde, ist er bereits weit fortgeschritten. Ihr Zeitfenster scheint daher extrem begrenzt zu sein. Und doch überlebt Steffi ihre Prognose um viele Monate. Bis sie ihrer Freundin Greta schließlich an einem Donnerstag im Januar 2014, eineinhalb Jahre nach ihrer Diagnose, eröffnet: »Mein Herz sagt mir, dass ich sterben muss.«

Greta ist heute noch überrascht: »Das war eineinhalb Wochen, bevor sie starb! Ich glaube, sie hat das vorher gar nicht wahrnehmen wollen und einfach ausgeblendet. Erst ganz kurz vor ihrem Tod wurde es wirklich für sie. Vorher war sie nicht in der Lage, es zu akzeptieren, sie hat es vor diesem Tag überhaupt nicht fühlen können, weil sie es einfach nicht wollte! Wer will schon als junge Frau und junge Mama akzeptieren, dass man stirbt? Doch als sie das schließlich realisiert hatte, ging alles ganz schnell. Zwei Tage später stellte sie den Eilantrag fürs Hospiz, ohne dass ich etwas unternehmen musste. Und ich hatte doch vorher immer auf sie eingeredet und zu ihr gesagt: ›Lass uns den Antrag stellen, das wird sonst ganz schön knapp!‹«

Weichenstellungen

Warum erkennt mancher Mensch in dem Moment, wenn er die Diagnose erfährt, dass er daran sterben wird? Warum wollen andere dies auf ihrem Sterbebett noch nicht wahrhaben? Liegt der Schlüssel in der Persönlichkeit? In den Lebensumständen? Sind es religiöse Aspekte?

Dr. Pia Heußner, die als Psycho-Onkologin am Klinikum Großhadern schwer erkrankte und sterbende Patienten betreute, hat beobachtet, dass es manchmal nur eines Moments bedarf: »Wenn der richtige Mensch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort das richtige Gespräch führt, wird vielleicht nur durch eine einzige Begegnung unendlich viel gefördert und in Gang gesetzt. Dass man es in gewisser Weise akzeptieren kann, dass der Lauf der Dinge so ist: Das Leben endet tödlich für jedes Lebewesen. Letztlich ist es ein Weg, den wir alle gehen werden, manche haben länger und manche kürzer dafür Zeit. Vielleicht laufen die einen einfach ein bisschen schneller? Vielleicht brauchen die einen einfach 90 Jahre, und die anderen sind schon nach 25 Jahren angekommen.«

Für Luise Ganschor ist so eine Begegnung im Leipziger Gewandhaus im November 2013. Initiiert von der Klasse K12B der Medizinischen Berufsfachschule des Universitätsklinikums Leipzig findet ein kostenloses Schminken und Fotografieren für Krebspatientinnen statt. Die Schüler hatten im Ethikunterricht das Buch »Nana … der Tod trägt Pink« kennengelernt. Inspiriert durch Nanas Idee und dem von ihr initiierten gemeinnützigen Verein »Nana – Recover your Smile e. V.« wollen sie dies auch Patientinnen in Leipzig ermöglichen. Luise und ihre Mutter Beate gehören zu den Ersten, die an diesem Tag fotografiert werden, mal vor der riesigen Fensterfront mit Blick auf den Augustusplatz, mal auf einer der zahllosen Treppen im Foyer des 1980er-Jahre-Baus.

EINBLICKE

Prof. Berend Feddersen: Der schwebende Elefant

»Oft sagt ein Sterbender, wenn wir unter uns sind: ›Sagen Sie bloß meiner Frau nicht, wie es um mich steht: Ich werde bald sterben.‹ Und die Ehefrau, die uns nach draußen begleitet, flüstert uns zu: ›Mein Mann stirbt bald, bitte sprechen Sie es nicht an!‹ Für uns ist das immer, als ob ein großer, unübersehbarer Elefant im Raum schweben würde. Daher sagen wir in so einer Situation: ›Und jetzt gehen wir nochmal zurück und sprechen alle gemeinsam darüber, über diesen Elefanten im Raum.‹«

Mehrere Fotografen haben ihre Sets aufgebaut, die Stimmung ist heiter, aus allen Ecken dringt fröhliches Geplapper. Das Team aus München ist an diesem Tag ebenfalls dabei, sie möchten sehen, wie Nanas Idee weiterlebt, auch wenn die Vereinsgründerin selbst im Januar 2012 an den Folgen ihrer Krebserkrankung verstarb.

Als Luise und Beate fertig und eigentlich schon am Gehen sind, entwickelt sich noch ein kurzes Gespräch mit Barbara Stäcker, Nanas Mutter. Fast schon im Verabschieden meint Barbara: »Luise, darf ich dich fragen, an was du erkrankt bist?« Und Luise erzählt. Ein Vaginalkarzinom sei es ursprünglich gewesen, und im Sommer hatte man ihr noch gesagt, sie sei krebsfrei, da die Nachsorgeuntersuchungen alle unauffällig waren. Doch leider hatte man »nur unten geschaut«, und jetzt hat sie Metastasen in der Lunge. Luise formuliert klar und gefasst: »Heilung gibt es keine für mich, ich werde jetzt palliativ betreut.« In diesem Moment ist klar, dass sich Mutter und Tochter in genau der gleichen Situation befinden wie Barbara und Nana zwei Jahre zuvor. Viele Worte braucht es jetzt nicht mehr, nur ein Festhalten. Ein paar Minuten stehen die drei dicht beisammen, weinend und wissend, obwohl man sich eigentlich gar nicht kennt.

Kurswechsel

Es ist eine Begegnung, die zahlreiche Prozesse in Gang setzen wird und erstaunliche Ergebnisse zeigt. Luise wird ihre kreative Kraft entdecken, in Fotos, Texten, zahlreichen selbst gedrehten kurzen Internetfilmen. Sie wird mit ihrer Facebook-Seite vielen Mut machen und andere verblüffen, weil sie so gar nicht in das stereotype Bild einer »Sterbenden« passen will.

Am Tag nach ihrer ersten Begegnung schickt Luise eine Mail an Barbara: »Ich habe mir gestern das Nana-Buch gekauft und bin schon bei der Hälfte angekommen. Ich muss beim Lesen viel weinen, aber gleichzeitig oft schmunzeln, denn ich habe manchmal das Gefühl, es geht um mich, das ist total verrückt. Ich sehe so viele Parallelen im Umgang mit der Krankheit. Da ich inoperable Lungenmetastasen habe, hatte ich immer große Angst, daran zu ersticken, eine Angst, die mir meine Ärztin genommen hat. Die Angst, plötzlich nicht mehr da zu sein, nicht zu wissen, wann und wo es passiert, Familie und Freunde zurückzulassen und nicht zu wissen, ob man den nächsten Sommer noch erlebt, die bleibt natürlich. Aber gestern war für mich ein ganz besonderer Moment. Ich hatte keine ›Angst‹ mehr, es war etwas anderes, das ich noch nicht erklären kann, innerhalb von zehn Minuten. Ihr habt uns so viel Kraft gegeben, vor allem meiner Mutti, dafür danke!«

Im Zentrum dessen, was sich für Luise an diesem Tag verändert, steht das Gefühl, nicht die Einzige zu sein: »Von da an hatte ich so etwas wie einen Vergleich. Natürlich findet man es schrecklich und traurig, dass es Menschen gibt, die ebenfalls betroffen sind, aber es tut in dem Moment einfach gut. Man merkt, dass man damit nicht allein ist, sondern da sind noch andere, die offen damit umgehen und das Beste daraus machen.«

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Luise bei einem Fotoshooting mit Barbara Stäcker.

