Kapitel 16

London, Dienstag, 13. Dezember 1983

Feuer. (Angelsächsisch, fyr; griechisch p˜yr.) Ich bin selbst durchs Feuer gegangen und kenne seinen Geruch.

Fünf Stunden später saß Susan, eingepfercht zwischen Merlin, Vivien und Diarmuid, auf der Sitzbank eines sehr gut restaurierten oder hervorragend gewarteten Bedford-Heavy-Feuerwehrautos. Tante Druetha saß hinterm Steuer, neben ihr Tante Ceridwen und Tante Patricia, und alle drei sahen nicht älter als fünfundvierzig aus. Mit ihren gut sitzenden blauen Wollmänteln, den gummierten Hosen und den Blechhelmen mit rotem Rand wirkten sie wie echte Mitglieder der Hilfsfeuerwehr von 1940. Sie erweckten sogar den Eindruck, als hätten sie sich eben erst die Haare schneiden und wellen lassen, sodass ihre Frisuren trotz der Helme gut aussahen. Was daran lag, dass sie tatsächlich beim Friseur gewesen waren. Sie scherzten und sinnierten darüber, wie sie vor mehr als vierzig Jahren gemeinsam Brände bekämpft hatten, erzählten von ihren damaligen Kameradinnen, und trotz allen fröhlichen Gedenkens schwang deutlich eine gewisse Trauer über die persönlichen Verluste und Tragödien jener Tage mit.

Im Vergleich zu ihnen sahen die anderen nicht sehr überzeugend aus. Die Ärmel von Susans Uniformjacke waren ihr zu lang und der Helm zu groß. Sogar Merlins Aufzug saß nicht richtig, obwohl er zehn Minuten damit verbracht hatte, die Hose zu säumen, ehe sie alle in Audreys Taxi gestiegen und zum Treffpunkt mit den Feuerwehrtanten und ihrem Fahrzeug aufgebrochen waren.

»Sind sie Rechts- oder Linkshänderinnen?«, flüsterte Susan Merlin ins Ohr und hoffte, dass die plaudernden Tanten sie nicht über den lauten Motor hinweg hören würden – und falls doch, sollten sie zumindest so tun können, als hätten sie die Frage nicht gehört.

»Druetha ist beidhändig. Sie leitet eigentlich unsere Crawley-Tunnel-Library in Edinburgh. Sie ist extra heute Abend hergeflogen«, flüsterte Merlin. »Ceridwen und Patricia sind Rechtshänderinnen. Sie mussten nur von Thorn House rüberkommen.«

»Wenn du sagst, sie ist hergeflogen, meinst du mit einem Flugzeug?«, hakte Susan nach. Druethas grimmige Augen wirkten eher wie die eines Raubvogels und animierten Susan zu der Vorstellung, sie könnte irgendwie aus eigener Kraft durch den Himmel sausen.

Merlin runzelte die Stirn. »Mit British Caledonian nach Gatwick. Du denkst, sie ist eine Pilotin mit eigenem Flugzeug?«

»Nein«, sagte Susan und bedauerte ihren Scherz bereits.

»Ziemlich viele von uns sind tatsächlich Piloten«, fuhr Merlin ernst fort. »Vor allem Linkshänder.«

»Okay, wir haben Freigabe«, sagte Druetha, deren heiterer Plauderton nahtlos dem einer Einsatzleiterin wich. Greene hatte von der Giltspur Street signalisiert, dass die Polizei unter ihrer Leitung die Straße südlich der Cock Street gesperrt hatte. Ihre Beamten hatten am nördlichen Ende das Tor geöffnet, das normalerweise die Abfahrt vom großen Smithfield-Kreisverkehr verwehrte. Sie würden es hinter dem Feuerwehrwagen wieder schließen, sobald er hindurch wäre.

Der Motor des Bedford war beim Fahren sogar noch lauter, und Druethas knirschende Schaltvorgänge entlockten ihren Beifahrerinnen liebevolle Kommentare darüber, wie viel Geschick man für diesen Wagen brauche und dass moderne Feuerwehrautos mit Synchrongetriebe und dergleichen nur das wahre Können ihres Fahrers schmälerten.

Zum Glück herrschte dank Greenes Ablenkungsmanövern kein Verkehr, nur einige Sanitäter, die vor dem Hospital Tee tranken und rauchten, starrten dem alten Feuerwehrauto nach, das ruckelnd und mit bellendem Auspuff die Giltspur Street hinabfuhr.

