Kapitel 5

Irgendwo, irgendwann

Torrahmen. Der Pfosten, an dem das Tor hängt und schwingt, wird »Zarge« genannt; die Zarge, an der es schließt, heißt »Anschlag«.

Die sommerliche Hitze und das helle Mittagslicht trafen Susan wie ein Schlag. Sie musste die Augen zusammenkneifen und nach unten schauen. Sie stand auf saftig grünem Gras, und kurz wurde ihr schwindlig wegen des plötzlichen Wechsels von Licht- und Temperaturverhältnissen.

»Wenigstens haben wir’s hergeschafft«, sagte Vivien und löste sich von Susan. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse, hielt inne, musterte die Sonnenuhr, die etwa halb eins anzeigte, und drehte sich wieder um. Sie zog den Samtbeutel aus der Hosentasche und entnahm ihm eine kleine silberne Kamera. Sie hielt sie sich vors Auge und schoss Bilder von den Mauern und Rosen, der Sonnenuhr und vom Himmel, ehe sie die Kamera wieder im Beutel verstaute und wegsteckte. »Jetzt müssen wir Merlin einholen.«

Susan schreckte zusammen, als Vivien den Kopf hob und losbrüllte – viel lauter, als man einer so zierlichen Frau zugetraut hätte. Die rechtshändige Buchhändlerin nutzte das volle Potenzial ihrer kräftigen Lunge. »Hallooo!«

Eine Sekunde später ertönte eine Antwort irgendwo hinter den Labyrinthmauern, nicht weit entfernt: ein leiserer, aber ebenfalls durchdringender Ruf mit sehr ähnlicher Stimme, eine Art Geschwisterecho. »Yoicks! Tally-ho! Halt dich von den Rosen fern und folge den Markierungen im Gras!«

»Er lebt noch«, sagte Vivien. »Und ist bei guter Stimme. Komm.« Sie schritt zum Ausgang des Innenhofs.

Susan folgte ihr und kam sich eher vor wie eine Gepäckträgerin, mit Merlins verdammt schwerer Tasche in der einen und dem Maurerhammer in der anderen Hand. Außerdem war ihr in ihrem langen Schafsfellmantel viel zu heiß, doch sie wollte nicht innehalten und ihn ausziehen, um mit Vivien Schritt halten zu können, die ein ordentliches Tempo vorlegte. »Wie meint er das mit den Rosen?«, keuchte sie und holte ihre Gefährtin ein.

Vivien betrachtete die gemeißelten Blumen und dornigen Zweige, die die Mauern überwucherten, atmete ein und hielt kurz die Luft an, ehe sie sie abschätzig wieder ausstieß. »Noch mehr belebter Stein. Er ruht, bis man ihn berührt oder die Wand erklimmen will, dann stürzt er sich auf dich wie eine Muräne. Ohne Sinn und Verstand, nur pure Aggression. Grobe, aber mächtige Magie. Das Wesen, das hinter diesem Ort steckt, muss seine ganze Kraft darauf verwandt haben. Oder es hat einen anderen Weg gefunden, alles am Laufen zu halten …« Vivien verstummte und kniff den Mund zusammen, als hätten ihre Worte soeben eine schreckliche Wahrheit offenbart. Sie beschleunigte ihren Schritt noch mehr und hielt lediglich an den Kreuzungen inne, um Merlins Ritzspuren im Gras zu studieren. »Es ist interessant, dass die Karte das Labyrinth nicht exakt wiedergibt«, sagte sie. »Eingedenk der Art der Verbindung hätte ich das nicht für möglich gehalten. Es gibt eine weitere Ebene verschleiernder Zauber. Das Labyrinth soll Eindringlinge in die Falle locken, vermutlich bis das Wesen, dem dieser Ort gehört, kommt und sie einsackt.«

»Und … ähm … glaubst du, das könnte bald passieren?«, fragte Susan.