Das Beste daraus zu machen – aus dem Wissen, dass man stirbt? Wie kann das gehen? Luise hat hierzu eine höchst pragmatische Sichtweise: »Niemand weiß, wann er stirbt! Daher sage ich immer: ›Das Gute ist, wir wissen es, denn man tut dann alles bewusster. Und das Doofe ist, wir wissen es!‹«

Beate Ganschor, Luises Mutter, beschreibt es so: »Man lebt intensiver, genießt jede Minute. In den Momenten, in denen man am Boden ist, schaut man sich an, und dann ist es wieder gut. Man lernt, dass es zwischendrin immer wieder Phasen der Besserung gibt, in denen man die ganze Belastung einfach abfallen lassen kann, selbst wenn es nur ein paar Tage oder Wochen sind. Heute schaffe ich es, in diesem Zeitabschnitt auszublenden, was kommen wird.«

Lernen, mit dem Sterben zu leben

Luises Motto lautet: »Wer ständig Angst hat, ändert trotzdem nichts an der Diagnose.« Sie konnte einige ihrer Ängste überwinden, indem sie nichts verdrängte, sondern sich ausgiebig mit Sterben und Tod befasste. Irgendwann war sie in der Lage, diese Gedanken loszulassen und wieder Freude und Spaß zu empfinden. Sie begab sich ganz aktiv auf die Suche nach spannenden, schönen und beglückenden Momenten. Anfang 2014 folgte sie der Einladung einer Freundin zu deren Hochzeit nach Marokko, kurz darauf ging es mit der ganzen Familie nach Venedig. Luise beginnt zu fotografieren und träumt von einer Ausstellung mit Bildern, die ihren ganz persönlichen Blick auf die Krankheit zeigen. Sie besucht Barbara Stäcker in München und wird selbst zum Model.

Natürlich gibt es auch die schlechten Zeiten. Wenn Luise schlecht Luft bekommt und daher mit einem mobilen Sauerstoffgerät unterwegs ist. Wenn sie das Treppensteigen in den fünften Stock zu ihrer Wohnung so sehr anstrengt, dass sie sich gleich nach dem Nachhausekommen erst einmal übergeben muss. Und doch gelingt es ihr, das Reisen nach München zu genießen, mit Biergartenbesuch und Schweinebraten unter freiem Himmel, obwohl zu Hause das nächste Ergebnis der Computertomografie (CT) wartet.

Früher wäre das undenkbar gewesen, so Luise: »Am Anfang habe ich alle Pläne und Aktivitäten rein auf den nächsten Besprechungstermin ausgelegt. Die Gedanken kreisten nur um die neue Auswertung, um zu erfahren, wie es weitergeht. Da wäre ich vor so einem Termin frühzeitig wieder nach Hause zurückgefahren. Inzwischen ist es genau andersherum. Ich denke: Mit dem neuen CT kann alles schon wieder beschissener aussehen, dann genieße ich das lieber bis dahin und bleibe so lange wie möglich weg!«

Wenn Luise das erzählt, klingt es so einfach. Als könne man schlicht mal nicht daran denken: »Oh Gott, ich werde sterben.« Und dann gibt sie zu: »Natürlich denke ich ganz oft: Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Ich sterbe! Man kann das nicht komplett wegschieben.«

Als Luise im Sommer 2014 mit der Facebook-Seite »Chemoelefant aka Klopsi gegen den Krebs« startet, signalisiert sie sofort, dass sie die deutlichen Worte liebt: »Es ist so wichtig, nie den Mut zu verlieren, auch wenn es manchmal aussichtslos erscheint. Fluchen, lachen, weinen, kotzen, im Mitleid versinken – all dies gehört dazu! Auch ohne Haare ist man schön und auch mit Krebs kann man noch ein Bier trinken. Das Leben hört nicht auf!«

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»Vor ungefähr einem Jahr wurden meine Lungenmetastasen mit knapp fünf Zentimetern gefunden. Ein ganzes Jahr ist das schon her, und ich bin immer noch da, ist das nicht geil? Zeit ist wohl das Faszinierendste am Leben überhaupt.«

Luise auf ihrer Facebook-Seite, 30.9.2014

Luise schafft es, Momentaufnahmen ihres Alltags so akzentuiert auf den Punkt zu bringen, dass man mit ihr heult, wenn sie um einen verstorbenen Freund weint, mit ihr bangt, wenn ein Untersuchungstermin ansteht, und sich über sie amüsiert, wenn sie für eine Freundin zum Playback von »Happy Birthday« herzzerreißende Grimassen schneidet wie ein Showstar. Mit ihrer entwaffnenden Ehrlichkeit berührt sie mittlerweile eine ganze Fangemeinde.

Der Name »Chemoelefant« bezieht sich auf ihr Bein, das nach ihrer großen Unterleibsoperation 2012 aufgrund von Lymphproblemen dauerhaft geschwollen ist. Es ist bezeichnend für sie, die unschönen Gegebenheiten einfach mit Humor zu nehmen.

»Hallo, ich bin Luise und habe den Krebs satt!«

Ihre Facebook-Seite ist voll bunter Fotos, die ihre Gefühlslage spiegeln. Als sich die Anzahl ihrer Likes der 2000er-Marke nähert, kündigt sie an, »sich nackig zu machen«, sobald die Zahl geknackt würde. Prompt muss sie ihr Versprechen einlösen, und tags darauf sieht man Luise oben ohne durch einen herbstlichen Wald laufen. Natürlich von hinten. Mal ein Partywochenende in Berlin, mal eine Vernissage im Universitätsklinikum Leipzig. Ausgestellt werden dort u. a. Fotos mit Luise als Model sowie Bilder, die sie selbst fotografiert hat. Sie organisiert einen Dreh mit einer Filmcrew, das Thema: »Ein Tag im Leben einer Krebspatientin« im Schnelldurchlauf. Vom Aufstehen über den ersten Blick in den Spiegel ohne Schminke, dann durch die Chemohölle und das Warten danach auf ein Taxi bis zum Abend, wenn Luise perfekt gestylt ihre Freunde trifft und den Satz hört: »Du siehst ja gar nicht so krank aus!«

Luise will Bewusstsein schaffen für die Gleichzeitigkeit von Schmerz und Freude, von Mut trotz Wut und von Schönheit in der Trostlosigkeit. Luise lebt. Intensiv und sehr facettenreich und seit mittlerweile mehr als einem Jahr mit der Gewissheit, eine »palliative Patientin« zu sein. Aktuell erhält sie als palliative Therapie eine experimentelle Bestrahlung mit dem Ziel, das Wachstum der Metastasen in ihrer Lunge zu reduzieren, auch wenn diese damit nicht komplett eliminiert werden können.

AUF EINEN BLICK

Palliative Therapien wie die palliative Chemotherapie oder palliative Bestrahlung sind Therapieverfahren, die eine Symptomverbesserung zum Ziel haben und nicht auf Heilung (kurative Therapie) ausgerichtet sind. Dabei geht es z. B. darum, Symptome wie Schmerzen oder Atemnot durch eine Verkleinerung des Tumors oder der Metastasen zu verbessern.

Luise hat durchaus ihre Probleme mit dem Stempel »palliativ«: »Ich tue mich mit diesem Begriff schwer. Stets so knallhart damit konfrontiert zu werden, wenn man auf seinem Befund ›palliative Chemotherapie‹ liest. Da macht es klick: Palliativ ist gleich Sterben! Natürlich bin ich mir vom Kopf her darüber im Klaren, dass es nicht so ist, und trotzdem wird mir in dem Moment erst mal jede Hoffnung genommen.«

Die widersprüchlichen Gefühle, die der Begriff bei den Patienten und Patientinnen auslöst, sind auch unter Medizinern Thema, so Prof. Feddersen: »Einige Kollegen versuchen, den Begriff ›palliativ‹ in Arztbriefen zu vermeiden, und schreiben stattdessen: ›best supportive care‹, also bestmögliche unterstützende Maßnahmen. Mir persönlich gefällt diese Verenglischung nicht. Und bestmögliche unterstützende Maßnahmen wünsche ich mir auch nach der Operation eines Bänderrisses. Ich denke, wenn wir in den Köpfen ändern können, dass ›palliativ‹ nicht nur bedeutet, die Sterbephase zu begleiten, sondern schon möglichst früh im Krankheitsverlauf die Lebensqualität zu verbessern, kommen wir einen großen Schritt weiter.«

Ansichten eines Reisebegleiters

Schwersterkrankte und Sterbende auf ihrem Weg zu begleiten ist eine Herausforderung. Würde man es mit einer echten Reise vergleichen, könnte es eine Kreuzfahrt in stürmischen Gewässern sein. Unterwegs drohen meterhohe Wellen, und doch schließt sie ab mit der sanften Einfahrt in einen stillen Hafen. Oder ist es eher die Besteigung des Mount Everest, mit Winden, Schneesturm, dünner werdender Luft, wo am Ende der Blick vom Dach der Welt wartet? Jeder und jede Reisende wird diesen einen Weg allein finden und beschreiten müssen. Doch manchmal kann ihnen ein geübter Führer helfen, der einige der Pfade kennt, und dem sie vertrauen können.