»Okay, Susan, denk daran: Das Hoheitsgebiet des Golden Boy ist ziemlich klein. Wahrscheinlich erstreckt es sich nur fünfzig oder sechzig Schritt rings um das eigentliche Denkmal, das sein Locus ist«, erklärte Vivien. »Ich meine die Cherubskulptur in der Nische am Eckgebäude in der Cock Street. Ja, Diarmuid, wir wissen, dass die Straße nach den Bordellen benannt ist, die da früher waren.«

»Ich wusste das nicht«, sagte Susan. »Wirklich?«

Vivien nickte. »Ja. Wie ich schon sagte, steht die Statue in einer Nische an der Ecke Cock Street und Giltspur, etwas über Kopfhöhe. Wir haben offiziell keine Garantie für deine Sicherheit erhalten. Der Boy erteilt solche Zusagen nie, weil Feuer grundsätzlich unberechenbar ist. Ein Funke etwa, der zufällig auf dir landet, könnte sein Versprechen sofort zunichtemachen. Wenn die Sache also aus irgendeinem Grund schiefgeht, lauf über die Giltspur Street nach Norden, da solltest du aus dem Zweiten-Weltkriegs-Szenario herauskommen. Greene und ein paar unserer Leute sind dort zur Unterstützung postiert.«

»Ich bleibe in deiner Nähe«, versicherte Merlin ihr. »Vivien und Diarmuid müssen den Tanten helfen.«

»Es wird eine Menge Rauch, Lärm und Feuer geben. Das wird ziemlich beängstigend«, rief Druetha von vorn. »Wir kümmern uns um die Flammen, und ihr bleibt immer beim Wagen! Was auch passiert: Betretet keine Gebäude. Verstanden?«

Ein allgemeines »Ja!« erscholl von der Rückbank.

Vor dem Fußgängereingang des St.-Barts-Krankenhauses zündete sich ein Pförtner gerade eine Pfeife an, die er heimlich in den frühen Morgenstunden rauchen wollte. Plötzlich flackerte die Flamme seines Streichholzes so sehr auf, dass er die Pfeife fallen ließ, zurückwankte und verblüfft den Bedford angaffte, der in seine Richtung trudelte. Der Mann war alt genug, um den Zweiten Weltkrieg miterlebt zu haben.

»Der Junge ist erwacht«, sagte Druetha. »Läute die Glocke.«

Ceridwen griff nach oben und zog energisch an einem Griff, der die Glocke in der Halterung über dem Fahrerhaus zum Schwingen brachte. Ein energisches Ding-Ding-Ding übertönte das Dröhnen des Motors. Druetha lenkte nach rechts und raste auf die Ecke des Gebäudes zu, wo der Golden Boy von seiner Nische herunterschaute. Die nicht sonderlich guten Bremsen kreischten auf, und sie hatte das ungute Gefühl, dass der Wagen nicht rechtzeitig zum Stillstand kommen würde. Doch schließlich hielt sie genau vor der Ecke, zog die Handbremse an und schaltete den Motor in den Leerlauf.

»Mannschaft, Pumpe bereit machen und Schlauch ausrollen!«, rief sie, riss die Tür auf und sprang hinaus. Alle folgten ihrem Beispiel.

Als Susan auf dem Pflaster aufkam, veränderte sich die Welt. Die frühmorgendliche Ruhe des modernen Londons wich erstaunlichem Lärm. Überall waren Explosionen zu hören, von Bomben und Flakfeuer, so viele, dass sie zu einer ohrenbetäubenden Kakofonie verschmolzen. Susan spürte, wie der Boden vibrierte und die Luft zitterte. Der beißende Gestank nach Rauch war allgegenwärtig, die Schwaden wurden erhellt von rotem Licht, das überall zu glühen schien.

Aber der Lärm stammte nicht allein von Explosionen. Auch ein stetes Grollen war zu hören: das furchterregende Brüllen der hungrigen Feuersbrunst. Es war so laut wie ein startender Jet, dem man zu nah gekommen war, nur viel schlimmer, weil es nicht in der Ferne verklang. Wenn überhaupt, wurde es nur lauter.

Susan huschte vor das Feuerwehrauto und machte sich in ihrem Mantel ganz klein, als würde sie auf diese Weise ein schwierigeres Ziel abgeben. Plötzlich explodierte etwas ganz in der Nähe, begleitet vom schrillen Jaulen von Schrapnellen, die von einer Flakpatrone stammten. Susan stürzte gegen den Kühlergrill, konnte sich jedoch abstützen.

Sie hob den Blick und sah den Golden Boy in seiner Nische, einen kleinen Cherub mit verschränkten Armen. Er hob eine Hand und winkte ihr. An seinen Schultern breiteten sich kleine goldglänzende Flügel aus, die an die eines Zitronenfalters erinnerten, und er flatterte herab und verharrte vor Susan in der Luft. Seine Flügel schienen gerade groß genug, um ihn zu tragen, denn sie schlugen so schnell, dass man sie nur verschwommen sah.