»Ich weiß es nicht. Da unser Kartenfragment von einer größeren Karte stammt, ist hier wahrscheinlich alles aus dem Gleichgewicht geraten. Es ist sogar möglich, dass der Schöpfer dieses Ortes nicht mehr hierher zurückkehren kann, aber das ist womöglich reines Wunschdenken. Vielleicht kommt man noch über andere Wege her, nicht nur mithilfe einer Zauberkarte. Wir müssen mehr darüber herausfinden.«

»Wir müssen Merlin finden und von hier verschwinden«, erwiderte Susan emotional. »Sofern ich es schaffe, uns eine Karte zu zeichnen.«

»Das gelingt dir ganz sicher«, bestärkte Vivien sie. »Hier biegen wir rechts ab. Wie Merlin es markiert hat. Und ja, wir sollten uns darauf konzentrieren, schnell wieder von hier fortzukommen. Ich habe mich von meiner Neugier übermannen lassen.«

Ein paar Minuten später fanden sie dank der Markierungen aus dem Labyrinth heraus. Merlin saß mit ausgestreckten Beinen im Gras, das Kleid hochgekrempelt, und verband sich das Knie. Er blickte auf, und ein Anflug von Überraschung zeigte sich in seinen Zügen, als er Susan erblickte.

»Eine List, um Mitleid zu erregen, verstehe«, sagte Vivien misstrauisch, kniete jedoch nieder und beäugte den Verband. Susan und Merlin warfen sich seltsam schüchterne Blicke zu. Seit Susan gesagt hatte, sie wolle sich mehr auf ihr Studium konzentrieren, war ihr Verhältnis ein wenig angespannt. Merlin hatte gefragt, ob das bedeute, dass sie ihn seltener treffen wolle. Sie hatte nichts darauf erwidert, denn die Antwort war kompliziert und hing mit ihrem unterschwelligen Wunsch zusammen, weniger Kontakt mit der Alten Welt und den Buchhändlern zu haben, die so eng damit verbunden waren. Zugleich wollte sie jedoch auch nicht Merlin vertreiben.

»Von deiner Tante Sairey.« Susan reichte ihm den Hammer. »Und ich hab deine Tasche mitgebracht. Schönes Kleid. Eine Schande, das mit den Blutflecken und so. Geht’s dir gut?«

Merlin nahm den Hammer entgegen. »Danke.« Er deutete auf seinen selbst gebauten Stein-und-Haube-Morgenstern. »Wie du siehst, habe ich eine behelfsmäßige Waffe zum Zertrümmern von Statuen angefertigt, aber der Hammer ist besser. Und mir geht’s gut. Nur ein Kratzer von einer Katze.«

»Von einer mit Steinkrallen«, sagte Vivien mit Blick auf die Trümmer der Steinkatze, die vor dem Labyrintheingang verstreut lagen. »Hast du die Wunde schon mit Schlürferspucke behandelt?«

»Ja, Schwester.« Merlin blickte zu Susan. »Nicht dass du dich unwillkommen fühlst, aber du musstest doch nicht auch herkommen, Susan! Es könnte ein bisschen schwierig werden, von hier zu fliehen.«

»Ich bin dein Fluchtweg«, entgegnete Susan. »Zumindest soll ich eine Karte zeichnen, die uns hier rausbringt. Soll ich anfangen?«

»Oh.« Merlin blickte zu Vivien. »Ich verstehe. Denkst du …«

»Ja«, sagte seine Schwester entschlossen. »Ich glaube schon. Susan hat einen Ort, zu dem sie eine Bindung hat, ihre angeborene Macht, und sie kann zeichnen. Die Karte und die Stifte sind in Merlins Tasche, Susan. Du solltest loslegen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben.«

»Zeit?« Merlin klang ungewöhnlich besorgt. »Kannst du das Wesen spüren, das sich hinter diesem Ort verbirgt? Ist es hier?«

»Ich denke nicht«, sagte Vivien, konnte aber dennoch dem Impuls nicht widerstehen, sich umzusehen. »Hoffentlich weiß es nicht, dass wir hier sind. Aber dieser Ort wurde von der Zeit abgekapselt und will jetzt einen Ausgleich herstellen, indem er durch die Karte im Kleinen Buchladen sickert. Wenn das passiert, wird die Zeitblase hier platzen. Und wir auch.«

»Wie lange haben wir noch?«

»Ein paar Stunden, schätze ich«, antwortete Vivien.