Die fünf Grundprinzipien palliativer Arbeit

Von Professor Berend Feddersen

Einige Grundprinzipien können einem Reisebegleiter dabei helfen, Sterbende auf ihrem letzten Weg gut zu führen:

1. Die veränderbaren und die nicht veränderbaren Welten

Schlüsselfrage: »Kann ich ein Problem lösen?« Um dies beantworten zu können, muss man zunächst herausfinden, zu welcher der Welten die Fragestellung an sich zählt: Gehört sie der »veränderbaren« oder der »nicht veränderbaren« Welt an? Habe ich überhaupt eine Chance, Einfluss darauf zu nehmen? Daraus ergeben sich dann drei mögliche Handlungsstränge:

Zwei Beispiele: Eine Patientin mit einem Pankreaskarzinom (Bauchspeicheldrüsenkrebs) sprach immer »von ihrem Freund, dem Karzinom«. Ich fragte sie: »Warum ist der Tumor, an dem Sie versterben werden, Ihr Freund?« Worauf sie entgegnete: »Das ist die einzige Möglichkeit für mich, damit umzugehen, damit er mich nicht unterkriegt. Würde ich die ganze Zeit gegen ihn ankämpfen, würde ich meine Kraft verlieren.« Sie hatte erkannt, dass ihre Erkrankung zur nicht veränderbaren Welt zählt. Sich davon abwenden (leave it) ging nicht, also musste sie sie annehmen (love it). Für die Patientin eröffnete sich so eine Ressource, um Kräfte einzusparen.

Wenn ich bei Intensivkrankenschwestern Palliative Care unterrichte, höre ich oft die Klage: »Es ist so furchtbar! Die Ärzte behandeln Patienten und Patientinnen um jeden Preis, mit allen Mitteln, obwohl wir schon längst wissen, es bringt nichts mehr. Damit werden sie doch mehr gequält, als dass es ihnen hilft!« Ich frage dann: »Ist es veränderbar oder nicht veränderbar?« Die Reaktionen darauf sind recht unterschiedlich und mitunter geprägt von den philosophischen Standpunkten jedes Einzelnen sowie der Werteausrichtung der gesamten Intensivstation. Sollte sich das Anliegen in der Folge als nicht veränderbar herausstellen, muss ich mir als Pflegekraft überlegen, ob ich dort unter diesen Bedingungen weiterarbeiten will und es akzeptiere (love it) oder eben nicht und mich woanders bewerbe (leave it). Sobald ich aber das Gefühl habe, es bestünde die Chance, den Zustand zu verändern – beispielsweise durch klärende Gespräche –, muss ich auch versuchen, ihn zu ändern (change it).

2. Der Baum

Schlüsselfrage: »Wie gefestigt bin ich?« Ein Baum besteht aus drei Teilen: den tief verankerten Wurzeln, dem starken Stamm und den sich im Wind bewegenden Ästen und Zweigen. In meiner Palliativarbeit stehen die Wurzeln für meine eigenen Werte. Diese Wertvorstellungen müssen sehr fest verankert sein, denn wenn daran gerüttelt wird und ich daraufhin meine eigenen Wertvorstellungen aufgäbe, wäre ich entwurzelt. Der Stamm ist mein Rückgrat, es symbolisiert das, wofür ich ganz persönlich stehe. Da ich mir selbst treu bleiben will, ist auch das nicht verhandelbar. Was ich aber anpassen kann an die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten, das sind die Zweige. Sie sind keinesfalls starr, sondern beweglich und formbar. Mit ihnen kann ich auf die Wünsche der Schwersterkrankten eingehen.

Ein Beispiel: Nehmen wir an, es handelt sich um einen Patienten, der schon lange an einer Tumorerkrankung leidet. Er sagt, er könne den Tod nicht akzeptieren, und bittet mich, ihn zu reanimieren, wenn er stirbt. Dieses Ansinnen würde ich rundherum ablehnen, denn es würde meine Wurzeln, meine eigenen Werte verletzen. Vielleicht erzählt er mir von einer Therapie, von der ich weiß, dass sie ihm keinerlei Nutzen bringen, sondern seinen Zustand eher verschlechtern würde. Der Patient bittet mich, ihm diese trotz fehlender Indikation zukommen zu lassen. Dies würde ich ebenfalls nicht tun, denn das würde meinen Stamm verletzen: Ich stehe für eine andere Versorgung.

Wenn der Patient mich allerdings bittet, ihn bei seinen Plänen zu unterstützen, in seiner Heimat sterben zu können, würde ich ihm bei der Organisation helfen – selbst wenn ich weiß, dass die medizinische Versorgung dort eher unzureichend ist und dies mit einer Symptomverschlechterung verbunden sein könnte. Der Patient hat damit meine Zweige angesprochen, die mit seinen individuellen Bedürfnissen mitgehen können.

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Prof. Berend Feddersen im Gespräch mit seinem Patienten Wolfgang Hepperle, der an Krebs erkrankt ist.

3. Unterschiedliche Sichtweisen

Schlüsselfrage: »Wo stehen wir?« So individuell wir Menschen sind, so unterschiedlich sind unsere Blickwinkel. Was auch immer unsere Werte, Meinungen und Neigungen prägt und wie wandlungsfähig sie über die Jahre sein mögen, sie sind ein elementarer Bestandteil dessen, wie wir unsere Welt erleben, wahrnehmen und interpretieren. So ist es kaum verwunderlich, wenn die Betrachtungsweise Betroffener völlig von der des Behandlungsteams abweicht. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss ich also versuchen zu verstehen, welche Sichtweise mein Gegenüber hat. Søren Kierkegaard sagte einmal: »Wenn wir beabsichtigen, einen Menschen zu einer bestimmten Stelle hinzuführen, müssen wir uns zunächst bemühen, ihn dort anzutreffen, wo er sich befindet, und auch dort anfangen. Wenn ich wirklich einem anderen helfen will, muss ich mehr verstehen als er, aber zuallererst muss ich begreifen, was er verstanden hat. [...] Jede wahre Kunst der Hilfe muss mit einer Erniedrigung anfangen.«

Ich bin in meinen Positionen gegenüber Patientinnen und Patienten immer sehr ehrlich. Ein Beispiel: Wenn ein Patient äußert, er glaube, er werde noch mehrere Jahre leben, ich dagegen eher von wenigen Wochen ausgehe, haben wir unterschiedliche Sichtweisen. Ich könnte also entgegnen: »Ich bin der Arzt, machen Sie sich keine Hoffnungen, ich weiß, dass Sie nur noch wenige Wochen zu leben haben!« Da ich mit meiner Aufrichtigkeit den Patienten keinesfalls verletzen möchte, argumentiere ich lieber über mein Gefühl: »Sie glauben, dass Sie noch mehrere Jahre leben werden? Ich kenne Sie noch nicht so lange, aber ich glaube, dass der Krankheitsprozess schneller voranschreitet. Ich habe das Gefühl, es könnten eher nur noch wenige Wochen sein.« Damit stülpt man dem anderen keine Wahrheiten über, sondern beschreibt eine andere Sichtweise: »Sie haben Ihre, ich habe meine.«

4. Impftheorie

Schlüsselfrage: »Was kann auf einen zukommen? Was wäre das Worst-Case-Szenario?« Was ist schlimmer: Sich auszumalen, was an Schrecklichem auf einen zukommen könnte, um dann erstaunt festzustellen, dass vieles davon gar nicht eingetreten ist? Oder davon auszugehen, dass keine besonderen Schwierigkeiten auftauchen, um dann vielleicht mit voller Wucht von ihnen getroffen zu werden?

