Kapitel 6

Irgendwo, irgendwann und anderswo

Statue. Es war Pygmalion, der sich in eine Statue verliebte, die er selbst erschaffen hatte.

Susan stolperte von der obersten Stufe in die nächste Etage und verharrte. Merlin wäre fast mit ihr zusammengeprallt und musste sich an der Wand abstützen.

»Susan! Lauf weiter!«

Zur Antwort hob sie die Kerze und trat neben Merlin. Die Decke war in diesem Stockwerk viel niedriger, und in der Ecke führte statt einer Treppe nur eine Leiter durch eine offene Luke nach oben. Abgesehen von dem matten Lichtschimmer der Kerze war es dunkel.

Allerdings reichte das Kerzenlicht aus, um die Leichen in der Mitte des Raumes zu erkennen. Drei Reihen aus je acht Toten, die mittlere senkrecht zu den anderen beiden angeordnet. Allesamt junge Frauen und Männer, bemerkenswert gut erhalten. Obwohl sie keine offensichtlichen Wunden aufwiesen, ließen ihre blassen Gesichter und starren Leiber keinen Zweifel daran, dass sie tot waren und nicht etwa schliefen wie die alte Lady, ganz zu schweigen davon, dass sie wie Holzscheite aufgereiht waren.

Die Toten in der unteren Reihe trugen typisch georgianische Kleidung. Zwei Frauen hatten noch die Bänder ihrer Hauben unterm Kinn verschnürt. In der mittleren Reihe war die Hälfte der Leichen ebenso gekleidet, ehe Kleidung im viktorianischen Stil folgte, bis in die nächste Reihe, wo sich der Stil erneut änderte. Mehrere Männer trugen Uniform, einer einen scharlachroten Mantel, zwei hatten kakifarbene Kleidung aus dem Ersten Weltkrieg an und einer eine Polizeiuniform aus den 1920er-Jahren.

Die Leichen in der obersten Reihe stammten teilweise aus jüngerer Zeit, darunter eine Frau in Marineuniform aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Tote neben ihr trug die unelegante Kleidung der späten Vierzigerjahre. Dann folgte ein Teddy-Boy in einem Anzug mit wattierten Schultern. Er hatte nur einen Wildlederschuh an.

Abseits der drei ordentlichen Leichenreihen markierte eine weitere Tote den Beginn einer neuen Reihe. Sie war ein Hippie, ein Blumenkind in orange-blauem Batik-Sommerkleid. Ihre Füße waren nackt, auf beiden Armen prangten schlecht gemalte Henna-Symbole und sie hielt eine übergroße Karte in der Hand.

Von unten drang ein weiterer Knall herauf, und erneut bebte der Turm.

»Rauf da! Los!« Merlin schob Susan vor. »Fang an zu zeichnen. Für diese Leute hier können wir nichts mehr tun. Gib mir den Hammer.«

Susan löste sich aus ihrer Schockstarre und reichte ihm den Maurerhammer, den er in die Reisetasche steckte. Dann lief sie zur Leiter. Beim Klettern mit nur einer freien Hand hätte sie fast die Kerze fallen lassen, doch sie schaffte es unversehrt ins nächste Stockwerk. Auch hier war die Decke niedrig, und vor ihr fiel Sonnenlicht durch den Torbogen, wo die Leiche mit dem Irokesenschnitt schlaff am Pfahl hing. Schienen im Boden und ein paar Zahnräder verrieten, dass hier einst ein richtiges Uhrwerk mit vermutlich harmlosen Automaten gewesen war, doch hatte das alles der grausigen Zurschaustellung der Leiche weichen müssen.

In der Ecke stand eine weitere Leiter, die Susan ignorierte. Sie brauchte Licht. Ohne auf den toten Punk am Pfahl zu achten, ging sie zum Torbogen und setzte sich im Schneidersitz ins Sonnenlicht. Sie war etwa einen Meter vom Rand entfernt, sodass sie nicht sehen konnte, was unten vor dem Turm geschah. Dem Beben und Krachen nach zu urteilen, warfen sich die Statuen abwechselnd gegen die Tür. Doch was auch immer Vivien unternahm, funktionierte offenbar. Die Tür knackte zwar gelegentlich, doch es folgte kein Bersten, das das Eindringen der Angreifer verraten hätte.