»Die Ankunft des Wesens wäre die größere Gefahr.« Merlin erhob sich rasch. »Wir müssen uns an einen Ort zurückziehen, der besser zu verteidigen ist und wo Susan in Ruhe arbeiten kann. Zum Uhrenturm, denke ich. Den wollte ich mir sowieso ansehen.«

»Willst du die Leiche untersuchen, die statt der Uhrwerkfigur da oben ist?«, fragte Vivien und blickte zum Turm hinauf.

»Ja. Ich glaube, der Mord ist noch nicht länger her als der letzte Krieg. Der Tote trägt Jeans und T-Shirt.« Er brauchte nicht eigens zu erwähnen, dass er von Buchhändlerangelegenheiten sprach. Der Zweck der Buchhändler bestand darin, die Alte Welt zu observieren und die Sterblichen vor boshaften Wesen und gefährlicher Magie zu schützen, und manchmal auch umgekehrt.

Erstmals sah Susan sich den Uhrenturm genauer an. Die Leiche war ihr zuvor nicht aufgefallen, aber jetzt, wo sie darauf hingewiesen wurde, erkannte sie mühelos, dass es sich um keine Uhrwerkfigur handelte, sondern um einen Toten.

»Susan, wenn ich’s mir recht überlege, nimmst du besser diesen Hammer.« Merlin reichte ihr das Werkzeug, bückte sich und hob seinen behelfsmäßigen Morgenstern auf. »Kannst du meine Tasche tragen?«

Susan nickte und nahm sie auf. Merlin marschierte los, wobei er wegen des verletzten Knies leicht humpelte, und die beiden Frauen folgten ihm in wenigen Schritten Abstand.

»En avant, mes braves« , sagte Vivien und fügte aufgrund der fragenden Blicke ihrer Begleiter hinzu: »Beau Geste . Wir haben heute Morgen PC Wren getroffen.«

Das führte zu weiteren Erklärungen darüber, was nach Merlins Verschwinden im Kleinen Buchladen passiert war, bis hin zum Eintreffen der Wasserspeier und ihrem Aufbruch.

»Das bedeutet vielleicht, dass das Wesen noch auf der anderen Seite ist, was gut für uns wäre«, sagte Merlin. »Es will die Karte unbedingt.«

»Was passiert, wenn die Gargoyles sie mitnehmen?«, fragte Susan.

»Das schaffen sie nicht«, antwortete Merlin zuversichtlich. »Nicht solange sie es mit Sairey, Cameron und den anderen zu tun haben.«

Sie erreichten das verschlossene Ägyptische Tor. Die grob behauenen Torflügel waren wie zwei große Blätter gestaltet, die sich im geschlossenen Zustand aneinanderschmiegten. Es gab weder einen erkennbaren Griff noch einen Knauf oder ein Schloss. Versuchsweise klopfte Merlin mit dem Ende seiner Katzenkopfwaffe an einen Flügel, doch es tat sich nichts. »Das ist eine Art von Marmor, nicht wahr? Alles ist aus dem gleichen Gestein. Die Labyrinthwände, die Rosen, die Katze …«

»Und der Löwe in der Buchhandlung«, fügte Vivien hinzu. »Ruby meinte, er sei aus Purbeck-Marmor. Diese Muscheleinschlüsse sind anscheinend typisch dafür.«

»Von der Isle of Purbeck«, sagte Merlin nachdenklich. Er nahm den Morgenstern in die rechte Hand und drückte mit der linken gegen das Steintor. Es rührte sich nicht. »Ein raues Fleckchen Erde. Wessex. Ich kann mich nicht entsinnen, dass im Index für diese Region besonders bösartige Wesen aufgeführt sind. Stimmt das, Vivien?«

