Kapitel 13

Bath, Sonntag, 11. Dezember 1983

Sally Lunn: Ein Teekuchen, benannt nach Sally Lunn, einer Konditorin aus Bath, die ihn gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit lauter Stimme anpries und direkt aus ihrem Korb verkaufte.

Susan trat wieder in den kühlen Nebel hinaus. Hinter ihr schloss sich die Tür, doch sie blickte nicht zurück. Merlin, Vivien und Diarmuid schienen sich kaum oder gar nicht gerührt zu haben, sie standen noch wie zuvor im Schnee. Mit dem einzigen Unterschied, dass nun alle blau-schwarze Mützen trugen, auf denen leuchtend gelb »Polizei« stand.

Merlin schaute auf die Uhr. »Vierzehn Minuten, dreißig Sekunden. Zumindest für uns. Ich hoffe, du hast etwas bei der Unterredung erfahren?«

»Für mich hat’s viel länger gedauert«, sagte Susan. »Glaube ich.«

Sie blinzelte ein wenig benommen und betrachtete die Nebelschwaden über Merlins Kopf. Ihre Nase fühlte sich plötzlich sehr kalt an. »Sie hat mir einige Fragen beantwortet. Wir sollten zurückgehen und mit den anderen reden.«

»Das sind gute Neuigkeiten.« Merlin deutete in eine Richtung. »Evangeline und Una haben sich in Sally Lunn’s Eating House zurückgezogen. Sie haben es im Interesse der nationalen Sicherheit übernommen, da es zwar nah am Tatort liegt, aber nicht zu nah. In Wahrheit wollen sie nur dem schrecklichen Tee und Proviant der Navy entkommen. Torrants Idee mit der Terroristenbombe hat hohe Wellen geschlagen. Jetzt versucht sie, die Sache herunterzuspielen, aber dafür ist es zu spät. Das ganze Stadtzentrum von Bath ist abgeriegelt, und aus allen Nachbarstädten rückt Verstärkung an, auch von der Metropolitan Police. Hörst du den Hubschrauber?«

»Ja.« Susan hatte bislang nicht darauf geachtet, aber jetzt nahm sie das tiefe Rattern eines Hubschraubers wahr, der irgendwo über ihnen im Nebel kreiste. Sie schüttelte sich. »Ich hoffe, ich muss da nicht mitfliegen. Oder mit einem anderen Hubschrauber.«

Sie hatte mit Merlin und Vivien schon einmal einen Helikopterunfall überlebt. Sie wollte nie wieder in einen einsteigen.

»So schlimm war das doch nicht«, sagte Merlin.

»Wir sind abgestürzt «, erwiderte Susan.

»Und haben überlebt«, fügte Merlin fröhlich hinzu. Er zog eine Polizeimütze aus seiner Tasche, reichte sie ihr und nahm ihr den Hut ab. »Zieh die an. Sie soll verhindern, dass andere Polizisten auf uns schießen. Falls wir bewaffneten Einsatzkräften begegnen, nimm die Hände hoch. Halte sie unbedingt weg vom Körper. Im näheren Umkreis sollten zwar keine Trupps unterwegs sein, aber bei diesem Nebel und den vielen Einheiten weiß man nie.«

Susan setzte die Mütze auf und zog sie sich über die Ohren, an denen sie viel stärker fror als erwartet. Sie bedauerte, vorhin auf dem Weg vom Empire Hotel nicht die Kapuze ihres Skianzugs über den Hut gezogen zu haben. Die Strecke war so kurz, dass sie gedacht hatte, es wäre nicht nötig, doch nun hatte sie das Gefühl, eine Menge Körperwärme eingebüßt zu haben. Sie war müde und fror. Vielleicht war das aber auch eine Nebenwirkung der Audienz an Sulis Minervas Quelle. Die dampfende Wärme hatte nicht lange vorgehalten.