»Ich brauche Tafel und Stifte«, sagte Susan und schaute zurück. Doch es war nicht Merlin, der ihr durch die Luke gefolgt war, sondern Vivien. Sie trug die Reisetasche ihres Bruders, eilte zu Susan hinüber und stellte sie neben ihr ab. Dann öffnete sie sie und reichte ihr eine dicke schwarze Tafel sowie zwei Füllfederhalter, einen »Rhapsody Caviar« von Waterman Le Man und einen Pilot-F-»Milano«. Susan zog die Kappen ab und testete beide Füller am Tafelrand. Sie zog einige Linien und probierte auch aus, wie sie mit umgedrehter Feder schrieben.

»Wo ist Merlin?«, fragte sie, steckte die Verschlusskappe wieder auf den Waterman und schob den Füller in eine Stifttasche ihres Overalls. Sie hatte sich für den Pilot F entschieden, weil sich damit besser zeichnen ließ.

»Er kommt gleich nach«, antwortete Vivien. »Mach dir keine Sorgen um ihn. Konzentrier dich auf die Zeichnung, auf den Ort, spüre deine Verbindung zu ihm. Ich werde dir helfen. Ich kann … ähm … Dinge für dich ausblenden. Merlin wird uns beschützen. Verbann alles andere aus deinen Gedanken.«

»Ich versuch’s.« Susan neigte den Kopf, schaute auf die schwarze Tafel und zog entschlossen vier Linien als Rahmen für ihr Bild. Dann begann sie, die ihr vorschwebende Szene auszuarbeiten, den sichersten Ort, den sie sich vorstellen konnte. Sie entsann sich, wie er aussah, roch und sich anfühlte, dachte an jedes kleine Detail, das den Ort auszeichnete. Sie bemerkte kaum, wie Vivien Luft holte und ihr die Hand auf die Schulter legte, doch sogleich verengte sich die Welt um Susan. Sie hörte den Lärm der Angreifer nicht länger, spürte weder die Wärme der Sonne noch sonst irgendetwas. Für sie gab es nur noch die schwarze Tafel, die silbernen Linien und den Ort, den sie mit ganzem Herzen und ganzer Seele zeichnete.

Sie hörte nicht, wie Merlin rasch durch die Luke kletterte, sich auf den Boden legte und mit der linken Hand die obersten vier Eichensprossen der Leiter durchbrach, mit übermenschlicher Kraft, aber dennoch unter großer Anstrengung. Anschließend rannte er zu seiner Tasche, nahm den Smython heraus, hielt sich an dem Pfahl fest, an dem der tote Punker hing, beugte sich vor und feuerte rasch sechs Schüsse nach unten ab. Offenbar nicht mit dem erhofften Erfolg, denn er lud zwar geschickt mit seinem Schnelllader nach, schoss jedoch nicht erneut, sondern steckte den Revolver zurück in die Tasche. Er beäugte kurz seinen selbst gebauten Morgenstern und griff dann zum Maurerhammer.

Im selben Moment kündete ein lautes Bersten von unten davon, dass die Statuen die Tür eingerannt hatten. Vivien hatte sie stabilisiert, indem sie sie mit den Mauersteinen verbunden hatte, doch selbst das hatte den wiederholten Schlägen nicht standgehalten. Merlin hatte beim Feuern gesehen, dass die meisten Statuen ebenfalls gelitten hatten: Den mythologischen Wesen fehlten Hörner, Gliedmaßen und Körperteile. Das Einhorn war bereits völlig außer Gefecht, sein Kopf abgebrochen, doch der Urherrscher hatte einfach die nächstgelegene Statue der Allee belebt, sodass nun ein Minotaurus herbeistampfte, um sich dem Kampf anzuschließen. Er schwang eine steinerne Streitaxt, was ihn noch gefährlicher machte als die anderen Statuen.

Merlin wusste, die fehlenden Sprossen würden die Angreifer nicht lange aufhalten. Vielleicht würden sie sich sogar gegenseitig als Leiter benutzen. Er hoffte, dass die Ameise nicht an Wänden hochlaufen konnte wie ein echtes Insekt, aber falls doch, wäre sie vermutlich längst hier oben.

Er umklammerte den Maurerhammer und hielt sich bereit. Susan skizzierte mit dem Silberstift fieberhaft eine Szene auf der schwarzen Tafel. Sie schien einen kleinen Bach in einem Wald zu zeichnen, der womöglich irgendwo an den unteren Hängen des Old Man of Coniston lag, vielleicht beim See.