Merlin trat dicht hinter Susan. Sie versuchte, nicht zusammenzuzucken, als hinter ihnen etwas explodierte und das rote Licht greller wurde. Ein Schwall heißer Luft traf auf ihren Nacken. Metall regnete aufs Straßenpflaster, noch mehr Schrapnelle von Flugabwehrgranaten, Bombenhülsen, abgeschossenen Flugzeugen. Druetha brüllte Befehle, die Pumpe des Wagens ergänzte die Kakofonie mit ihrem eigenen unverwechselbaren Rhythmus, und lautes Zischen ertönte, als die Schläuche in Betrieb genommen wurden und Wasser auf Flammen traf. Doch das war alles nichts im Vergleich zum triumphalen Gebrüll des Feuers.

»Sei gegrüßt, Tochter von Coniston«, sagte der Golden Boy. Für die Statue eines Kleinkindes klang er überraschend erwachsen und altmodisch. Mit den seltsamen Flügeln flatterte er ein wenig näher heran. »Und ich …«

Unvermittelt schoss er vor wie eine Wespe, die pummelige kleine Hand ausgestreckt. Merlin versuchte, ihn abzufangen, doch er kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Der Golden Boy berührte Susans Schulter – und alles veränderte sich.

»Ich entschuldige mich für das, was ich soeben tat und noch tun muss«, fuhr der Golden Boy fort und flatterte aus Susans Reichweite. Der Rauchgestank war noch allgegenwärtig, roch aber weniger ölig und metallisch als zuvor, eher wie Holzrauch. Der rote Lichtschein und das Gebrüll der hungrigen Flammen blieben unverändert, doch gab es keine Explosionen und herabregnenden Schrapnelle mehr. Susan nahm ihre neue Umgebung in Augenschein. Die Bedford-Pumpenmaschine war verschwunden, ebenso die Buchhändler. Die Straße hatte sich verändert, war viel ungleichmäßiger gepflastert und sehr schmutzig, mit einer Gosse, deren Abwassergestank fast den Rauch überlagerte. Das Gebäude mit der Statuennische sah anders aus: elisabethanisches Fachwerk über grob verputztem Mauerwerk.

»Ich konnte mich Lady Gwyre nicht widersetzen«, sagte der Golden Boy entschuldigend. »Obwohl mir bewusst ist, dass der Zorn der St. Jacques groß sein wird und ich dafür büßen werde. Ach je!«

»Warum konntest du dich ihr nicht widersetzen?«, fragte Susan wütend. Sie knöpfte den schweren Uniformmantel auf und griff in die Taschen der Lederweste, wo sie das Klappmesser und das silberne Zigarettenetui aufbewahrte. Vivien hatte ihr die Weste genehmigt, da sie ohnehin aus der Vorkriegszeit stammte, und Merlin hatte darauf bestanden, dass sie stets Messer und Salz bei sich trug.

»Grinling Gibbons schuf meine Gestalt, doch erst seine Tochter Everilda weckte das Große Feuer in ihr«, sagte der Golden Boy. Er stieg noch höher auf, flog rückwärts auf den Vorsprung zu – an dieser Stelle würde sich später seine Nische befinden. »Gewissermaßen bin ich ebenso ein Kind Everildas wie ihre Tochter. Also ist Gwyre sozusagen meine Stiefmutter. Familiäre Verpflichtungen müssen erfüllt werden, koste es, was es wolle.«

Susan reagierte, indem sie ihr Messer aufklappte, doch ehe sie sich’s versah, packten zwei kalte Arme sie von hinten um die Taille. Sie drückte sich an den Angreifer, versuchte ihm einen Stoß mit dem Feuerwehrhelm zu versetzen, doch der Helm flog ihr vom Kopf. Sie stemmte sich nach hinten, war jedoch außerstande, die Gestalt zurückzuschieben. Es war, als würde sie gegen eine Wand drücken. Mühelos hob der Angreifer sie hoch, drehte sie um und warf sie sich über die Schulter aus grauweißem Purbeck-Marmor. Susan wurde von der Statue eines mittelalterlichen Heiligen fortgeschleppt, eine zwei Meter große Figur unbestimmten Geschlechts in gegürtetem Gewand und Römersandalen. Womöglich hatte sie einmal eine Krone getragen, die aber rings um den Kopf zu einem Ring aus seltsamen kleinen Knubbeln verwittert war. Der Rosenkranz und das Kreuz am Gürtel waren besser erhalten und deutlich zu erkennen.