Die sogenannte Impftheorie arbeitet mit Variante eins: jemanden frühzeitig mit den negativen Aspekten zu »impfen«, um damit das Gewicht des Negativen zu reduzieren. Deshalb mache ich meinen Patienten und Patienten nichts vor: »Es kann sein, dass wir es nicht schaffen, Ihre Schmerzen komplett verschwinden zu lassen. Aber wir geben unser Bestes, sie so zu reduzieren, dass sie erträglich werden.« Wir können keine Schmerzfreiheit garantieren, auch wenn dies teilweise so kommuniziert oder verstanden wird. Insofern ist es aufrichtiger, diesen Umstand schon vor Beginn der Therapie anzusprechen – die Erwartungshaltung ist dann eine ganz andere, sollte tatsächlich keine komplette Schmerzfreiheit eintreten.

Ähnlich verhält es sich mit der Machbarkeit des »sanften Sterbens«. Oft begegnet mir die Haltung: »Wenn der Patient oder die Patientin schon palliativmedizinisch betreut wird, muss es doch gelingen, ihm allen Stress, alle Unruhe und Angst zu nehmen, damit er ganz entspannt einschlafen kann!« Unruhezustände am Lebensende kommen relativ häufig vor und können von den Angehörigen als sehr quälend empfunden werden. Formuliert man das im Vorfeld und »impft« die Angehörigen, sind sie darauf vorbereitet: »Wir werden alles tun, um bis zum Schluss eine bestmögliche Symptomkontrolle zu erreichen. Trotzdem kann es sein, dass der Sterbende Phasen durchlebt, in denen er unruhig und verwirrt ist. Das ist ganz normal.«

Man muss sich immer vor Augen führen, dass Sterbeprozesse sehr unterschiedlich sein können. Jeder lebt sein eigenes Leben und stirbt seinen eigenen Tod. Vielleicht zeigt sich am Lebensende sogar ein gewisser Gleichklang von beidem: Man stirbt ähnlich, wie man gelebt hat.

5. Reflexion

Schlüsselfrage: »War das jetzt gut oder schlecht?« Man lernt aus seinen Fehlern. Und natürlich aus seinen Erfolgen. Doch um herauszufinden, ob es das eine oder andere war, bedarf es des Nachdenkens und Betrachtens. Die Reflexion, die Auseinandersetzung mit der Realität, ist essenzieller Bestandteil meines Berufs. Zunächst die Selbstreflexion: »Was lief bei mir in dieser Begleitung gut? Was nicht? Woran kann es gelegen haben?«, dann die Teamreflexion, bei der diese Fragen mit den beteiligten Teammitgliedern besprochen werden: »Haben wir gut zusammengearbeitet? Wo klappte es nicht so gut?«

Und schließlich die Reflexion durch Externe in der sogenannten Supervision. Diese wird in regelmäßigen Abständen in palliativmedizinischen Teams durchgeführt, wie übrigens auch in vielen anderen medizinischen, sozialen, pädagogischen und therapeutischen Bereichen. Durch einen außenstehenden Beobachter eröffnet sich die Möglichkeit, eine neue Sichtweise auf unsere Arbeit und Verhaltensweisen aufgezeigt zu bekommen. Dazu ein Merksatz aus der Positiven Psychologie: »Erfahrung allein macht nicht klüger; es ist die Reflexion von Erfahrungen.«

In Zukunft werden die Bestrebungen, die sogenannte Ergebnisqualität (Outcome) zu messen, weiter zunehmen. Anhand von standardisierten Fragebögen, die Patient*innen, Angehörige oder die in der professionellen Versorgung Tätigen ausfüllen, sollen sowohl versteckte Problemfelder bei Kranken erkannt werden als auch abbilden, wie effektiv bestehende Probleme bereits verbessert wurden.

Wahlfreiheiten

Wie würde man sich fühlen, wenn man aller Optionen beraubt wäre? Nicht die geringste Möglichkeit zum Wählen hätte? Noch nicht einmal mehr über die Menge und Art des eingenommenen Essens und Trinkens, den Zeitpunkt des Toilettengangs, die Uhrzeit, wann man schlafen geht und wann man geweckt wird? Was nach einer Entführung oder einem Gefängnisaufenthalt klingt, ist leider für manche stark Pflegebedürftige harte Realität. Andere entscheiden, was einem in den Mund geschoben wird – egal, ob Essen oder Schlaftablette. Sie setzen einen auf den »Topf«, wann es in deren Zeitplan passt. Sie reißen einen unsanft aus dem Schlaf, ziehen einem die Kleider vom Leib und reiben einen mit einem meist viel zu kühlen Waschlappen ab.

Da können Angehörige und professionell Pflegende noch so behutsam und taktvoll im Umgang mit dem Betroffenen sein: Sobald man die Kontrolle über seinen Körper verliert, büßt man gleichzeitig einen Teil seiner Würde ein. Natürlich meint es keiner böse, wenn es der Zeitplan der Pflegeambulanz nicht anders zulässt, als ausgerechnet in einer Tiefschlafphase der Patientin einen Dekubitus, also ein Druckgeschwür, zu versorgen. Niemand hat wirklich die Absicht, seinen Vater zu quälen, nur weil man mal wieder versucht, ihm gegen seinen Willen seine Lieblingssuppe einzuflößen. Und die Heizung läuft doch auf Hochtouren – warum sitzt Oma trotzdem zitternd auf dem Toilettenstuhl?

Im Gespräch mit in Palliative Care tätigen Menschen taucht ein Begriff immer wieder auf: »Option«. Denn je kleiner die Welt am Ende wird, je mehr der Einfluss eines Menschen auf das, was um ihn herum passiert, schwindet, umso wichtiger sind die winzigen, banalen und gleichzeitig bedeutsamen Entscheidungen. Möchte ich jetzt etwas essen? Oder später? Möchte ich das rosa Nachthemd anziehen? Oder gar keins? Möchte ich jetzt meine Lieblingsmusik hören? Oder kann ich die nicht mehr ertragen, weil sie mich an vieles erinnert, was ich hinter mir lassen werde?

Alles offen – bis zum Schluss

Im Hospiz Nordheide in Buchholz, Landkreis Harburg, weiß man, dass man immer mit allem rechnen muss. Sonja Euhus, die stellvertretende Pflegedienstleiterin, erinnert sich an eine ältere Dame: »Bevor sie bei uns einzog, verabschiedete sie sich von der gesamten Familie: ›Ich gehe jetzt ins Hospiz, und diesen Weg mache ich ganz allein.‹ Das dachte sie, bevor sie zu uns kam. Doch nachher kam alles anders, und sie verbrachte hier noch eine tolle Zeit mit ihrer Familie. Von unserer Seite wird so eine Position respektiert. Dann sieht man schon, wie sich die Dinge entwickeln.«

Im Hospiz Nordheide kann sich ein Patient sogar überlegen, noch einmal stationär in die angeschlossene Klinik zu gehen – am Ende des langen, hellen Flurs öffnet sich eine Tür direkt in das Krankenhaus Buchholz. Es gehört hier mit zur gelebten Grundregel: »Ich entscheide, und zwar bis zum Schluss!« Bisweilen machen Gäste im Hospiz davon tatsächlich Gebrauch, etwa für eine Ultraschalluntersuchung oder eine Behandlung nach einem Sturz.