»Weiß ich nicht aus dem Stegreif. Ich erinnere mich, dass einer der Wessex-Drachen in der Pebble-Bar steht, aber er ruht seit der Sachsenzeit, und wir hätten es ganz sicher erfahren, wenn er erwacht wäre. Ich vermute eher, es steckt ein Wesen aus Purbeck dahinter, das bisher unentdeckt geblieben ist und in keiner Aufzeichnung auftaucht. Sobald wir zurück sind, werde ich das mal gründlich untersuchen.«

»Ja. Bin sofort wieder da. Ich muss über die Hecke klettern«, sagte Merlin. »Das Tor lässt sich wohl nur von der anderen Seite öffnen.«

»Nein«, erwiderte Vivien nachdenklich. »Ich bezweifle, dass es einen Schließmechanismus hat. Das Wesen hat Macht über Stein, kann ihn animieren, wenn auch kein echtes Leben einhauchen. Ich vermute, das Tor funktioniert auf dieselbe Weise.«

Merlin trat zurück und kratzte sich unter der Spitzenhaube am Kopf. Sogar er schwitzte in der Sommersonne. Sie war endlich ein wenig gesunken, aber nicht genug, um für Abkühlung zu sorgen. »Was schlägst du vor?«

»Ich kann versuchen, das Tor zu aktivieren«, sagte Vivien. »Sodass es sich zumindest einen Spaltbreit öffnet, durch den wir uns zwängen können.«

Sie zog ihren Handschuh aus, legte die silbrig glänzende rechte Hand auf das Steintor und atmete tief ein. Etwa dreißig Sekunden lang geschah nichts, dann gab das Tor ein Knacken von sich, als würde man Eierschalen zertreten, und der blattförmige Torflügel schwang unter Viviens Hand langsam nach innen auf. Sie trat vor, ohne die Hand vom Tor zu nehmen, erst einen Schritt, dann noch einen. Es war nicht etwa so, dass sie den steinernen Torflügel aufdrückte, vielmehr folgte sie ihm. Als der Spalt breit genug war, dass sie hindurchpasste, nahm sie die Hand vom Stein, atmete tief durch und streifte wieder ihren Handschuh über.

»Das war harte Arbeit. Ich hätte es nicht geschafft, wenn der Magiefunke nicht schon im Tor gewesen wäre. Es erinnert sich an die Bewegung.«

Merlin glitt durch den Spalt, den Morgenstern bereit. Susan folgte ihm, dann Vivien, die noch außer Atem war, als hätte sie gerade einen Hundert-Meter-Sprint hingelegt.

Endlich sahen sie den unteren Teil des Uhrenturms, die mit Wappenstatuen gesäumte Allee zum See und einen Abschnitt des Wolf Wood im Osten. Der Himmel im Norden hingegen glich einem verschwommenen blauen Fleck und war viel näher als ein normaler Horizont.

Bislang entsprach hier alles der Kartenzeichnung. Doch gab es auch etwas, das die Karte nicht gezeigt hatte – und das sie gewiss nicht übersehen hatten. Am Fuße des Turms, direkt unter dem Zifferblatt, stand ein Himmelbett aus dem siebzehnten Jahrhundert, eins ohne Baldachin. Eine alte Frau schlief zusammengerollt auf der Decke. Eine kleine alte Dame in einem bodenlangen Nachthemd aus Musselintuch, mit Rüschen und Volants und einer grün bebänderten Haube, doppelt so groß wie ihr Kopf.

Susan fiel auf, dass Merlin nur kurz zu ihr blickte und dann gründlich die Statuen musterte. So wachsam, als rechne er damit, dass sie plötzlich von ihren Sockeln springen und angreifen würden. »Die Statuen sind aus dem gleichen grauweißen Stein«, sagte er. »Wieder aus Purbeck-Marmor.«

»Der Bildhauer hat schlechte Arbeit geleistet«, kritisierte Susan. »Ich meine, die Proportionen stimmen nicht. Die Beine sind zu lang oder zu kurz und der Kopf von der da ist zu groß.«

»Ihr künstlerischer Wert spielt keine Rolle, wenn sie zum Leben erwachen und uns angreifen«, entgegnete Merlin.

