1. Eine lange Fahrt

Islay fuchtelte mit der zusammengerollten Zeitung herum. »Ich kann es einfach nicht glauben! Die haben meinen großartigen Artikel total verhunzt!« Er faltete den schon reichlich mitgenommenen Papierstapel auseinander und las vor. »Wenn sich eine übereifrige Schädlingsbekämpferin nach Greyfriars begibt, so kann sie was erleben.« Schnaubend rollte Islay die Zeitung wieder zusammen und schlug damit auf das Armaturenbrett ein. »Was für ein Mist!«

Jericho und Islay hatten Edinburgh vor einer Stunde verlassen. Seitdem regte sich Islay entweder über den Artikel auf oder fiel für einige erholsame Minuten in brütendes Schweigen.

»Ich hätte den Artikel besser an AWsome schicken sollen! Zum Glück steht mein Name nicht darunter, sonst wäre mein Ruf als Journalist ein für alle Mal ruiniert.«

»Welcher Ruf?«, wagte Jericho zu fragen und duckte sich, als Islay ihm mit der Zeitungsrolle eins überzog wie einem ungezogenen Hund. Insgeheim war er froh, dass Islay so munter war. Während der letzten beiden Tage hatte er kaum ein Wort gesprochen, war blass und sichtlich übernächtigt herumgeschlichen. Anfangs hatte Jericho sein untypisches Verhalten auf die Nachwirkungen der Dämonenjagd auf Greyfriars geschoben, doch mittlerweile vermutete er, dass etwas anderes dahintersteckte. Aber das ging ihn nichts an. Er war nicht Islays Therapeut. Und sein Freund schon gar nicht. Reichte schon, dass er ihn nach Skye mitschleppte. Warum, wusste er selbst nicht genau.

Er redete sich ein, dass er es nur tat, um Islay besser im Auge behalten zu können. Schließlich brauchte er ihn noch, und das war auch der einzige Grund, wieso Islay noch lebte.

Natürlich. Wem wollte er damit etwas vormachen? In Wahrheit hatte er sich von Islays unbestreitbar vorhandenem Charme einwickeln lassen. Seinem frechen Lächeln, den blitzenden grünen Augen, seiner Lebensfreude und der unbändigen Energie, die er ausstrahlte. Davon war allerdings nicht viel übrig geblieben. Erst, seit sie die Stadtgrenzen von Edinburgh verlassen hatten, kehrte sein Temperament allmählich zurück.

»Mach das noch mal und du kannst zu Fuß gehen«, knurrte Jericho.

Schmollend schob Islay die Unterlippe vor. Bei jedem anderen hätte das selten dämlich ausgesehen. Islay brachte es fertig, sexy zu wirken. »Hast du den Artikel überhaupt gelesen?«

»Du hast ihn mir mittlerweile zehn Mal vorgelesen.«

»Das ist nicht das, was ich geschrieben habe! Das ist ein schlechter Witz! Kira wird komplett lächerlich gemacht und das Ganze liest sich so, als hätte der Reporter seiner blühenden Fantasie Ausdruck verliehen und die Dämonen wären in Wahrheit nur simple Ratten gewesen.«

»Die machen das, damit keine Panik ausbricht.«

»Falschinformation und Zensur, so nenne ich das.« Islays Wangen färbten sich bedenklich rot.

Der Pickup tuckerte gemächlich über die leere Straße, daher konnte Jericho ihn gefahrlos im Auge behalten. »Leg endlich das Ding weg und vergiss es. Du wirst andere Artikel schreiben.«

»Ja, aber bestimmt nicht mehr für die Edinburgh News!«

»Hast du gekündigt?«

»Fristlos.« Islay lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und starrte finster durch die Windschutzscheibe, die ein Einschussloch zierte. Jericho hatte keine Ahnung, wo das herkam. War eines morgens einfach da gewesen und er hatte weder Zeit noch Geld, die Scheibe reparieren zu lassen.

»War das schlau?«, fragte er milde.

»Denkst du, ich arbeite weiter für diese Bande, die meine Artikel zerstört?«

»Es ist nur ein Job«, erinnerte Jericho. »Du hast Geld dafür bekommen, oder?«

Das hätte er besser nicht gesagt. Islay ging hoch wie eine Blendrakete. »Darum geht es dir also. Für dich ist alles nur ein Job! Du machst jeden Scheiß für Geld, was?«

So langsam begann er Jericho ernsthaft zu nerven. »Ja, genau, für die bescheuerte Aktion auf Greyfriars bin ich wirklich gut bezahlt worden.«

Islay sackte sofort in sich zusammen. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt. Du hast uns geholfen, obwohl SAW hinter dir her ist. Danke.«

»Ist okay«, sagte Jericho großmütig. Er hätte Islay und Kira auf keinen Fall im Stich lassen können. Besonders Islay nicht. Schon komisch, doch allein der Gedanke, ihm könnte etwas zustoßen, bereitete ihm Übelkeit. Und das, obwohl er noch vor zwei Wochen mit gezogenem Schwert hinter ihm hergejagt war. Um was zu tun? Garantiert hätte er ihn nicht köpfen können. Es war Islay, verdammt!