»Tee und Gebäck«, sagte Vivien beherzt. »Ich seh dir an, dass du das jetzt brauchst. Es ist nicht leicht, einen mythischen Ort zu betreten und wieder zu verlassen wie du gerade.«

Sie führte Susan am Ellenbogen, während Merlin vorausging und Diarmuid die Nachhut bildete, obwohl es nur ein paar Meter bis zu dem Teeladen waren. Dort wurde angeblich das berühmte Sally-Lunn-Gebäck verkauft, das in Wahrheit wohl auf eine clevere Werbekampagne aus den 1930er-Jahren zurückging.

Sie verließen den Abteikirchhof und bogen in die Abbey Street ein. Die gewaltige Platane des Abbey Garden ragte vor ihnen auf, ein wahrer Riese im Nebel. Susan blickte neugierig zu ihr zurück, als sie in die enge Gasse der Church Street einbogen. »Ist dieser Baum der Locus einer Wesenheit?«, fragte sie. »So wie Southaws Eibe?«

»Nein«, antwortete Vivien. »Das ist bloß ein Baum. Er ist nicht alt genug, nur ein paar Hundert Jahre. Außerdem würde Sulis Minerva kein anderes Wesen so nah an ihrem Hoheitsgebiet dulden.«

Sally Lunn’s befand sich in einem schmalen Reihenhaus mit geschwungenem Erkerfenster. Susan war erst ein Mal dort gewesen und hatte das berühmte Gebäck nicht sonderlich gemocht, war aber froh, ins Warme zu kommen, wo sie eine Tasse Tee bekäme. Sulis Minerva hatte ihr eine Menge zu denken gegeben.

Vor dem Teeladen wachten ein Polizist mit einer MP 5 von Heckler und Koch sowie CPO Kelly Hawkins mit ihrer Sterling-Maschinenpistole. Sie schauten zu Merlins Trupp, der sich durch den Nebel näherte. Die beiden senkten die Waffen erst, als Merlin etwa drei Meter entfernt stehen blieb und sagte: »Die Verdammten sind zurück, Kelly. Ich nehme an, unsere Chefinnen sind noch drinnen?«

»Sind sie«, antwortete Kelly. »Die stopfen sich bestimmt voll.«

»Dann leisten wir ihnen mal dabei Gesellschaft«, sagte Merlin. »Im Westen nichts Neues?«

»Bis jetzt nicht«, erwiderte Hawkins. Der Polizist lächelte dünn. Hawkins stellte ihn nicht vor, und er schien auch nichts über die Neuankömmlinge wissen zu wollen. Merlin ging voran, und die anderen folgten ihm nach drinnen. Susan hielt kurz inne und warf einen Blick ins Erkerfenster, in dem ein fröhliches Picknickszenario arrangiert war: Einige Puppen und Plüschtiere saßen um Wedgwood-Teller mit Sally-Lunn-Gebäck, das vermutlich aus Gips bestand.

Die Buchhändler hatten das ganze Obergeschoss in Beschlag genommen. Sie hatten die Hälfte der Tische weggeräumt, Evangeline gab ihre Befehle über das Ladentelefon durch und auf den übrigen Tischen lagen Karten, Bücher und Dokumente ausgebreitet. Nur hier und da standen Teetassen oder -becher und Teller, auf denen meist keine Sally-Lunn-Gebäckstücke, sondern andere Köstlichkeiten lagen.

Nicht alle Leute aus dem Notfallraum waren anwesend, wahrscheinlich waren sie noch im Empire Hotel beschäftigt. Rings um Una scharten sich jedoch linkshändige Buchhändler, und Inspector Greene war von Polizisten umringt, die alle Funkgeräte in der Hand hielten. Greene sprach in ein Gerät, das doppelt so groß war wie Merlins PF 8 und dessen lange Antenne die Decke streifte. Die Stimmen aus den Funkgeräten waren laut, verwirrend und überlagerten sich gegenseitig. Man hörte Anweisungen wie »Auf diesem Kanal Funkstille einhalten« und »Nur dringende Nachrichten«, und ständig sagte jemand: »Bitte wiederholen«, was völlig ignoriert zu werden schien. Es war sehr laut.