»Ich zerbreche mir momentan nicht den Kopf über die Statuen«, sagte Vivien. »Die alte Dame war nicht auf der Karte eingezeichnet. Aber ich glaube nicht, dass sie eine Wesenheit ist. Das ist alles sehr seltsam.«

»Und es ist schrecklich heiß.« Susan wischte sich das Gesicht am Mantel ab, den sie sich inzwischen über die Schulter geworfen hatte, was jedoch kaum half. »Es ist furchtbar stickig wie in einem Treibhaus, in dem kein Fenster offen steht.«

»Vielleicht ist die Atemluft hier begrenzt«, sinnierte Vivien laut. »Noch ein Grund, schnellstmöglich zu verschwinden.«

»Dann ab in den Turm«, sagte Merlin. »Damit Susan mit der Zeichnung anfangen kann. Davor können wir uns die kleine alte Dame ansehen.«

Er begab sich auf den Weg zum Turm, gefolgt von den anderen. Sie alle liefen zügiger als zuvor, als hätte Susans Bemerkung verfangen, dass nicht genug Atemluft zur Verfügung stünde.

Das Bett stand wenige Schritte vor dem Turm, dessen Tür nicht aus Stein war, sondern aus schwerer Eiche und ein massives Eisenschloss hatte. Merlin umrundete das Gebäude, um zu ergründen, ob es noch andere Eingänge gab, während Vivien und Susan sich dem Bett näherten.

Vivien hatte die alte Frau für tot gehalten, doch von Nahem erkannte sie, dass sie lebte. Der Brustkorb der Lady hob und senkte sich langsam, und ihr Mund zuckte leicht. Sie schlief einfach nur tief. »Berühre weder das Bett noch irgendetwas anderes.« Vivien streckte die rechte Hand nach der Schlafenden aus, und unvermittelt zuckte ihr Daumen wie von Elektroschocks stimuliert. »Das ist der Fokus dieses Ortes.«

»Das Bett?«, fragte Susan.

»Die Frau.« Vivien atmete tief ein. Sie wurde völlig reglos, und auch ihr Daumen erstarrte.

Merlin beendete soeben seine Turmumrundung. »Das hier ist die einzige Tür. Und es gibt auch nur auf dieser Seite ein Zifferblatt, was ungewöhnlich ist. Nirgends sind Fenster, es gibt nur den Torbogen darunter, mit der Leiche darin statt einer Uhrwerkfigur.«

»Vivien meint, diese Frau ist der Fokus dieses Gartens«, sagte Susan.

»Wie in Dornröschen «, brummte Merlin. »Der Garten ist besser in Schuss, aber auch hier sind Dornen das Leitmotiv.«

»Sie ist viel älter als die Frau im Märchen«, sagte Susan zweifelnd. Die Frau musste in den Siebzigern sein, vielleicht sogar älter. Sie war ziemlich hübsch. Allerdings sah man nur einen Teil ihres Gesichts, da der Rest durch die riesige Haube und das große Gänsefederkissen verborgen blieb, neben dem zwei weitere Kissen am Kopfende des Bettes lagen.

»Das Märchen, das du meinst, muss nicht zwingend den Tatsachen entsprechen«, sagte Merlin. »Ich versuche mal, die Tür zu öffnen.« Er nahm Susan die Reisetasche ab und humpelte zum Turm.

