MARTIN URBAN
Was Sie, lieber Herr Schneider, in unserem Wortwechsel als Ihr Bekenntnis aufgeschrieben haben, ist für mich oft sehr anrührend und in sich schlüssig. Es ist mir von Kindheit an vertraut. Auch für mich sind meine Hoffnungen verbunden mit einem Vertrauen, sogar wider alle Vernunft. Zugleich aber hat sich bei mir eine große Abneigung gegen frommes Geschwätz entwickelt, wie ich es seit meiner Kindheit überall im kirchlichen Raum vernehme. Geprägt hat mich, dass ich mich inzwischen weit über ein halbes Jahrhundert lang mit den Erkenntnissen der Wissenschaften auseinandersetze und das zu meinem Beruf machen konnte. Für mich ist das Großartigste am Menschen neben seiner Liebesfähigkeit seine Freiheit zur Erkenntnis weit über seine Sinneswahrnehmungen hinaus. Vor vielleicht schon zweieinhalb Jahrtausenden konnte der Psalmist auf die Frage »Was ist der Mensch?« begeistert ausrufen: »Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott« (Ps 8,6). Diese wunderbare Befähigung des Menschen (aber auch seine Gefährdung, ein Teufel zu sein) ist heute deutlich wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Das frühe Christentum war den – in der Antike bereits zu einer ersten Blüte gekommenen – Wissenschaften nicht eben zugetan, und die Theologen haben sich bis in die Neuzeit auf mehr oder minder geistreiche Spekulationen beschränkt. Bereits der Apostel Paulus hat einmal das, was er als seinen Kampf verstanden hat, so beschrieben (2 Kor 10,5): »Wir zerstören damit Gedanken und alles Hohe, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und nehmen gefangen alles Denken in den Gehorsam gegen Christus.«
Eine Gefangenschaft des Denkens aus der Furcht heraus, dieses Denken könne wider die »Erkenntnis Gottes« und den »Gehorsam gegen Christus« sein, ist eine Ideologie, eine Bilderlehre, die nach meinem Verständnis nichts mit dem Bild Gottes zu tun hat, das uns Jesus vermittelt hat. Der Mensch wäre lebensunfähig, würde er nicht überall im Leben seine Fähigkeit zum Denken und zum Gewinn von Erkenntnis nutzen. Wie kann er dann die wichtigsten Fragen, jene nach dem Sinn von Leben und Tod, nach Anfang und Ende, davon unabhängig zu beantworten suchen? Beantworten, indem er die alten Mythen und Weltdeutungen nicht in Frage stellt? Ich bleibe dabei: Nur ein aufgeklärter jesuanischer Glaube, der sich selbst immer wieder in Frage stellt, kann in einer Welt voller Aberglauben dem Menschen zu dem von Immanuel Kant erhofften »Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit verhelfen«. Dazu beizutragen ist die bleibende Aufgabe der Kirchen, wenn sie eine Zukunft haben wollen.
NIKOLAUS SCHNEIDER
Lieber Herr Urban, Sie haben meine volle Unterstützung, wenn Sie gegen eine »Gefangenschaft des Denkens« aufbegehren, vor allem, wenn diese mit dem »Gehorsam gegen Christus« begründet wird. Auch ich glaube, dass Jesus uns Menschen nicht zu einem blinden Gehorsam und zu einem kritiklosen Buchstabenglauben überzeugen wollte. Jesus lebte und predigte nach den Zeugnissen der Evangelien ein Gottvertrauen, das Menschen mit Zuversicht und Nächstenliebe erfüllte und das ihnen eine Hoffnung über den Tod hinaus schenkte. Ein solches Gottvertrauen vermag Menschen bis heute aus vielerlei »Gefangenschaften des Denkens« zu befreien: aus der Gefangenschaft in Vorurteilen, Selbstzweifeln und Denkfaulheit ebenso wie aus der Gefangenschaft in Überheblichkeit, Fundamentalismus, Skeptizismus und Wissenschaftsgläubigkeit. Meines Erachtens kann nämlich auch die Überschätzung und Verabsolutierung wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse in eine Gefangenschaft des Denkens führen und der Liebesfähigkeit des Menschen im Blick auf Gott und im Blick auf seine Mitmenschen im Wege stehen. Deshalb bleibe ich dabei: Nur ein vertrauensvoller jesuanischer Glaube, der Gottes Gegenwart mit Herz und Verstand wahrzunehmen vermag, hilft Menschen, zuversichtlich zu leben und getrost zu sterben. Dazu beizutragen ist für mich die bleibende Aufgabe der Kirchen. Die Zukunft aber liegt für mich in Gottes Hand, die Zukunft der Kirche wie die Zukunft unserer Welt und unseres Lebens. Und diese Gewissheit, lieber Herr Urban, empfinde ich weder als naive Frömmelei noch als frommes Geschwätz!