Susan ließ sich an einem Tisch bei der Tür nieder, nahm ihre Mütze ab und öffnete den Reißverschluss ihres Skianzugs. Nach der Kälte draußen war es hier drinnen zu warm – das klassische Dilemma von Zentralheizungen –, doch war die Wärme willkommen, und es roch nach köstlichem Gebäck. Vivien setzte sich neben Susan. Merlin rief einen Angestellten herbei, der den gleichen ausdruckslosen Blick hatte wie zuvor die Funker im Empire Hotel. Er nahm die Bestellung von Tee, Kaffee, Brötchen, Sandwiches, Gebäck und Muffins auf, während seine Augen auf einen Punkt irgendwo über Susans Kopf schauten.

»Manipuliert Evangeline wieder die Gedanken der Mitarbeiter?«, fragte Susan, als der Mann sich zurückzog.

»Das gefällt ihr ein bisschen zu gut«, gestand Merlin ein. »Es wird ihm nicht schaden. Im Nachhinein wird ihm alles nur wie ein sehr anstrengender Tag vorkommen, an den er sich lediglich verschwommen erinnert.«

Evangeline, die vielleicht ihren Namen gehört hatte, reichte das Telefon an einen Rechtshänder weiter, der das Gespräch für sie fortsetzte, und kam zu Susans Tisch, wie auch Una und Greene, wobei Letztere ihr Funkgerät einer grauhaarigen Mitarbeiterin übergab. Nach wie vor war es sehr laut. Es kursierte die Meldung, die Bombengefahr sei abgewendet und man könne aufatmen, doch das schien nicht zu allen durchzudringen, denn die Einsatzkräfte verlangten mehr Informationen oder spezifische Anweisungen; womöglich handelte sich auch nur um ranghohe Beamte, die einfach gern die eigene Stimme hörten.

An Susans Tisch standen nicht genug Stühle. Una blickte einen Buchhändler an, der einen weiteren Tisch und Sitzgelegenheiten herbeischleppte.

»Also …« Evangeline setzte sich und nahm eine majestätische Haltung ein. »Wir haben Fortschritte gemacht. Clement ist sich zu neunzig Prozent sicher, dass er das Haus und den Garten auf der Karte identifiziert hat. Es hieß …«

»… Alphabet House«, kam Susan ihr zuvor, die dem Impuls nicht widerstehen konnte.

»In der Tat«, sagte Evangeline. »Das ist die Bestätigung. Ich nehme an, Sulis Minerva war entgegenkommend?«

»Ich denke schon«, erwiderte Susan. »Sie meinte, Alphabet House sei aus minderwertigem Purbeck-Marmor gebaut worden, nicht aus dem Marmor der Wesenheit, sondern aus dem der umliegenden Gesteinsschichten. Das Material sei den Avon hinauf- über den Kennet and Avon Canal bis hinter Bath transportiert worden. Sie kannte allerdings den Zielort nicht genau.«

»Claude hat herausgefunden, dass das Anwesen bei Bradford-on-Avon stand. Er fand einen Hinweis auf ein ›Alphabetic House‹ in den Briefen über das Manuskript von Evelina , die Fanny Burney mit ihrem Verleger Thomas Lowndes wechselte. Darin werden auch die ›merkwürdigen Statuen‹ erwähnt. Bislang haben wir den Standort weder auf einer Karte finden noch genau bestimmen können. Es ist nützlich zu wissen, dass der Stein den Kanal hinaufkam.« Sie wandte sich dem telefonierenden Buchhändler zu und hob die Stimme. »Prahdeep, sag Claude, der Stein wurde den Kennet and Avon Canal hochgeschifft. Der Abschnitt auf der Karte ist wahrscheinlich eine Verlängerung, die inzwischen zugeschüttet wurde.«

Prahdeep nickte und sprach weiter.