Vivien atmete aus und holte wieder ihre Kamera hervor. Sorgfältig fotografierte sie das Bett, die alte Frau, das Zifferblatt des Turms, die Leiche im Torbogen und die Allee mit den Statuen. Derweil sagte sie zu Susan: »Märchen sind oft extrem verworrene Versionen von etwas, das in der Alten Welt wirklich geschah. Aber in diesem Fall denke ich, es lief genau andersherum: Ein Urherrscher hat diesen Ort in Anlehnung an die Geschichte erschaffen. Wahrscheinlich nach der Version von Perrault oder nach der der Gebrüder Grimm. Dieser Garten entstand wohl Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, also wäre das möglich. Wer auch immer ihn erschuf, hat vermutlich die deutsche Erstausgabe gelesen, ich glaube, Kinder- und Hausmärchen erschien 1812, und …«

»Aber warum nur?«, ging Susan dazwischen, weil sie keine Abhandlung über Grimm-Ausgaben hören wollte. »Und wer ist die Frau?«

»Keine Ahnung, aber eins weiß ich. Sie ist wie du«, sagte Vivien. »Ein sehr ungewöhnlicher Mensch.«

»Was?«

»Sie ist auch ein Kind eines Sterblichen und eines Urherrschers.«

»Oh. Aber warum schläft sie?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Vivien. Sie verstaute ihre Kamera und runzelte die Stirn. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Körperlich, meine ich, irgendeine Krankheit. Vielleicht Krebs. Und sie ist viel älter, als sie aussieht, mindestens hundert. Ich meine, sie war mindestens hundert Jahre alt, als sie hier in ihren Schlummer fiel. Seither ist sie nicht mehr gealtert, weil keine Zeit vergangen ist. Dieser ganze Ort wurde aus seiner Zeitebene gerissen, und zwar wegen ihr. Das Machtzentrum befindet sich genau hier. Eine enorme Magieentfaltung, die über Jahrhunderte anhielt, was sehr beunruhigend ist.«

»Das sehe ich auch so«, rief Merlin, der sich mit einem Drahtkleiderbügel aus der Reisetasche am Türschloss des Turms zu schaffen machte. »Je schneller wir hier rauskommen, desto besser. Ich hab’s fast. Korrigiere. Ich hab’s.« Mit vernehmlichem Klicken entriegelte er das Schloss, und quietschend öffnete sich die Tür.

Die alte Frau hörte das auch. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf. Susan sprang zurück, Vivien hingegen blieb ungerührt stehen.

»Mutter!«, rief die Alte und hob die Arme. Ihre verschlafenen Augen richteten sich auf Viv, ihr Blick klärte sich. »Oh! Wer bist du? Mutter!«

Sie schrie das letzte Wort, und es schien von überall widerzuhallen, als wäre der blaue Himmel in Wahrheit die hohe Decke eines Opernhauses. Als der Schrei verklang, wirkte auch die anschließende Stille theatralisch, als halte ein imaginäres Publikum gespannt den Atem an.

In diese Stille hinein ertönte ein Heulen. Es kam von Osten, wo der Wolfswald am Horizont verschwamm. Es war das Heulen des eiskalten Windes, der kurz darauf die Äste schüttelte und Blätter umherwirbelte. Er fegte heftig über die Allee hinweg, umheulte die bebenden Heckenwände des inneren Gartens, verschonte jedoch das Bett mit der alten Frau und auch Susan, Vivien und Merlin.

»Mutter«, wiederholte die Frau, diesmal in zufriedenem Ton wie zur Begrüßung. Doch sie grüßte nicht etwa den Wind.

Eine riesige Hand aus Staub oder dichtem Nebel erhob sich hoch über den Baumkronen, schnell wie der Wind, jeder Finger so groß wie der Turm, und sie verdunkelte den östlichen Himmel.