Dass ein Sterbender nicht jede Hoffnung fahren lassen muss, wurde sogar in einer »Deklaration der Menschenrechte Sterbender« festgelegt. Hier ist u. a. zu lesen: »Ich habe das Recht, stets noch hoffen zu dürfen – worauf immer sich diese Hoffnung auch richten mag.«

Worauf hoffen Sterbende? Auf ein Wunder? Natürlich, so die Psycho-Onkologin Dr. Pia Heußner, seien die wenigsten Sterbenden so naiv: »Jemand mit schwerstem Erkrankungsverlauf, der wahrnimmt, wie sein Körper stetig schwächer wird und die Körperfunktionen zunehmend unzuverlässiger werden, glaubt nicht, dass er am nächsten Morgen die Augen aufschlägt, und alles ist wieder gut! Wir sehen nur in den seltensten Fällen, dass Menschen ihre Situation bis zum letzten Atemzug verleugnen.«

Die viel größere Gruppe von Patient*innen habe durchaus eine realistische Wahrnehmung, so die Medizinerin. Die Hoffnung ziele etwa darauf ab, dass es ein schöner Weg wird. Dass die Angehörigen es nicht zu schwer nehmen. Dass die Schmerzen gut gelindert werden ohne zu große Müdigkeit. Dass ein wichtiger Mensch, der noch Zeit für die Anreise braucht, rechtzeitig eintrifft. Dr. Heußner fügt lächelnd hinzu: »Oder Patienten hoffen, dass jetzt endlich das Vanilleeis mit Erdbeeren kommt, das sie sich schon seit Tagen wünschen, nur leider haben es die ›dummen‹ Angehörigen bisher einfach nicht verstehen können!«

GUT ZU WISSEN

Deklaration der Menschenrechte Sterbender

Sie entstand während des Workshops »Der Todkranke und der Helfer« in Lansing/Michigan (USA) und ist abgedruckt in der Broschüre »Zu Hause sterben«, herausgegeben von Anne Busche und Johann-Christoph Student, Hannover 1986.

Ich habe das Recht,

Der Zeit angepasste Ziele

Prof. Feddersen, der seine Patientinnen und Patienten im Optimalfall bereits in einer frühen Phase kennenlernt, in der sie mobil und noch nicht so extrem auf Hilfe angewiesen sind, kommt schon mal in die Situation, einen aufwendigeren Wunsch zu erfüllen: »Gemeinhin denkt man, ein Sterbender wolle unbedingt noch einmal in den Urlaub fahren. So etwas wird durchaus geäußert, allerdings bei Weitem nicht so häufig, wie man vielleicht vermuten würde. Wenn es tatsächlich für jemanden zur Option wird, versuchen wir selbstverständlich, das mit allen Mitteln zu realisieren.« Manche Reiseplanung musste Prof. Feddersen schon beschleunigen: »Eine Patientin wollte unbedingt noch mal in die Bretagne und erzählte, die Familie habe für den Herbst dort ein Haus gemietet. Wir erläuterten ihr daraufhin, dass diese Reise nur sinnvoll sei, wenn sie schnellstmöglich fahren würden, denn nur bei guter Lebensqualität könne sie den Aufenthalt genießen.« Die Familie fuhr also kurzfristig nach Frankreich, und Prof. Feddersen regelte im Vorfeld die medizinische Versorgung: Er telefonierte mit den Palliativzentren in der Nähe, besorgte französische Notfallnummern und organisierte, dass es an der Grenze keine Probleme mit den Opiaten geben würde, die die Patientin mit im Gepäck hatte. Diese umfangreiche Vorsorge erwies sich als notwendig, so Prof. Feddersen: »Tatsächlich verschlechterte sich der Zustand der Patientin vor Ort, doch da die Versorgung mit den französischen Kollegen bereits geklärt war, konnte alles so weit geregelt werden. Als sie zurückkam, war sie noch drei, vier Tage auf der Palliativstation und ist dann verstorben. Für uns war es schön, dass man ihr diesen Wunsch noch hatte erfüllen können.«

Dennoch warnt Prof. Feddersen vor zu hochgestochenen Zielen beim Unterfangen, einen Sterbenden »noch mal glücklich« zu machen: »Einmal erzählte mir eine Patientin sehr eindringlich: ›Herr Doktor, was soll ich nur tun? Meine Freundin will, dass wir jetzt lauter tolle Sachen unternehmen, und ich habe den Druck, dass ich mich ständig darüber freuen muss!‹ Oder Freunde überlegen sich als Überraschung: ›Jetzt noch mal in ein schönes Konzert!‹ Aber eigentlich ist dem oder der Beschenkten kotzübel, er oder sie hat keinerlei Lust darauf, und zudem ist ihm oder ihr das alles viel zu emotional. Wir raten daher Angehörigen und Freunden immer, gut aufzupassen und die Antennen auszufahren. Nicht mit unseren Augen die Situation zu betrachten. Nicht wir definieren, was jetzt eine gute Option zu sein hat, sondern nur der Patient selbst.«

Im Hospiz Nordheide spielen die »letzten großen Wünsche« eine eher kleine Rolle. Sonja Euhus meint, es komme zwar ab und zu vor, dass ein Hospizgast z. B. ein Konzert besuchen oder noch einmal ans Meer fahren wolle, aber oft sei das nicht der Fall: »Ein häufiger Wunsch, den wir hören, ist, dass jemand noch mal kurz heim möchte, in seine Wohnung, sein Haus – nur zum Schauen, und dann ist es auch gut. Oft hat ein Gast das Bedürfnis, so etwas einfach zu artikulieren: ›Was würde ich tun, wenn ich mir jetzt etwas wünschen dürfte? Was würde mir einfallen?‹ Dass es in dem Moment aber wirklich nur um das Aussprechen geht, zeigte sich beispielsweise bei einem Herrn: ›Ach, Helgoland oder noch mal auf die Hamburger Reeperbahn, das wär’s!‹ Als wir dann mit ihm konkret einen solchen Ausflug planen wollten, entgegnete er: ›Nein, schon gut. Aber, dass ich das mal sagen konnte und es überhaupt jemanden interessiert hat, das war toll!‹«

In der Tat reichen für große Pläne häufig die Kräfte nicht mehr. In der wenigen verbleibenden Zeit können und wollen die meisten nichts mehr außer ihre Zeit und Ruhe dafür haben, sich mehr und mehr in sich zurückzuziehen.

Aufgeschoben = aufgehoben

Gäbe es vorher nicht bessere Gelegenheiten? Wenn jemand fit genug ist, einen Ausflug, eine Veranstaltung, ein schönes Essen nicht nur durchzustehen, sondern auch zu genießen? Prof. Feddersen beobachtet, dass über Pläne geredet wird, ohne sie zu realisieren: »Dann hören wir: ›Wenn es besser wird mit dem Gehen, machen wir einen Ausflug.‹ Es ist aber klar, dass die Gehfähigkeit keinesfalls besser wird und man froh sein muss, wenn sie stabil bleibt. Wenn jemand Aktivitäten plant und dann aufschiebt, steckt oft ein Schutzmechanismus dahinter: Man müsste sich eingestehen, dass keine Besserung zu erwarten ist. Wir versuchen, wenn so eine Idee zur Sprache kommt, den Patienten zu animieren, nicht zu warten – sofern sie ihm wirklich wichtig ist.«

Denn da man nie weiß, wie sich Krankheit und Symptome ändern, sollte man »Events« auch aus spontanen Ideen heraus nicht auf die lange Bank schieben.

Ein Fest des Lebens

Luise Ganschor in Leipzig muss sich im Sommer 2014 bei nur wenigem fragen, ob sie dazu noch in der Lage ist. Zugegeben, einen Berg zu besteigen, würde schwierig. Und von einer Flugreise in einen abgelegenen Teil der Erde ohne ausreichende medizinische Versorgung würde ihr jeder abraten. Aber nicht von einer Bootsfahrt. Einem Picknick mit Freundinnen. Oder einem ausgiebigen Spaziergang mit ihrem Riesenschnauzer Frieda. Natürlich gibt es auch Tage, an denen daran keinesfalls zu denken ist.