»Das dürfte das Gebiet wohl hinreichend eingrenzen, um den Standort bald zu ermitteln«, sagte Evangeline. »Was hat Sulis Minerva dir noch erzählt, Susan?«

Susan berichtete, was sie über Gwyre erfahren hatte, auch bekannt als »Steinerne Lady«. Sie berichtete vom Alphabet House, der Zauberin Everilda Gibbons und deren Tochter. Sie erwähnte weder die Armschiene aus Bronze noch Sulis Minervas Warnung, dass die Buchhändler nach wie vor eine Gefahr für Susan seien.

»Everilda Gibbons«, sinnierte Evangeline. »Die uneheliche Tochter von Grinling Gibbons. Ich erinnere mich, dass sie eine bekannte Magierin war, aber nie geächtet wurde. Meine Mutter hatte ein paar Vereinbarungen mit ihr getroffen. Gibbons hat uns über bestimmte Wesen in Dorset auf dem Laufenden und bei Laune gehalten, während sie zweifellos nichts Gutes im Schilde führte.«

Wieder wandte sie sich Prahdeep zu und wies ihn an, Nachforschungen über Everilda Gibbons, deren Kinder und alles anzustellen, was mit ihr in Verbindung stehen könnte. Außerdem solle Claude auf der Isle of Purbeck nach einem Steinbruch oder nach Resten von »Gwyre« suchen.

Susan hörte ihr zu und fragte sich, wie alt die rechtshändige Buchhändlerin wohl sein mochte. Sie hatte angenommen, Evangeline sei zur Zeit der Waterloo-Schlacht eine junge Frau gewesen, denn sie hatte einmal erwähnt, Merrihew habe ihr »den Liebhaber gestohlen«. Doch mussten die beiden damals nicht zwingend jung gewesen sein, das hatte Susan lediglich vermutet. Evangeline war gewiss mehrere Hundert Jahre alt, vielleicht sogar noch älter. Ein verstörender Gedanke. Bisher hatte Susan die Buchhändler als Menschen mit besonderen Kräften betrachtet, doch womöglich waren sie den Wesen der Alten Welt ähnlicher als gedacht. Eine so hohe Lebensspanne führte sicherlich dazu, dass man sich vom normalen Leben und von gewöhnlichen Menschen entfremdete.

Das könnte ihr ebenfalls blühen. Würde Susan auch so lange leben? Wie würde sie sich dadurch verändern? Sie musste über so vieles nachdenken. Vielleicht würde sie einfach zu einem Teil von Coniston werden. In den Stein sinken, als wäre er ein bequemes Bett. Sie spürte regelrecht, wie der Berg sie willkommen hieß …

»Susan? Hast du das gehört?«, fragte Merlin aufgeregt.

Sie öffnete die Augen, ohne sich erinnern zu können, sie überhaupt geschlossen zu haben. Sie war wohl kurz weggetreten gewesen. Der Tag hatte so ereignisreich begonnen, dabei war noch nicht einmal Mittag. Doch nun standen Tee und ein Sally-Lunn-Gebäckstück vor ihr. Rasch trank Susan einen Schluck, biss von dem Gebäck ab und sah Merlin an, als wäre sie die ganze Zeit aufmerksam gewesen. Das wollte sie ihm auch sagen, aber der Bissen hinderte sie daran, und außerdem hätte Merlin ihr ohnehin nicht geglaubt.

»Das hast du nicht … oder doch?«, fragte Merlin.

»Mmh«, machte Susan und versuchte zu schlucken.