Der steinerne Heilige lief in zügigem Tempo Richtung Süden, folgte der verrauchten Giltspur Street, vorbei an einer Eimerbrigade aus verrußten, aufgeschreckten Menschen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Sie schrien, bekreuzigten sich, fielen in Ohnmacht und begannen laut zu beten, mit Ausnahme eines stämmigen Kerls, der seine Axt hob, ihnen nachlief und etwas vom Teufel schrie.

»Nein, nicht!«, rief Susan ihm zu. Die Axt würde nicht viel gegen die Statue ausrichten, und die Gefahr war groß, dass er Susan treffen würde. Zappelnd versuchte sie sich zu befreien, doch der Heilige hatte einen Arm um ihre Taille geschlungen, der einem Reif aus solidem Stein gleichkam.

Der Mann mit der Axt folgte ihnen noch immer und brüllte etwas vom Teufel, bis plötzlich der ganze Rauch, das Feuer und der Lärm wie auf Knopfdruck verschwanden. Das rote Licht war dem kalten Schein moderner Straßenlaternen gewichen.

Sie hatten das Hoheitsgebiet des Golden Boy verlassen und waren zurück im Jahr 1983. Drei uniformierte Polizisten standen vor ihnen an einem leicht flatternden Absperrband, das über die Straße gespannt war. Fassungslos starrten sie die plötzliche Erscheinung an und verloren wertvolle Sekunden, während die Statue an ihnen vorbeischritt, die zappelnde Susan auf der Schulter. Sie lief durch das Absperrband wie der Sieger eines Wettlaufs.

»Verständigen Sie Inspector Greene!«, brüllte Susan. »Und halten Sie Abstand!«

Eine Polizistin sprach mit geneigtem Kopf in ihr Funkgerät, die beiden anderen folgten der Skulptur mit gezogenen Schlagstöcken. Die Statue beachtete die Beamten nicht und eilte weiter, der Tritt ihrer schweren Füße hallte durch die Nacht wie Hufgeklapper. Sie ging geradeaus über die Newgate Street, und Susan war froh, dass kein Verkehr herrschte. Nur ein Bus musste abbremsen, um die Kollision mit ihnen zu vermeiden, und ein Auto, das in die entgegengesetzte Richtung fuhr, hielt kurz an, bis die Fahrerin die Polizisten sah und wieder losfuhr. Susan hörte hinter sich Sirenen, mit ziemlicher Sicherheit von Greenes Einsatzwagen, die die Verfolgung aufnahmen. Hoffentlich saßen Merlin und die anderen Buchhändler darin.

Da die Statue Susan mühelos hätte zerquetschen können, wollte sie sie vermutlich nur entführen, nicht ermorden. Kurz war sie versucht nachzuschauen, in welche Richtung sie genau liefen, denn dort wäre Gwyre zu finden. Doch sie ließ von dem Gedanken ab, als sie sah, wie die Polizisten innehielten, sich duckten und Deckung suchten. Warum sie das taten, konnte Susan vom Rücken des steinernen Heiligen nicht erkennen, aber ein paar Sekunden später lieferten ihr zwei dröhnende Schüsse die Antwort.

Susan nahm das Zigarettenetui, schob es sich in den Mund und biss so fest zu, dass ihre Zähne schmerzten. Dann ritzte sie sich mit der unglaublich scharfen Klinge des Klappmessers in die Handfläche. Das Messer schnitt tiefer als gewollt, und sie hätte fast vor Schmerz aufgeschrien und das Etui fallen lassen. Weitere Schüsse ertönten, und ein bärtiger Mann mit Latzhose und Freimaurerschürze schritt von hinten an ihnen vorbei. Er hielt eine extrem lange doppelläufige Schrotflinte und bezog vor einem modernen Bürogebäude Stellung, hinter einer Zierhecke. Er feuerte erneut mit beiden Läufen auf die erste Reihe der Polizeifahrzeuge, die mit Blaulicht und Sirene auf der Giltspur Street heranrasten.

Die Statue bog in eine Gasse ein, die für Autos zu eng war. Susan neigte den Kopf und sah, dass nun ein anderer Freimaurer mit Schürze voranging und der Skulptur beständig zuwinkte, als ob sie einen Führer bräuchte. Susan wechselte das Messer in die blutige Hand, wobei es ihr beinahe entglitt. Sie verfluchte sich dafür, die Prozedur nicht geübt zu haben, und öffnete das Zigarettenetui. Auch das ließ sie fast fallen, doch es gelang ihr, ein wenig Salz über das blutverschmierte Messer zu schütten. Sie klappte das Etui zu, klemmte es sich wieder zwischen die Zähne und nahm das Messer in die rechte Hand.

Danach zögerte Susan eine volle Minute, denn durch das, was sie vorhatte, würde sie sich um einen weiteren Schritt von ihrem Menschsein entfernen. Unterdessen lief die Statue immer weiter, angeführt vom Freimaurer, und wer wusste schon, wohin?