Hoffentlich würde es klappen. Sie mussten in ihre Welt zurück, um zu ergründen, welcher Urherrscher diesen Garten erschaffen hatte. Offenbar handelte es sich bei ihm um einen Serienmörder. Man durfte kein mythisches Wesen dulden, das Menschen ermordete. Das hier war nicht zur Selbstverteidigung geschehen, kein Unfall oder gar Missverständnis wie in den Fällen, wenn Geschöpfe der Alten Welt glaubten, die Menschen würden sich gern freiwillig opfern. Oder wie in dem Fall, wenn sich ein Mensch tatsächlich selbst opfern wollte.

Er schaute zu dem jungen Mann am Pfahl. Im Gegensatz zu den anderen Leichen wies er sichtbare Wunden auf. Stirnrunzelnd beäugte Merlin seine Verletzungen. Der Punker war vor seinem Tod gefoltert worden. Merlin betrachtete seine Kleidung: Jeans und ein T-Shirt, das wie das Werbegeschenk eines Kleinunternehmens aussah. Das Logo und der Name darauf waren so blutverschmiert, dass beides nicht zu erkennen war. In der löchrigen Jeans steckten zahlreiche Sicherheitsnadeln, die lediglich als Verzierung dienten. Die Gesäßtasche war größtenteils abgerissen, und Merlin kam der Gedanke, dass er wahrscheinlich den Besitzer der Brieftasche aus dem Labyrinth gefunden hatte.

Diese Details, alles, was er unten gesehen hatte, die wenigen Habseligkeiten, die er bei den anderen Toten gefunden hatte – all das würde für die Ermittlung von entscheidender Bedeutung sein. Wenn sie herausfinden könnten, wer die Leute waren und wann sie verschwunden waren, wäre das sehr nützlich.

Merlin löste sich aus seinen Gedanken, sprang zur Luke und schlug mit dem Maurerhammer auf die kleine Krone auf dem Kopf der Ameise. Wie erwartet kletterte die Riesenameise am besten von allen und hatte die fehlenden Sprossen der Leiter mühelos überwunden.

Sie schnappte mit den spitzen Mandibeln nach ihm, doch er wich seitwärts aus und schlug erneut mit dem Hammer auf die kleine Krone. Risse bildeten sich im Kopf der Skulptur, während sie vorsprang. Merlin landete einen weiteren Treffer auf dieselbe Stelle, und diesmal zerbrach der Ameisenkopf in fünf Teile.

Dennoch schob sich das Ungeheuer weiter durch die Luke und schlug mit den Vorderbeinen nach Merlin. Mit einem Hieb trennte er eines davon vom Brustkorb ab, doch die Ameise krabbelte weiter, bis es ihm gelang, das nächste Bein abzuschlagen. Das steinerne Insekt kippte auf die Seite und schlug wild um sich. Immer wieder haute Merlin zu, brach methodisch die Beine an der anderen Körperhälfte ab, mit unglaublicher Kraft.

Sogar ein wenig zu kräftig, denn als er in die Lücke zwischen Schädel und Brustkorb der Ameise schlug, brach der Griff, der Hammerkopf flog durch die Luft und prallte gegen die Wand.

»Verflixt«, murmelte Merlin. Er versuchte, die noch immer zappelnde Kreatur durch die Luke hinabzustoßen, doch sie drückte sich mit beiden Hinterbeinen vorwärts. Er erhaschte einen Blick auf den Minotaurus unten an der Leiter. Sobald die Ameise aus dem Weg wäre, würde das stierköpfige Monster hochklettern und die Streitaxt schwingen.

»Viv!«, rief er, rannte in die Ecke, hob ein gusseisernes Zahnrad auf und schob es sich über die Hand wie einen unorthodoxen Schlagring. »Wir müssen hier weg!«

Vivien antwortete nicht. Sie hielt noch immer die Luft an, während Susan weiterzeichnete.

Merlin verpasste einem Hinterbein der Ameise einen vernichtenden linken Haken, der die Gliedmaße durch die Luft fliegen ließ. Dennoch gelang es dem Steininsekt, sich ganz in den Raum zu schieben, gerade so weit, dass die Luke frei war. Hinter ihm tauchte der Minotaurus auf. Seine Schultern waren kaum schmaler als die Luke, und Merlin bedauerte, dass der Zugang nicht kleiner oder der Minotaurus nicht breiter war.