»Alle aufgepasst«, rief Una. »Pauline hat sich gerade aus Chippenham gemeldet. Drei Freimaurer wurden auf ihrem Hof verhaftet, aber noch wichtiger ist: Gwyres Matronenskulptur war dort und wurde neutralisiert. Zwei meiner Leute sind verletzt, haben jedoch nur Knochenbrüche und dergleichen erlitten. Inspector Greenes Sergeant Lalonde liegt mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus, es geht ihr aber den Umständen entsprechend gut. Ich denke, insgesamt ist das ein echter Fortschritt.«

Endlich hatte Susan den Bissen heruntergeschluckt. »Was bedeutet ›neutralisiert‹?«

»Sie konnten die Statue zunächst nicht zertrümmern, aber meine Linkshänder hielten sie fest, während die Rechtshänder die darin hausende Wesenheit austrieben. Wahrscheinlich hat sie sich nach Alphabet House zurückgezogen oder möglicherweise in die Vettelstatue. Nach der Austreibung haben wir den Stein in kleine Stücke zertrümmert, in Sondermüllcontainer gepackt und an einen Ort gebracht, wo wir derlei Dinge aufbewahren. Daher sollte es Gwyre jetzt nur noch möglich sein, in einer Gestalt auf ihre rituelle Jagd zu gehen: als alte Vettel. Vorausgesetzt, Sulis Minerva hatte recht, was die Jungfrau betrifft. Das werden wir gewissenhaft überprüfen.«

»Das erhöht deine Sicherheit, Susan«, warf Evangeline sanft ein. »Und wir ergreifen natürlich weitere Maßnahmen, um sie zu gewährleisten.«

»Was genau?«, fragte Susan.

Evangeline nippte nur genüsslich an ihrem Tee, den sie aus einer richtigen Tasse mit Untersetzer trank. Ein altes Royal-Doulton-Leonora-Muster aus den 1930er-Jahren, wie Susan feststellte.

»Ich bin wirklich sehr daran interessiert, am Leben zu bleiben, wissen Sie«, sagte Susan.

»Ja«, erwiderte Evangeline. »Merlin ist für deine unmittelbare Sicherheit zuständig. Trotzdem lassen wir alle erwachten Urherrscher Londons überwachen, ob die Steindame die Stadt betritt oder dort ihre Macht ausüben will. Sollte das der Fall sein, werden sie uns warnen und ihr den Weg versperren. Die meisten Urherrscher sind ihr ohnehin von Natur aus feindselig gesonnen und würden sie abweisen. Aber wenn wir betonen, dass es unser Wunsch ist, werden auch die neutraleren Wesen sie aus ihrem Gebiet fernhalten. Wir kümmern uns bereits darum, und ich gehe davon aus, dass wir die nötigen Vereinbarungen getroffen haben, ehe du heute Nachmittag nach London zurückkehrst. Das hattest du doch vor, richtig?«

»Ja«, sagte Susan. »Was bedeutet ›unmittelbare Sicherheit‹?«

»Du brauchst Schutz bis nach der Wintersonnenwende. Oder bis wir Gwyres Vettelstatue neutralisiert und Alphabet House zerstört haben«, erklärte Evangeline.

»Okay. Aber ich habe einiges zu erledigen und werde mich nicht irgendwo verstecken. Ich muss zur Uni, habe eine Stelle im Pub und so weiter.«

»Das solltest du alles schaffen«, sagte Merlin. »Wir behalten dich nur im Auge. Und … äh … es wäre gut, wenn du bis nach der Sonnenwende in eine sichere Unterkunft ziehen könntest.«

»Die Pension am Milner Place?«, fragte Susan düster. Dort war sie von Kobolden und einem Fenriswolf entführt worden und die Vermieterin, Mrs London, war dabei umgekommen.

»Nein«, antwortete Inspector Greene enthusiastisch – was recht ungewöhnlich war für jemanden, für den Zynismus so selbstverständlich war wie die allgegenwärtige Lederjacke. »Wir haben einen neuen Unterschlupf für Leute wie dich. Frei stehend, um Probleme mit angrenzenden Dächern und kletternden Kobolden zu vermeiden. In der Nähe der Abbey Road, in St. John’s Wood. Ziemlich schick.«

»Der Kauf des Gebäudes hat unser Budget überschritten. Die Pension am Milner Square hat zwar einen guten Verkaufspreis erzielt, aber die neue war mindestens doppelt so teuer«, beschwerte sich Evangeline. »Sie hat allerdings eine gute Bibliothek, die im Kaufpreis inbegriffen war.«