Der alte Marmor wies zahlreiche Risse und kleine Spalten auf. Susan entschied sich für einen Riss hoch oben im Rücken und stieß das Messer hinein. Sie schob die Klinge leicht angewinkelt hin und her, damit sich das Salz-Blut-Gemisch auf dem glatten, muschelgemusterten Marmor verteilte.

»Du wirst mir dienen! Ich bin deine Meisterin!«, murmelte sie mit dem Zigarettenetui zwischen den Zähnen. Es hörte sich an wie: »Duwirss mia dienan, isch bim die Meischrin.«

Nichts geschah.

Susan nahm das Etui aus dem Mund und versuchte es erneut. Diesmal sprach sie die Worte mit grimmiger Entschlossenheit. »Du wirst mir dienen! Ich bin deine Meisterin!«

Die Statue erzitterte, und die Blutflecken auf ihrem Rücken leuchteten rot auf wie eine untergehende Sonne im Sturm. Unvermittelt spürte Susan die Wesenheit in der Skulptur, ein kleines, wildes Geschöpf, das rein instinktiv handelte und im Stein gefangen war. Es wollte kämpfen oder fliehen, war aber zu beidem außerstande.

»Ich bin deine Meisterin«, wiederholte Susan ohne jeden Zweifel in der Stimme.

Sie war die Herrin des Wesens.

Das Ding, der Geist oder was immer es war, zuckte bei jedem Wort zurück. Susan spürte, wie es nachgab und sich unterwarf. Es war gar kein richtiges Geschöpf. Eher ein sehr beschränkter, winziger Teil von etwas viel Größerem, ein Fragment von Gwyre, der Steinernen Lady.

Susan konnte in seinen höchst rudimentären Verstand blicken. Es hatte erst vor ein paar Tagen sein schwaches Bewusstsein erlangt. Sie erlebte mit, wie das Wesen erstmals erwacht war, sich in der Skulptur ausgebreitet und gelernt hatte, den Stein zu bewegen. Das war in einer dunklen Höhle geschehen, in Anwesenheit der Vettel. Die Statue war von einem halben Dutzend Freimaurer herbeigeschafft oder genauer gesagt auf einer Art Fließband in die Kaverne transportiert worden und dort im Liegen erwacht. Sie stieg vom Band, ein Freimaurer führte sie daran entlang durch einen Tunnel, eine Rampe aus Brettern hinauf, die sich ächzend unter ihrem Gewicht bogen, bis zu einer Lore. Damit fuhren sie eine Zeit lang durch völlige Dunkelheit, und danach folgte die Statue dem Freimaurer zu einem schmalen Boot an einem Fluss oder breiten Kanal. Als sie vom Steg trat, brach der unter ihrem Gewicht zusammen.

Später lud man sie an einem schattigen Strand am Fluss ab, eindeutig an der Themse. Die Statue sprang vom Bug und kam so schwer auf, dass die Freimaurer ihre Füße ausgraben mussten. Dann gingen sie zu einem Kanalzugang mit Eisengitter, das die Heiligenstatue mühelos herausriss, und folgten einem gemauerten Bazalgette-Kanal, bis sie schließlich einen Ausstieg mit Metallleiter unter der Cock Street erreichten. Die Sprossen der viktorianischen Leiter bogen sich bedrohlich, brachen jedoch nicht, als die Statue herauskletterte. Oben verbarg sie sich in einem Hauseingang und wartete darauf, dass der Golden Boy sie herbeirief, was nur eine halbe Stunde später dann auch geschah.

Hinter diesen jüngsten Erinnerungen an die Anreise entdeckte Susan einen kleinen Strang, der mit einer höheren Intelligenz verbunden war. Gwyre wachte über ihren Diener. Gleichwohl funktionierte die Verbindung in beide Richtungen.

Im Geist griff Susan nach dem Strang und stellte sich vor, die Steinerne Lady gewaltsam zu ihrem Essenzfragment zu ziehen.

Der Faden straffte sich, und unvermittelt überkam Susan ein Gefühl des Erstaunens und Schreckens darüber, dass dies gerade tatsächlich geschah. Sie spürte Gwyre, die ziemlich weit weg und sich ihrer Macht gewiss war. Die Essenz der Steinernen Lady steckte in der massiven Vettelskulptur aus Purbeck-Marmor, ihrem Locus, dennoch zog Susan sie heraus und holte mehr von Gwyre in die Heiligenstatue. Womöglich könnte sie die Urherrscherin sogar ihrem Willen unterwerfen. Das wäre sehr schwierig, aber wohl machbar.