An einem solchen Tag im Juni postet Luise auf Facebook: »Es wäre traumhaft schön, wenn mal wieder ein paar Konzerte draußen stattfinden würden … mir fehlt die Musik … leider kann ich in keine geschlossenen Räume wegen des Qualms. Also, liebe Bands, wollt ihr nicht mal wieder draußen spielen?«

Die Münchner Band »The Incs«, die davon erfährt, wäre zu einem Privatkonzert sogar bei Luise zu Hause sofort bereit. Die Bandmitglieder haben diverse eigene Berührungspunkte mit Krebs: Die Tochter des Gitarristen Dave Sepulveda, Nadine, ist an Darmkrebs erkrankt. Yuzo Konishi, ebenfalls Gitarrist, ist gerade das dritte Mal krebsfrei. Franziska Schwendemann, deren Vater vor zehn Jahren an Magenkrebs erkrankt war, sang damals bei einem spontanen Konzert für ihn in der Klinik. Es war zur Weihnachtszeit, auf den Fotos sieht man Franziska vor einem geschmückten Baum, daneben ihren Vater im Krankenhaushemd, den Infusionsständer an der Seite; er begleitet seine Tochter am Keyboard.

Die Band möchte Luise auf jeden Fall besuchen, und so wird sie gefragt, ob sie sich ein Konzert in ihrer Wohnung überhaupt vorstellen könnte. Luise erteilt dem Projekt begeistert ihren Segen. Und dann passiert erst einmal länger nichts. Zumindest nichts, von dem Luise weiß. Denn immer mehr Freunde erfahren von der Idee und wollen helfen, sie zu realisieren. Schließlich ist klar: Ihr Apartment wäre schon längst zu klein für alle, die dabei sein wollen. Das Café »Süß und Salzig« in Luises Straße bietet Räume und verbilligte Preise an. Das A&O Hotel Leipzig ist bereit, für das Team aus München die Übernachtungskosten zu übernehmen. In München wird eifrig Geld gesammelt, denn das Fest für Luise soll für alle Gäste kostenlos sein.

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Luise Ganschor und ihre Mutter Beate.

Als für dieses Buch Anfang September 2014 Interviews mit Luise entstehen, ist die Überraschungsparty im Gepäck dabei. Luise tritt durch die Tür des Cafés, und die Band beginnt zu spielen. Ein Moment, in dem praktisch alle anfangen zu weinen. Tränen der Trauer, weil alle wissen, dass sie Luise irgendwann verlieren werden. Tränen der Freude darüber, dass sie noch immer da ist. Barbara Stäcker sagt in ihrer Ansprache, dies sei ein Tag, das Leben zu feiern, jetzt in diesem Augenblick. Die Tränen zu Beginn der Party waren übrigens die einzigen an diesem Tag. Danach wurde nur noch geredet, gefeiert und gelacht.

Offene Worte – wann und wie?

Ein Gespräch mit der Psycho-Onkologin Dr. Pia Heußner

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod scheint im Verlauf der Erkrankung eine wichtige und gleichzeitig schwere Rolle zu spielen. Vieles wird zwar vermutet, aber nicht ausgesprochen. Was hilft, den richtigen Moment zu erkennen?

Naturgemäß haben viele Betroffene eine Scheu vor diesem Moment, denn vielleicht möchten sie gar nicht so genau wissen, wie lange sie noch leben werden. Auf der anderen Seite habe ich die Erfahrung gemacht, dass es für viele Patienten irgendwann eher eine Zeit der Qual ist, wenn sie das Thema ewig vor sich herschieben. Gefühlsmäßig haben sie bereits eine innere Sicherheit, können es aber nicht nach außen kommunizieren, weil es noch nicht angesprochen wurde. Spürbar ist dies, wann immer einen Gedanken beschäftigen wie: Wird meine Erkrankung heilbar sein? Bin ich skeptischer als früher, dass eine Heilung für mich in Aussicht steht? Dann wäre ein guter Moment, zu überlegen, welchen Gesprächspartner man ins Vertrauen ziehen könnte.

Und wann ist für Angehörige der richtige Zeitpunkt?

Das ist oft fast noch schwieriger. Primär sollte ja der Betroffene selbst die Fäden in der Hand halten und somit die Entscheidung treffen dürfen, wann er dieses Thema ansprechen möchte. Wenn also Angehörige zu mir kommen und den Wunsch äußern, Fragen stellen zu dürfen, die der Betroffene selbst eigentlich gar nicht hören möchte, haben wir ein Problem. Da wir hierbei das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und ebenso das des Angehörigen wahren müssen, kann dies zu Konflikten zwischen beiden führen. Wenn jemand sagt: »Das ist meine Krankheit, und ich allein entscheide darüber, welche Informationen darüber ausgetauscht werden«, hat das oberste Priorität. Ein Angehöriger kann aber dagegenhalten, er habe das Recht zu erfahren, was mit dem Menschen, der ihm nahesteht, den er liebt, passieren wird. Er ist ja unweigerlich mitbetroffen. Als Ärztin habe ich kein Recht, dem Angehörigen mehr Raum zuzubilligen als dem Betroffenen. Man kann hier nur versuchen, beide Parteien miteinander ins Gespräch zu bringen und das Thema offenzulegen, um so zu erreichen, dass sich die widerstreitenden Wünsche und Bedürfnisse irgendwo in der Mitte treffen können.

Manchmal gibt es Differenzen in der Wahrnehmung der Patientensituation. Es kann passieren, dass die Angehörigen denken:

»Man muss alle Therapiemöglichkeiten ausschöpfen!«, der Betroffene selbst aber längst weiß, dass seine Zeit nur noch sehr begrenzt ist. Wie findet man hier den besten Weg?

Die Frage ist, ob in diesem Fall die unmittelbaren Angehörigen die richtigen Gesprächspartner sind. Denn Menschen, die einem sehr nahestehen, möchte man schützen, denen will man nicht wehtun. Denen möchte man nicht als Erster sagen müssen: »Ich fürchte, ich muss dir jetzt etwas mitteilen, das dir großen Schmerz zufügt!« Vielleicht will man das zunächst mit jemand anderem besprechen. Das bedeutet, den Mut zu haben, nicht sofort die Familie, sondern einen guten Freund, einen Arzt um ein Gespräch zu bitten. Es kann sehr hilfreich sein, sich zunächst selbst Klarheit und eine gefestigte Position zu verschaffen, um dann in einem weiteren Schritt die Menschen, die einem ganz nahe sind, zu involvieren. Im ersten Moment kann das für die Angehörigen die erschreckende Frage aufwerfen: »Wieso bin ich jetzt nicht der erste Ansprechpartner, ich bin doch so nah dran?« Als Angehöriger sollte man dies nicht als Kränkung verstehen, sondern eine innere Großzügigkeit entwickeln. Man sollte ja nur geschützt werden! Manchmal gelingt einem das nicht sofort, sondern erschließt sich erst Tage oder sogar Jahre später: Es war keinesfalls eine Distanzierung von oder gar Abwertung der eigenen Person, sondern das Gegenteil.

Andere zu schützen, sich mehr Gedanken um die anderen als um sich selbst zu machen – ein häufiges Motiv bei einer schweren Erkrankung.

Ja, das beobachten wir oft – und zwar in ganz unterschiedlichen Konstellationen. Einmal natürlich innerhalb einer Partnerschaft, in der man für sein Gegenüber nur das Beste möchte. Dann sehen wir das bei einer betroffenen Mutter und ihren Kindern, die sich sehr viel mehr um die Kinder als um sich selbst sorgt. Es trifft aber ebenfalls auf sehr Alte und sehr Junge zu. Selbst ganz Kleine wollen ihre Eltern schützen. Gerade bei Kindern, die tief im Inneren bereits wissen, dass sie sterben werden, was ihr Umfeld aber negiert, kann es vorkommen, dass sie deshalb richtig wütend werden. Gleichzeitig möchten sie ihre Eltern, ihre Geschwister vor dieser Wahrheit bewahren. Daher ist es für viele Betroffene so schwer, ihren Angehörigen zu sagen: »Ich kann nicht mehr«, »Ich spüre, die Reise beginnt bald«, »Lass mich gehen, meine Kraft ist zu Ende«. Weil sie wissen, sie werden denen, die ihnen nahestehen, wehtun. Und das wollen wir alle vermeiden, das liegt in der menschlichen Natur.