»Du weißt inzwischen viel mehr darüber, was alles passieren kann«, sagte Greene zu Susan. »Jetzt kannst du nicht mehr einfach nach Hause gehen, wie ich es dir damals geraten habe. Zieh in den Unterschlupf und akzeptiere den Schutz. Ich stelle zusätzliche Beamte ab für den Fall, dass noch mehr Freimaurer der Steindame in der Nähe sind.«

»Ihr solltet eure Leute noch mal überprüfen«, riet Merlin. »Mir machen vor allem Freimaurer Kopfschmerzen, die vielleicht nicht zu Gwyres Spezialloge gehören, aber ihr aus Solidarität oder dergleichen helfen könnten. Ohne zu wissen, was wirklich auf dem Spiel steht.«

»Ich werde meine Leute gut auswählen.« Greene zog eine Grimasse. »Es gibt eine Menge Freimaurer in der Metropolitan und auch im Innenministerium. Jemand könnte auf die Idee kommen, Susan einfach zu verhaften, in einen Vorstadtknast zu bringen und dort verschwinden zu lassen. So was ist schon passiert. Noch ein Grund, warum du ein paar meiner Leute zum Schutz brauchst. Es ist besser, wenn sie alle Freimaurer im Polizeidienst vorwarnen, damit die Buchhändler sie nicht umbringen müssen.«

»Toll«, sagte Susan. »Dann hab ich also nur linkshändige Buchhändler und Zivilpolizisten um mich? Jeder wird glauben, ich hätte mich in Lady Di verwandelt.«

Greene erschauderte. »Ich hab die verdammte königliche Hochzeit noch immer nicht verkraftet. Da wurden wir auch mit hineingezogen, zusammen mit jedem armen Trottel, der an dem Tag keinen Mordfall oder Besseres zu bearbeiten hatte. Menschenmengen zu überwachen ist nicht meine Stärke, das kann ich dir sagen. Aber in deinem Fall werden wir uns sehr um Diskretion bemühen, und Merlins Leute sicher auch, oder?«

»Natürlich«, versicherte Merlin. »Das übernehmen nur ich und vier andere Linkshänder. Und falls es dir recht ist, Vivien, noch drei Rechtshänder.«

»Definitiv Lady Di!«, protestierte Susan. »Das hatte ich mir echt anders vorgestellt.«

»Das dauert nur bis zur Wintersonnenwende«, beschwichtigte Merlin sie. »Etwas länger als eine Woche.«

»Die Überstunden werden mein Budget sprengen.« Greene schaute Evangeline hoffnungsvoll an. »Vielleicht könnten Sie sich eine Sonderprämie abringen?«

»Unser Budget für die Zusammenarbeit mit der Staatspolizei ist durch den Kauf und die Ausstattung des neuen Unterschlupfes völlig erschöpft«, erklärte Evangeline. »Haben Sie eine Ahnung, wie teuer es war, alle Fenster und Türen mit Silber zu verkleiden? Ganz zu schweigen von der Arbeitszeit, die für die Schutzzauber draufging. Zehn meiner besten Leute waren eine Woche lang damit beschäftigt …«

»Evangeline«, unterbrach Una sie. »Vielleicht sparst du dir das für den Finanzausschuss auf?«

»Hm, ja. Manchmal denke ich, wir sollten Thurston wieder die Leitung übertragen. Er mochte die Sitzungen des Finanzausschusses.«

Una schnaubte – eine Geste, die bestens zusammenfasste, wie alle über Thurston dachten. Seine laxe Führung der rechtshändigen Buchhändler hatte dazu geführt, dass Merrihew, die ehemalige Anführerin der Linkshänder, das Kommando übernahm. Im Anschluss war sie eine höchst illegale und heimtückische Partnerschaft mit einem bösartigen Urherrscher namens Southaw eingegangen. Infolgedessen war viel Schreckliches geschehen, darunter die Ermordung von Merlins und Viviens Mutter und die Gefangennahme von Susans Vater. Mit dem Namen Thurston konnte man also nicht punkten.