»Nach drinnen!«, rief Merlin. Er stieß die Tür ganz auf und drängte erst Vivien und dann Susan hinein. Sie schauten zurück und sahen, wie die Hand sich absenkte und mit Finger und Daumen je eine Statue in der Allee berührte. Die Staubfinger drangen in den Stein, wurden regelrecht von ihm aufgesogen. Einen Moment später erzitterten die Skulpturen, drehten sich nacheinander zum Turm um und stiegen von ihren Sockeln. Die vorderste war ein Hippalektryon, das allzu sehr an einen missgestalteten Pegasus erinnerte. Die vordere Hälfte war ein Pferdekopf mit Vorderbeinen, die hintere ein Hahnenkörper mit Schwanz, Sporen an den Beinen und übergroßen Flügeln. Dem Geschöpf folgte ein Löwe, der relativ normal aussah, bis auf den größeren Körper und die Pranken, die so wirkten, als hätte der Bildhauer noch nie einen echten Löwen gesehen. Hinter ihm stand der erstaunlich hässliche Ypotryll, eine Kreatur mit Wildschweinkopf, überproportionierten Hauern und dem Körper eines Dromedars. Sein Buckel war unverhältnismäßig hoch und schmal, es hatte die Beine eines Ochsen und einen langen, schuppigen Schwanz, der in einem Stachel mündete, groß wie ein Schwertbajonett aus dem Ersten Weltkrieg. Daneben stand ein Einhorn, dessen Proportionen ebenfalls nicht stimmten – der Kopf war im Verhältnis zum Horn zu klein. Dann folgte ein Geschöpf, das im Grunde eine riesige Steinameise war, allerdings eine kleine Krone trug und zu lange Beine hatte, die alle ein zusätzliches Gelenk aufwiesen.

»Das Vieh mit den Flügeln kann doch nicht etwa fliegen, oder?«, fragte Susan.

»Sie sind immer noch aus Stein, wenn auch aus belebtem.« Merlin knallte die Tür zu, woraufhin sie in fast völliger Dunkelheit standen. »Daher kann es wahrscheinlich nicht fliegen. Lauft nach oben, ich verkeile schnell die Tür.«

»Geh du«, sagte Vivien. »Ich kann sie besser sichern als jeder Keil.«

»Okay, Gandalf«, erwiderte Merlin. »Du sicherst die Tür. Susan, wir gehen hoch, dann kannst du mit der Zeichnung anfangen.«

»Ich kann nichts sehen«, antwortete Susan gefasst. »Das mit dem Zeichnen wäre also schwierig.«

»Wirklich?«, fragte Merlin. »Ich dachte, dass du die Fähigkeit hast, im Dunkeln …«

»Hab ich nicht!«, blaffte Susan.

»Tut mir leid«, sagte Merlin. Die Buchhändler konnten alle gut im Dunkeln sehen. Sie mussten häufig ohne Licht auskommen.

Susan hörte ihn in seiner Tasche kramen.

»Ich hab eine Kerze. Hier, Viv, zünd sie an.«

Vivien holte kurz Luft und pustete in Richtung Kerze. Ein Funke sprang aus ihrem Mund, der Docht begann zu brennen, und zugleich stieg ein aufdringlicher Duft nach Vanille und Zimt auf, der für sich genommen nicht schlimm gewesen wäre, aber in Verbindung mit dieser Kerze fast einer chemischen Waffe gleichkam. Sie war etwa so groß wie eine Ginflasche und hatte einen Kranz aus Herzchen rings ums obere Ende.

»Was zum Teufel, Merlin?«, rief Vivien, hustete und wich einen Schritt zurück. »Die stinkt ja fürchterlich!«

»Sie war ein Geschenk«, verteidigte sich ihr Bruder. »Ich hab sie schon ewig.« Er reichte Susan die Kerze, die ihr Gesicht abwandte, um dem starken Duft zu entgehen.

Vivien räusperte sich, atmete erneut ein – diesmal viel ernster – und legte die rechte Hand auf das Türblatt. Kaum hatte sie das getan, ließ ein gewaltiger Schlag Tür und Turm erbeben.

»Rauf da!«, drängte Merlin. »Los!«

Susan rannte die Treppe hinauf, darüber sinnierend, wie unglücklich es war, dass Merlin seine Schwester »Gandalf« genannt hatte. Jetzt musste sie ständig denken: »Wir können nicht hinaus«, und das stimmte auch, wenn sie nicht bald die erforderliche Karte zeichnen würde, woran sie zweifelte. Wieder erzitterte der Turm, die Tür ächzte und krachte und Merlin war ganz dicht hinter ihr und trieb sie an.