Wenn Sterbende und ihre Familien es schaffen, frei über alles zu reden – inwieweit verändert dies die Trauer für die Hinterbliebenen?

Ich glaube, es kann in gewisser Weise der Königsweg sein, wenn man sich viele gegenseitige Freiheiten gewährt: »Was auch immer die Zukunft bringt: Es wird gut sein. Ich wünsche für dich das Beste, weil du mir so viel wert bist, und dafür möchte ich dir so viel Freiheit wie möglich mit auf den Weg geben.« Das kann sich auf zukünftige Bindungspersonen oder auf die Versorgungssituation beziehen. Wenn relativ junge Mütter wissen, dass sie sterben, und minderjährige, versorgungspflichtige Kinder zurücklassen, oder wenn man im Erwachsenenalter pflegebedürftige Eltern hat, kann man eine Art Vorsorge treffen: »Ich würde mich freuen, wenn diese Person sich in Zukunft um dich kümmert, weil ich als diejenige, die jetzt gehen muss, dieser Person vertraue.« Das macht es für den Sterbenden leichter, wenn das geregelt ist, und es wird für diejenigen, die sich hinterher in der Trauer zurechtfinden müssen, leichter. Wenn ein Kind weiß, Mama hat ihrer allerbesten Freundin gesagt, sie soll sich um es kümmern, fühlt sich das völlig anders an, als wenn plötzlich die Dame vom Jugendamt ankommt und meint: »Wir haben dir eine Pflegefamilie ausgesucht.« Wenn Mama sagen kann: »Ich vertraue dieser Person!«, ist das ein ganz wichtiger Start in die Trauerarbeit und das Weiterleben. Man kann es sich vorstellen wie ein Band, das über den Tod hinaus Bestand hat. Der Mensch, der verstirbt, ist ja nicht richtig weg. Er ist mit all dem, was er hinterlassen hat, mit seinen Spuren, aber auch mit dem, was er vorab geregelt hat, spür- und greifbar. Viel schwieriger stellt sich das in Situationen dar, wenn jemand plötzlich und unvorhersehbar durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wurde und diese Vorsorgen entweder gar nicht vorhanden sind oder völlig abstrakt irgendwann vor Jahren festgelegt wurden, um dann in der hintersten Schublade zu verschwinden.

Könnte man dieses Gefühl der Freiheit, das man in so einem Fall seinem Kind gibt, auch dem Partner mitgeben?

Das ist ein Ideal, das ich mir für viele Paare wünschen würde. Ich bin mir zwar sicher, dass das bei vielen meiner Klientenpaare irgendwann stattgefunden hat, aber es wird in unseren Gesprächen selten thematisiert. Denn in der unmittelbaren Trauerphase erscheint es dem Hinterbliebenen wie Verrat. Niemand wird mir erzählen: »Mein Mann hat mir in der Woche, bevor er gestorben ist, die Freiheit gegeben, mich auf eine neue Bindung einzulassen.« Tatsächlich problematisch wird es allerdings, wenn jemand diese innere Freisprechung nicht erleben durfte und es zu einer neuen Bindung kommt. Dann entstehen Schuldgefühle, und die werden dann oft bei mir angesprochen. Sowohl was neue Partnerschaften als auch die Elternbeziehung betrifft. Da merken Kinder plötzlich, dass sie die Zweitmutter vielleicht gar nicht so doof finden, doch das empfinden sie als Verrat an ihrer verstorbenen Mutter, die sie so sehr vermissen. Normalerweise müssten sie jetzt ständig mit der Stiefmutter streiten und sagen: »Du bist doof, du hast hier nichts zu suchen, und eine Ersatzmama will ich auch nicht!« Aber wenn man die eigentlich ganz nett findet, entstehen richtig tiefe Konflikte, und dann wird es in den Gesprächen mit mir zum Thema.

Glauben Sie, es wäre wichtig, es vorher auszusprechen: »Ich wünsche mir, dass du wieder eine Partnerin findest!« Oder seinem Kind zu sagen: »Ich wünsche mir so sehr, dass es eine neue Mama für dich gibt«?

»… dass du wieder jemanden findest, den du lieben kannst, der immer für dich da ist.« Ich persönlich glaube, dass das sehr wichtig und wohltuend wäre und im Sinne eines positiven Vermächtnisses sehr viel Halt bieten kann. Selbst wenn es sich später in der Zukunft vielleicht nie ergeben wird. Aber allein diese Großzügigkeit spricht ja für unendliche Liebe und unendliches Vertrauen des Menschen, der sich verabschieden muss.

Damit artikuliert man ja gleichzeitig die Gewissheit, dass das Leben weitergeht.

Ja, man teilt den Hinterbliebenen mit: »Es wird eine Zukunft geben, auch wenn du sie vielleicht jetzt nicht sehen kannst. Und ich wünsche mir für dich, dass dein zukünftiges Leben positiv verläuft. Ich möchte nicht, dass dein Leben in Trauer und Depression versinkt. So traurig ich bin, dass ich das nicht miterleben darf, aber ich möchte nicht, dass du den Rest deines Lebens leidest.«

Kann das jeder?

Es kann mit Sicherheit nicht jeder. Interessanterweise erlebe ich hierbei eher den Schritt davor, also die Ungerechtigkeit des »Ich soll so früh gehen, und ihr dürft bleiben«, allerdings nur in wenigen Fällen. Besonders schwierig stellt sich das dar, wenn Kinder mitbetroffen sind und ihnen der oder die Sterbende ins Gesicht sagt: »Ich finde, ihr könntet euch gefälligst hier brav um mein Bett versammeln. Ich muss schließlich gehen und habe kein Verständnis dafür, dass ihr jetzt spielen wollt!« Das impliziert Schuldgefühle, mit denen Kinder unter Umständen lange zu kämpfen haben. Leider ist ein Mensch, der so hadert, meist nicht erreichbar, sondern er braucht ein Ventil für seine Wut und überträgt das auf die Kinder. In aller Regel wird er professionelle Hilfe ablehnen. Für die Zukunft seiner Kinder wäre es aber wirklich wünschenswert.

Tun sich Menschen in der Gewissheit, alles Wichtige gesagt und geklärt zu haben, leichter mit dem Gehen?

Diese Fälle erleben wir immer wieder. Beim ersten oder zweiten Mal denkt man noch an Zufall. Wenn man es jedoch immer wiederkehrend sieht, erkennt man irgendwann ein Muster. Tatsächlich können Menschen kurz vor dem Ende ihres Lebens in eine enorme Ruhe und Gelassenheit hineinfinden, fast in eine Leichtigkeit, die einem Außenstehenden zunächst unerklärlich ist. Häufig ist das kombiniert mit einer kurzfristigen körperlichen Besserung. Plötzlich wird eine unerwartete Energie freigesetzt, und man könnte denken: »Jetzt wird alles wieder gut! Die Ärzte haben doch gesagt, es sei so weit, und jetzt passiert das genaue Gegenteil!« Leider handelt es sich nur um eine sehr kurze Phase, aber in der können sich Menschen in großer Gelassenheit verabschieden.

Was glauben Sie ist das Geheimnis dahinter?

(lacht:) Darf ich Ihnen das beantworten, wenn ich es selbst erlebt habe?

Können Sie Parameter erkennen, die bei diesen Menschen ähnlich sind?

Meiner heutigen Einschätzung nach hat es etwas damit zu tun, wie weit sich eine Krankheitsverarbeitung entwickeln kann. Dies ist etwas Prozessuales, nichts Statisches, es verläuft in Höhen und Tiefen mit gebirgsartigen Wellenkurven, mal steil, mal flach. Und bei jedem Menschen in unterschiedlichem Tempo, abhängig von außerordentlich vielen Variablen. Dazu gehören die individuelle Persönlichkeit des Betroffenen, die Außenbedingungen, unter denen diese Lebensphase erlebt wird, seine sozialen Netzwerke und die Individuen, die sich da finden.