Evangeline, die das zu spät erkannte, wechselte rasch das Thema. »Du brauchst höchstens für eine Woche Schutz. Womöglich nur ein paar Tage. Wir haben bereits gute Fortschritte gemacht. Wer weiß, vielleicht haben wir dieses Gwyre-Wesen im Handumdrehen im Griff.«

Susan nickte müde. »Hoffentlich. Ich will ein möglichst normales Leben führen.«

Darauf erwiderte niemand etwas, was bereits Bände sprach.

»Noch Tee, Susan?«, fragte Vivien. »Deiner ist wahrscheinlich schon kalt geworden.«

Susan ließ sich dankend heißen Tee nachschenken. Sie nippte an der Tasse, aß den Rest ihres Gebäckstücks und dann ein Sandwich mit Ei und Kresse. Sie achtete kaum auf die Buchhändler und Polizisten, die weiter in ihre Funkgeräte sprachen, lauschte nicht den Antworten, den knisternden, heulenden und piependen Geräten mit abhörsicheren Leitungen oder den ein- und ausgehenden Boten. Inmitten von alledem servierten die Kellner mit ihrem Tunnelblick Gebäckstücke und Sandwiches, Tee, Kaffee und heiße Schokolade. Susan bemerkte, wie sich Greene heimlich einen Kakao nahm und so tat, als trinke sie Kaffee.

Vor dieser Kulisse allgemeiner Hektik beugte sich Merlin dicht zu Susan und flüsterte: »Willst du los? Wir können in ungefähr drei Stunden im Unterschlupf sein, sobald unsere M4 startet. Im Westen hat es aufgehört zu schneien, und hinter Reading hat es nie richtig angefangen. Da gab es nur ein paar Graupelschauer und Regen.«

»Ich würde gerne zurück in mein beschissenes WG -Zimmer«, antwortete sie. »Aber ich weiß, dass das unvernünftig ist.«

»Der neue Unterschlupf hat ein echtes Bad«, sagte Merlin. »Und immer heißes Wasser. Und er ist beheizt. Richtig, meine ich.«

»Hmmm, das klingt viel verlockender, als es sollte.« Susan teilte sich ein heruntergekommenes Reihenhaus in King’s Cross mit drei oder manchmal vier anderen Kunststudenten, je nachdem, ob sich jemand überreden ließ, in der ehemaligen Speisekammer zu schlafen. Dort gab es nur eine Dusche, keine Badewanne und ein »sparsames« Warmwassersystem, das nur einmal am Tag genug heißes Wasser für fünfzehn Minuten lieferte. Sie erhitzten Wasser auf dem Herd, um das Geschirr zu spülen und sich selbst zu waschen. Außerdem gab es überhaupt keine Heizung, weshalb sie ihr Domizil auch »Eispalast« nannten.

»Ich kann deine Sachen holen, sobald du eingezogen bist«, sagte Merlin. »Deine Skizzenbücher und alles andere.«

»Es wäre gut, von all dem hier wegzukommen, nur …« Susan seufzte und sah ihn reumütig an. »Wenn ich nach London zurückkehre, stecke ich noch immer in der Sache drin, oder?«

»Du bist dort sicher«, bekräftigte Merlin. »Dafür werden wir sorgen. Auch auf dem Transport.«

»So hab ich das eigentlich nicht gemeint. Aber ich will hier raus.«

»Okay.« Merlin hob seine Stimme. »Ich bringe Susan jetzt nach London, es sei denn, jemand hat einen guten Grund, warum wir noch warten sollten. Vivien, willst du mitkommen? Una, wen nehmen wir zum Schutz mit?«

Una und Evangeline wirkten ziemlich verärgert darüber, dass Merlin unaufgefordert aufbrechen wollte.