Blut, Salz und Stahl. Die Macht, die ihr Vater und auch der Kupferkessel ihr gewährt hatte. Das reichte. Hoffte sie zumindest.

»Du wirst mir dienen.«

Das schwache, verstoßene Wesen in der Heiligenstatue wollte Susan gehorchen. Es wollte sich einem neuen Meister verschreiben. Seine Kapitulation schwang durch den dünnen Strang. Gwyre spürte das und bekam plötzlich Angst.

Sie tat das Einzige, was ihr übrigblieb. Sie gab das Fragment ihrer selbst in der Heiligenskulptur auf und durchtrennte den Strang.

Susan spürte, wie die Verbindung abbrach. Das kleine dumme Wesen in der Statue begriff nicht gleich, was geschehen war – als hätte es eine Wunde erlitten, an der man nicht sofort starb. Die belebende Macht verebbte, und die Bewegungen des Heiligen verlangsamten sich wie bei einem batteriebetriebenen Spielzeug in der Weihnachtsnacht. Die Skulptur ging noch einen Schritt weiter und blieb dann stehen. Nach wie vor trug sie Susan über der Schulter, den Arm um ihre Taille gelegt, doch nun war sie nichts weiter als Stein. Susan wollte sich aus der Umklammerung winden und zu Boden gleiten.

»Was hast du getan?«, schrie der Freimaurer, der als Führer gedient hatte. Er wich zurück und beschimpfte Susan, während er in seiner Tasche nach dem Revolver tastete. Die Tasche war zu eng, der Hahn hatte sich verfangen und die Augen des Mannes waren vor Panik geweitet. »Mach, dass sie zurückkommt! Mach, dass sie zurückkommt, oder ich werde …«

Ein Schuss fiel, ohrenbetäubend laut und nah. Der Freimaurer blickte auf den großen Fleck an seinem Oberschenkel, der sich immer mehr ausbreitete. Er hatte sich selbst angeschossen. Schluchzend und wimmernd sackte er zu Boden, die Hände auf die Wunde gepresst, um die Blutung zu stoppen, aber ohne Erfolg.

»Es tut mir leid, Herrin. Es tut mir leid, so leid«, murmelte er. »Das war nicht meine Schuld, bitte, bitte …«

Susan schaffte es, die Arme aus dem Wollmantel zu ziehen, und rutschte über die Vorderseite der Statue zu Boden, gefolgt vom Mantel, der auf sie fiel. Sie hörte näher kommende Schritte und riss sich panisch den Mantel vom Kopf, in der festen Erwartung, angegriffen zu werden. Als sie freie Sicht hatte, erblickte sie einen adrett gekleideten Mann mittleren Alters, der an der Wand lehnte und entweder ziemlich betrunken oder auf Drogen war. Er starrte mit leuchtenden, aber glasigen Augen auf die Statue, den blutenden, fast bewusstlosen Mann am Boden und schließlich zu Susan in ihrer Weste und gummierten Hose, die ein silbernes Zigarettenetui in der blutverschmierten Hand hielt. Das Messer steckte noch im Rücken der Statue.

»Wie nennst du sie?«, lallte der Mann. Er sprach mit französischem oder vielleicht belgischem Akzent.

»Was?« Susan blickte zur Straße zurück. Blaues Licht reflektierte vom Pflaster, und sie hörte Rufe und Sirenen.

»Dieses Kunstwerk.« Der Mann deutete auf die Statue. »Die Installation. Sie ist sehr beeindruckend. Ich dachte, die Ausstellung würde erst morgen öffnen, und zwar … da drüben.« Er zeigte vage in eine Richtung und lachte über sich selbst.

»Was?«, fragte Susan erneut, und im selben Moment stürmte Merlin in die Gasse, gefolgt von Diarmuid in ein paar Schritten Abstand. Beide trugen noch ihre alten Feuerwehruniformen und die Brodie-Helme mit rotem Rand. Sie hatten die Waffen gezückt und entsichert, Merlin seinen 357er Smython und Diarmuid eine Browning Hi-Power. Sie verlangsamten ihr Tempo, als sie Susan, die Statue, den Freimaurer am Boden und den Mann dahinter sahen. »Polizei!«, riefen sie fast gleichzeitig und hoben die Waffen. »Keine Bewegung!«

Der Mann an der Wand richtete sich ruckartig auf und wankte einen Schritt auf Susan zu. »Es gibt noch mehr?«, fragte er. »Ein theatralisches Element?«

»Nein!«, rief Susan. »Im Ernst! Bleiben Sie stehen!« Sie wandte sich den Buchhändlern zu. »Er ist Zivilist! Nicht schießen!«

Der Mann taumelte weiter vor, wankte einen Schritt nach links, einen nach rechts und war nun zwischen der Statue und Susan.