Kommt ein Mensch, der durch seine Krebserkrankung viel durchmachen muss, an einen Punkt – nach zu vielen Schmerzen, zu vielen Therapien –, an dem er oder sie nicht mehr mag?

Das gibt es natürlich, allerdings ist die Grenze des Zuviel individuell völlig unterschiedlich. So wie es verschiedene Erfahrungen mit Kopfschmerzen, Stressbelastungen, mit Kälte und Wärme gibt, so ist auch hierbei die Wahrnehmung für jeden völlig anders. Es ist höchst unterschiedlich, wie viel Menschen auf sich nehmen wollen und können. Die dauernden Schmerzen, die Abhängigkeit von Schmerzmitteln, das Angewiesensein auf Hilfe, die Bewegungsunfähigkeit, die zunehmende Unselbstständigkeit der Schwersterkrankten – jeder erlebt diese Belastungen anders. Wir als Begleiter wundern uns übrigens manchmal, wie viel ein Mensch bereit ist auszuhalten und um jeden Funken Leben zu kämpfen.

Kann das zu einer Diskrepanz in der Wahrnehmung in Bezug auf »Was ist Lebensqualität?« zwischen der oder dem Betroffenen und ihrem oder seinem Umfeld führen?

Absolut, Lebensqualität ist ein zutiefst subjektives Empfinden. Ihre Lebensqualität können nur Betroffene selbst benennen. Infolgedessen entscheidet er über die Abwägung der Lebenszeit zur Lebensqualität: »Wie viel Verlust an Lebensqualität bin ich bereit, zu investieren für einen Zugewinn an Zeit?« Ich erlebe immer wieder Menschen, die nach Abschluss einer Ersttherapie erklären: »Also das sage ich Ihnen, wenn jetzt noch mal was kommt, ich lasse nichts mehr machen! Ich habe demnächst ein Arztgespräch, und wenn der dann wieder an mir herumdoktern will … da mache ich nicht mit!« Dann gehen sie in das Gespräch, und ihnen wird aufgezeigt, welche Möglichkeiten es noch gibt, sie kommen raus und erzählen mir: »Ich habe mich entschieden: Die Behandlung möchte ich machen lassen!« Das ist oft genau das, was sie noch eine Woche zuvor gänzlich abgelehnt haben. Menschen, die so konsequent sind, wie sie sich das anfangs vorstellten, erleben wir sehr selten. Häufiger hingegen ist, dass man sich unglaublich an verschlechterte Lebensbedingungen anpasst. Während ein Mensch, solange er noch kerngesund ist, das alles für unvorstellbar hält, denkt ein Mensch nach zwei Jahren Chemotherapie, Bestrahlung und mehrfachen Operationen eher: »Was soll’s? Wieder eine OP, wieder irgendwelche Metastasen raus, begeistert bin ich nicht. Aber ich weiß ja jetzt, wie es geht, sollen die doch machen.«

Große Unsicherheit herrscht bei vielen Familien, ob und wie man Kinder in den Sterbeprozess eines Familienmitglieds einbinden kann.

Grundsätzlich empfinden alle Erwachsenen – und Eltern ganz besonders – Kindern gegenüber ein Schutzbedürfnis, und das ist richtig so. Dennoch muss man in bestimmten Situationen die Frage zulassen: Was ist hilfreich für das Kind, kann zu viel Schutz sogar schaden? Leider werden Kinder oft abgeschirmt, statt ihnen die Möglichkeit zu geben zu verstehen, was gerade passiert. Sie sollen nicht erfahren, dass Mamas Krankheit Krebs heißt, dass Mama eine Chemotherapie bekommt. Ich frage mich immer: Für wie dumm halten solche Eltern ihre Kinder? Dieses Gefühl, »die Sicherheit, die Mama mir mal gegeben hat, ist weg«, nehmen Kinder in jedem Alter wahr – auch ganz Kleine.

Warum ist es so wichtig, Kinder in die Geschehnisse zu integrieren?

Sie brauchen nicht nur eine Erklärung für die Stimmung, die sich verändert hat, sie müssen auch erfahren, dass nicht sie schuld daran sind. Denn Kinder, die nicht verstehen, was um sie herum passiert, beginnen sich zu sorgen:

»Was habe ich falsch gemacht, warum ist Mama so traurig? Warum guckt Papa so ernst? Wofür wollen die mich bestrafen?« Eltern können ihre Kinder nicht vor dem Schicksal bewahren, sie können nicht verhindern, dass die Mutter krank ist oder sie ihren Vater verlieren werden. Aber sie können sie so gut wie möglich vorbereiten und auf Fragen antworten, auch wenn es noch so schwerfällt. Und spätestens die Zehnjährigen beantworten sich ihre Fragen selbstständig im Internet. Wenn sie dann mit ihren Eltern nicht darüber reden können, sitzen sie allein da mit dem Suchergebnis »Haarverlust«, »Krebs«, »Tod«.

Wie oft erleben Sie, dass Kinder nicht informiert werden?

Von meinen Patienten versuchen schätzungsweise 60 Prozent, nicht offen mit den Kindern zu sprechen. Dabei gilt es zu bedenken, dass Kinder ihre Eltern genauso schützen wollen. Sie haben unendlich feine Antennen und spüren: »Das ist wohl eine sehr bedrohliche Situation! Wenn Mama mir signalisiert: ›Stell bloß keine Fragen!‹, halte ich besser den Mund.« Da erzählt uns eine Mutter, die schon seit drei Jahren krank ist: »Nein, mein Sohn weiß nicht, dass ich Krebs habe!« Anschließend sitzt der elfjährige Sohn bei uns: »Klar weiß ich, dass Mama Krebs hat. Aber sie will ja nicht darüber reden!«

Kinder senden also Signale, die sich Eltern unbewusst wünschen? Damit es so aussieht, als hätten sie nichts mitbekommen?

Kinder spielen Theater! Sie spüren: Da hat etwas eine Dimension, gegen die ich nicht rebellieren kann. Wenn sie irgendwann rebellisch werden, dann nicht etwa, indem sie ihre Eltern anschreien: »Du blöde Kuh, du hast Krebs, ich weiß es schon lange!« Sie finden andere Wege: knallen Türen, machen keine Hausaufgaben, essen nichts mehr, gehen abends nicht ins Bett, schwänzen die Schule. Sie suchen alternative aggressionslösende Ventile, um im Punkt Erkrankung die Solidarität den Eltern gegenüber aufrechtzuerhalten.

Wie verhält es sich bei Kindern, die Bescheid wissen?

Die finden alle ihren Weg. Besser, als ihre Eltern es ihnen zugetraut hätten. Natürlich sind die Kinder traurig, haben Angst. Doch sie verfügen über die fantastische Fähigkeit, Traurigkeit und Freude nebeneinander zu erleben.

Sie können blitzschnell umschalten – oder sie können das mit der linken und rechten Körperhälfte parallel: hier Freude, da zu Tode betrübt. Selbst wenn ein Kind realisiert, da ist gerade jemand gestorben, wird es trotzdem fünf Minuten später draußen Ball spielen.

Wie ist das bei Jugendlichen – wird da offen kommuniziert?

Ja, allerdings erleben wir da oft das Gegenteil des Sinnvollen: dass Eltern ihre Kinder maßlos überfordern. Jugendliche zeigen häufig die Reaktion, sehr schnell alles selbstverantwortlich zu regeln, um bloß nicht zur Last zu fallen. Da vergessen Eltern oft, dass es noch Kinder sind. Man darf von der 14-Jährigen nicht erwarten, dass sie den ganzen Haushalt managt oder sich Zwölfjährige komplett selbst versorgen. Dann drohen Jugendliche zu früh mit Erwachsenenverantwortung überfrachtet und überfordert zu werden.