Evangeline antwortete als Erste. »Ihr solltet warten, bis wir die Bestätigung haben, dass alle Vereinbarungen getroffen wurden.«

»Es ist besser, bei Tageslicht in London anzukommen«, hielt Merlin dagegen. »Wir können uns unterwegs auf den neuesten Stand bringen.«

»Ich muss mit meinen Leuten ebenfalls zurück«, meldete sich Greene. »Torrant und ihre Einheit können die Einsatzzentrale leiten, bis wir den Fall abschließen, was ja nicht mehr allzu lange dauern dürfte. Wir können im Konvoi fahren.«

»Merlin, du kannst Diarmuid mitnehmen – und alle aus dem Kleinen Buchladen, die zurück nach London wollen«, sagte Una. »Lass mich das anders ausdrücken. Jeden aus dem Kleinen Buchladen, der in London stationiert ist. Cameron kann mit Torrant klären, was vor Ort getan werden muss. Das Ganze stufen wir als Operation des Kleinen Buchladens ein. Ich fahre sowieso heute noch nach Wooten. Ich soll da morgen ein Seminar über improvisierte Waffen halten.«

»Das kenne ich noch«, sagte Merlin. »Wer hätte gedacht, dass eine Wäscheklammer so gefährlich sein kann? Oder wie ich kürzlich zu meinem Vorteil herausfand: ein Regency-Häubchen?«

»Ich bin froh, dass du dich wenigstens an eine meiner Lektionen erinnerst, Merlin«, sagte Una. »Vielleicht besteht noch Hoffnung für dich.«

»Danke, Tante«, erwiderte Merlin. »Ich denke schon.«

»Obwohl ich dir immer noch nicht abkaufe, dass Emilia dir ihren Range Rover geliehen hat«, fuhr Una fort. »Nach dem, was mit ihrem Jensen passiert ist.«

»Das war eine dienstliche Notwendigkeit!«, protestierte Merlin. »Sie hat mir verziehen. Irgendwann.«

»Dann schlage ich vor, du gehst Emilias äußerst wertvolles Fahrzeug holen. Du kannst Susan am Empire Hotel auflesen. Wir kehren jetzt alle dorthin zurück und lassen die Bürger ihr Gebäck kaufen. Und die Therme öffnen wir auch wieder, sofern die Bombendrohung sich wirklich erledigt hat.«

»Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis alles wieder öffnet«, sagte Greene. »Die arme Torrant ist wahrscheinlich das ganze Jahr damit beschäftigt, die Bombengeschichte zu erklären.«

»Vielleicht sollten wir etwas in die Luft jagen, um ihr zu helfen«, sagte Una nachdenklich. »Torrant ist uns nützlich gewesen. Natürlich sprengen wir nicht die Therme. Nichts, was zu nahe an Sulis Minervas Reich liegt.«

»Äh, ich glaube nicht, dass das nötig oder clever ist«, sagte Greene hastig. »Hier gibt es ständig Bombendrohungen – von der IRA , der INLA , Baader-Meinhof und so weiter. Die wenigsten davon waren echt. Wir brauchen keine Bombe, weder echt noch erfunden. Davon gibt’s schon reichlich, und Torrant ist zäh genug, um mit Kritik umzugehen. Es besteht wirklich kein Anlass, etwas in die Luft zu jagen.«

»Sehe ich auch so«, sagte Evangeline scharf. »Wirklich, Una, du darfst dich nicht so gehen lassen.«

Una lächelte, aber es war schwer zu sagen, ob sie die Sache nicht doch ernst gemeint hatte.

»Ich hole das Auto«, sagte Merlin. »Es steht drüben bei der Polizeiwache in der Manvers Street. Ich brauche höchstens fünfzehn Minuten. Diarmuid, bleib bei Susan. Wir sehen uns gleich.«

Er sprang die schmale Treppe hinab, wobei er sechs Stufen auf einmal nahm.

»Das lief doch alles sehr gut.« Evangeline tätschelte Susans Hand. »Wie du siehst, musst du dir absolut keine Sorgen machen!«