»Keine Bewegung!«, wiederholte sie mit aller Strenge und verinnerlichte sich, dass sie als Kind eines Urherrschers Autorität und Macht hatte und diese auch nutzen musste. Der Kerl stand wirklich kurz davor, erschossen zu werden.

Er hielt inne und schwankte auf der Stelle. »Vielleicht hab ich das falsch interpretiert«, sagte er traurig und stierte auf die Blutlache, die sich neben seinen Füßen ausbreitete. »Keine Kunst, kein Theater. Leben. Und Tod.« An die Statue gestützt, beugte er sich vor und übergab sich.

Kurz darauf waren Merlin und Diarmuid da. Letzterer kümmerte sich um den kotzenden Kunstkritiker und legte ihm Handschellen an, während Merlin Susan kurz musterte und wachsam zum Ende der Gasse blickte. Der Freimaurer, der sich selbst angeschossen hatte, war eindeutig tot.

»Geht’s dir gut?«, fragte Merlin. »Wie schlimm ist das mit deiner Hand?«

Susan beäugte die Wunde und sah Blut an ihrem Handgelenk herabrinnen. »Nur ein Schnitt. Ich hab ihn mir selbst zugefügt. Ich habe Gwyre mit Salz, Blut und Stahl an mich binden wollen. Doch die Statue enthielt nur ein … wie soll ich sagen? Ein Fragment oder Partikel von ihr. Sie war damit verbunden, hat aber die Verbindung getrennt, ehe ich ihr meinen Willen aufzwingen konnte.«

»Du hast das Richtige getan.« Merlin zog das Messer aus dem Rücken der Statue und reinigte die Klinge mit seinem Taschentuch. »Sonst hätten sie dich wohl verschleppt.«

Noch mehr Schritte waren zu hören, dann trafen einige Polizisten ein, angeführt von Greene, sowie ein paar Buchhändler unter Viviens Führung. Die Gasse füllte sich mit Menschen und dem Plärren der Funkgeräte; der Kunstkritiker wurde abgeführt, und ein Polizist untersuchte den Freimaurer, was angesichts der riesigen Blutlache eine recht optimistische Aktion war.

Vivien führte Susan am Ellbogen zur Straße und setzte sie wieder in den antiken Bedford, der ziemlich deplatziert wirkte zwischen den modernen Polizeiautos, den zwei Krankenwagen und dem Dennis-Modell der Londoner Feuerwehr, das eben erst eingetroffen war. Druetha, Ceridwen und Patricia unterhielten sich mit den Feuerwehrleuten. Dem nach zu urteilen, was Susan im Vorbeigehen aufschnappte, gaben die Tanten sich als ihre eigenen Töchter aus, die in einer historischen Nachstellung den Dienst ihrer Eltern ehrten. Die Feuerwehrleute waren indes mehr an der antiken Ausrüstung interessiert, als sich zu fragen, warum das Event mitten in der Nacht stattfand.

Vivien verarztete Susans Hand mit einem Erste-Hilfe-Kasten, den sie aus einem Krankenwagen entwendet hatte. »Tut mir leid, dass das nicht nach Plan gelaufen ist«, sagte sie und säuberte die Wunde mit Verbandsmull und brennendem Alkohol. Der feine Schnitt schmerzte inzwischen sehr. »Ist aber nicht so schlimm, du brauchst keine Schlürferspucke. Hast du deine Macht angewandt? Konntest du das Wesen in der Statue deinem Willen unterwerfen?«

»Ich hab’s versucht«, antwortete Susan. »Es war eine Art Fragment von Gwyre. Eine Marionette mit gerade genug Verstand, um schlichte Befehle zu befolgen. Aber Gwyre wachte über das Wesen und merkte, dass ich die Kontrolle übernahm. Hätte sie nicht die Verbindung gekappt, hätte ich sie erwischt. Vielleicht. Das Überbleibsel oder was auch immer es war, hat den Trennungsschock nicht überlebt.« Sie zuckte zusammen, als Vivien die Wunde zu bandagieren begann. »Ich schätze, ich habe es irgendwie getötet. Das traurige kleine Ding in der Statue. Es hatte wirklich keine Ahnung, was es tat, außer Gwyre zu gehorchen.«

»Wie geht’s dir damit?«, fragte Vivien.

»Ich musste es tun«, erwiderte Susan grimmig. »Das Wesen gehörte Gwyre. Ich konnte ein wenig in seinen Verstand sehen. Es wollte mich irgendwo hinbringen und bis zur Sonnenwende festhalten, damit Gwyre mich in ihrer Vettel-Gestalt jagen kann.«

»Irgendwohin? Weißt du es nicht genauer?«, fragte Vivien eifrig.