Trotzdem würde die Kreatur eine kostbare halbe Minute brauchen, um sich hindurchzuzwängen. Zeit genug für Merlin, zu seiner Tasche zurückzukehren, das Zahnrad fallen zu lassen und sowohl den Smython als auch den Morgenstern aufzunehmen. Vivien stand reglos neben Susan, die rechte Hand auf ihre Schulter gelegt. Susans Stift tanzte nach wie vor flink über die schwarze Tafel.

Merlin zielte genau und feuerte alle sechs Schuss auf den rechten Ellbogen des Minotaurus ab, der sich durch die Luke mühte. Steinsplitter platzten ab, und Querschläger flogen umher, zum Glück nicht in Richtung des gewölbten Fensters. Der Arm war definitiv beschädigt, aber nicht genug, um abzubrechen, und im nächsten Moment war der Minotaurus im Raum und stürmte auf Merlin zu. Der griff ebenfalls an, wich einem waagrechten Hieb der Streitaxt aus, während er den Morgenstern mit dem Katzenkopf auf den Arm der Statue schmetterte. Dabei brüllte er das Geschöpf an, um dessen ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Leider erfolglos. Die Steinskulptur stapfte auf die wehrlosen Frauen zu und hob die Axt. Merlin schleuderte den Morgenstern von sich und packte den Arm der Kreatur. Endlich brach das durch die Schüsse geschwächte Gelenk, und Merlin hielt den Unterarm des Minotaurus mitsamt der Axt in seinem Griff. Sofort holte er mit Arm und Axt aus und zielte zwischen die Hörner der Kreatur, die soeben den Kopf senkte, um Susan und Vivien hinterrücks aufzuspießen.

Unter der Wucht des Hiebs zerbarst die Steinaxt, und Merlin hielt nur noch ein Stück des Monsterarms in der Hand. Auf einem Huf balancierend, wankte der Minotaurus zurück. Merlin warf den Steinarm nach ihm, sprang hoch und versetzte ihm mit den Absätzen seiner Doc Martens einen Doppeltritt, der ihn von Susan und Vivien wegstieß. Hart ging die Kreatur zu Boden und brach sich dabei ein Horn ab.

Merlin las das Zahnrad auf. Er packte es mit beiden Händen und schlug damit auf den Kopf des Minotaurus. Der wollte wieder auf die Beine kommen, doch der Buchhändler schlug immer wieder zu, bis der Stierkopf mit lautem Knacken barst und die Statue so starr wurde, wie Stein sein sollte.

Doch schon kletterte das nächste Geschöpf in den Raum. Der Löwe, der etwas zu groß für die Luke war, zwängte sich mit so viel Kraft hindurch, dass der Rahmen zersplitterte. Merlin konnte unten noch mehr Statuen hören, und zweifellos würden weitere von der Allee herbeikommen. Der Urherrscher konnte fünf gleichzeitig beleben und würde immer mehr schicken.

»Viv!«, rief Merlin. »Wir müssen hier wirklich weg!«

»Okay«, antwortete seine Schwester sanft. Dankbar atmete sie durch, erhob sich und half Susan auf die Beine. Die hielt die Tafel in der Hand, die nicht länger nur schwarz war, sondern eine wunderschöne Naturszene zeigte, gezeichnet mit Silbertinte. Eine kleine Sandinsel mit einem hohen Felsen am Ende, umgeben von einem Kiesufer inmitten eines schmalen Flusses. Bäume wuchsen zu beiden Seiten des Wasserlaufs, Weiden auf der einen Seite, Erlen auf der anderen, und dahinter waren Wiesen zu sehen.

Die Zeichnung leuchtete mit einem inneren Licht, das Silber war heller als jede Tinte.

»Halt das Bild hoch, Susan«, wies Vivien sie an. »Schließ deine Augen und stell dir diesen Ort noch einmal vor. Öffne sie erst wieder, wenn ich es dir sage. Merlin, komm her. Wir müssen die Karte berühren, du mit der linken Hand, ich mit der rechten.«

Merlin war so schnell bei ihnen, als hätte er sich teleportiert, und schnappte sich auf dem Weg die Reisetasche. Er schaute Vivien an und erkannte, dass sie nicht genau wusste, ob es klappen würde. Hinter ihnen zog der Löwe seine Hinterbeine durch die Luke.

Vivien und Merlin berührten die Karte, als die Skulptur sich ihnen zuwandte. Mit den Hinterpfoten schob der Löwe Steinsplitter der Ameise und des Minotaurus weg, während er sich zum Sprung bereit machte.

»Öffne die Augen! Erblicke deinen vertrauten Ort!«, rief Vivien.