Susan schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht darüber nachdenken. »Irgendwo … unter die Erde.« Sie holte zittrig Luft und fuhr dann fort. »Ich habe gesehen, wie die Vettel die Statue zum Leben erweckte.«

»Was genau hast du gesehen?«

Susan erschauderte. »Eine große Statue aus Purbeck-Marmor, grau und gesprenkelt. Eine gebeugte alte Frau, aus deren Rücken ein Gehäuse ragt. Wie ein riesiges Schneckenhaus, dreimal so groß wie sie selbst, und sie war ungefähr zwei Meter hoch oder wäre es, wenn sie nicht gebeugt dastünde. Auch ihre Arme waren sehr lang. Doppelt so lang wie normal, und sie hatte Hakenhände. Ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt Finger hatte, nur diese hakenartigen Fäuste. Ich glaube, sie hatte auch keine Beine, nur eine … längliche Masse, die glitzerte und sich bewegte. Wie nennt man den unteren Teil einer Schnecke?«

»Den Kriechfuß«, antwortete Vivien.

»Und sie hatte Fühler mit Augen.« Susan legte die Hand auf den Mund. »Ich glaube, mir wird schlecht.« Sie öffnete die Wagentür und beugte sich keuchend hinaus, musste sich aber nicht übergeben. Sie sog die frische, kalte Luft ein. Nach ein paar Minuten setzte sie sich wieder aufrecht hin und schloss die Tür. »Mir geht’s gut.«

»Prima«, sagte Vivien im tröstenden Tonfall von jemandem, der die Einschätzung zwar nicht teilte, es aber gern wollte. »Da kommt Merlin. Wir sollten dich zum Unterschlupf zurückbringen.«

Merlin stieg ein, sah Susan besorgt an und gab ihr das gereinigte Klappmesser wieder. »Bist du in Ordnung?«

»Ja.« Sie steckte das Messer in ihre Tasche, biss die Zähne zusammen und nickte. »Ja. Mir geht’s gut.«

»Was ist mit dem Golden Boy passiert?«, fragte Merlin.

»Er hat mich in die Zeit des ersten Großbrands zurückversetzt«, sagte Susan. »Offenbar hat Grinling Gibbons ihn erschaffen. Ich meine die Statue, die sein Locus ist. Grinlings Tochter, die Zauberin Everilda, hat ihn erweckt, was auch immer das bedeutet. Der Golden Boy betrachtet sie also als Verwandte. Er meinte, Gwyre sei so etwas wie seine Stiefmutter. Also musste er ihr helfen. Die Statue hat mir aufgelauert, mich gepackt und ist abgehauen.«

»Ich habe gespürt, dass sich etwas verändert hatte, wusste aber nicht was«, erklärte Merlin sichtlich aufgebracht. »Du und der Boy seid verschwunden. Die Flammen loderten auf, und wir mussten zurück in unsere Zeitebene. Dann kam Greene angerannt und hat uns berichtet, dass du entführt worden bist.«

»Mal wieder«, sagte Susan. »Und wie beim letzten Mal hab ich mich selbst gerettet, danke.«

Merlin nickte beschämt. »Ich habe dich enttäuscht …«

»Nein!«, rief Susan aus. »Nein, das war nur ein Scherz. Ich weiß, dass du mich gerettet hättest. Ich war einfach nur schneller. Und ich brauchte deine Hilfe trotzdem. Wie auch in Zukunft. Könntest du uns vielleicht mit deinen Kräften von hier wegbringen? Ich möchte nämlich noch rasch duschen und dann ins Bett.«

»Una und Evangeline wollen eine Nachbesprechung abhalten. Bestimmt, um zu entscheiden, wie sie mit dem Boy verfahren werden.«

»Die können gefälligst warten«, sagte Susan.

»Ich schätze, ich kann sie auch allein auf den neuesten Stand …«, setzte Merlin an.

»Nein.« Susan nahm seine Hand. »Du kommst mit mir ins Bett.«

»Aber es ist doch erst Montag. Ich meine Dienstagmorgen. Noch nicht Mittwoch.«

»Ist mir egal. Können wir jetzt bitte einen Wagen finden, der uns mit mehr als sechzehn Stundenkilometern zu diesem fürchterlich luxuriösen Unterschlupf bringt?«

»Ja.« Merlin sprang aus dem Feuerwehrwagen und bot Susan die Hand an, die sie ergriff und ausstieg. »Dann mal los.«

Vivien blieb allein auf dem Rücksitz des Bedford zurück und stieß einen müden Seufzer aus. »Dann muss ich wohl Evangeline und Una alles Nötige berichten«, murmelte sie.