Und ein Incubus.

Halbincubus.

Machte es auch nicht besser. Eines Tages würde er Islay deshalb töten müssen.

Nach dem Tod von Clara, noch im Krankenhaus, hatte er sich geschworen, alle Incubi, deren er habhaft werden konnte, umzubringen. Unbesehen davon, ob sie etwas mit Claras Tod zu tun hatten oder nicht. Die waren alle gleich schlimm. Saugten Menschen nachts die Energie aus, bescherten ihnen noch einen wollüstigen Traum und das war es dann. Heimtückische Biester, die sämtlich den Tod verdienten.

Für einen schrecklichen Moment hatte er Islay sogar im Verdacht gehabt, Terry ermordet zu haben. Und das hätte sehr wahrscheinlich bedeutet, dass er tatsächlich etwas mit Claras Tod zu tun hatte. Der Mörder hatte Terry nach Jerichos Theorie zum Schweigen gebracht, um ihn daran zu hindern, Jericho eine wichtige Info über Claras Tod zu geben.

Jericho hatte Rot gesehen, im wahrsten Sinne des Wortes, denn das Amulett, das Incubi anzeigte, hatte in Islays Gegenwart rot geglüht und war heiß wie ein brennendes Stück Kohle geworden. Vielleicht, wenn er ihn bei der darauf folgenden Verfolgungsjagd erwischt hätte ... Vielleicht hätte er Islay wirklich getötet. Gut, dass er es nicht getan hatte. Noch nicht.

Er umfasste das Lenkrad fester und drängte den aufwallenden Brechreiz zurück. Nun wünschte er sich, Islay würde etwas sagen, nur um ihm die Gewissheit zu verschaffen, dass er quicklebendig neben ihm saß. Doch er kauerte von Jericho abgewandt auf dem Beifahrersitz, die Knie eng an den Körper gezogen, und schaute aus dem Seitenfenster.

Nein, Islay hatte ganz sicher nichts mit Claras Tod zu tun, genauso wenig wie mit Terrys. Wenn Jericho sich nur ein paar Minuten Zeit gegeben hätte, vernünftig nachzudenken, wäre ihm das gleich im Pub aufgefallen. Da brauchte er nur an Islays Reaktion zu denken, als er Terrys Leiche gesehen hatte. So gut konnte er nicht schauspielern. Islay war bisher besonders schlecht darin gewesen, sich zu verstellen. Daher bemerkte sogar Jericho, dass ihn etwas bedrückte. Mehr noch. Irgendetwas jagte ihm furchtbare Angst ein. Die überraschende Erkenntnis, dass er ein Halbincubus war, konnte es nicht sein. Er war erstaunlich gut damit fertig geworden. Um Längen besser als Jericho. Aber was war es dann, was ihn bedrückte?

Es ging Jericho nichts an.

Drauf geschissen.

»Was ist los?«, fragte er rau.

»Du hast recht. War dumm von mir, den Job zu schmeißen. Meinst du, die nehmen mich zurück beim Skye Beobachter?«

»Bestimmt.«

Islay drehte sich zu ihm um. »Ist das der Grund, warum du nicht im Bed and Breakfast übernachten willst? Weil du nicht genug Geld hast? Falls es nämlich das ist, könnte ich ...«

Der Kleine wollte ihm nicht ernsthaft Geld anbieten! Jericho hatte zwar von Islays Vater die Belohnung kassiert, die war aber für das Amulett draufgegangen. Stimmte schon, Jericho war so gut wie pleite. Während der Suspendierung hatte er noch sein Gehalt bekommen, wenn auch gekürzt, doch seit er wegen Mordes zur Fahndung ausgeschrieben war, konnte er das vergessen. »Nein, das ist es nicht. Ich will nur nicht, dass jemand mich erkennt und SAW informiert. Vergiss nicht, dass es auf Skye kein Dimensionsloch mehr gibt. Die Kommunikation läuft dort fast so gut wie in Edinburgh und ich wette, dass SAW überall Fahndungsplakate verteilt hat.«

Islay bückte sich zu seinem Rucksack, der im Fußraum stand, und wühlte darin herum. »Gut, dass du das erwähnst«, erklärte er fröhlich. »Ich habe nämlich was für uns besorgt. Damit wir unsere Ermittlungstätigkeit besser koordinieren können.«

Jericho sah, was er in den Händen hielt und seufzte. Handys. Er hatte sich bisher gewehrt, diese Dinger zu benutzen. Zu unzuverlässig. Außerdem hasste er die Vorstellung, jederzeit erreichbar zu sein. Fast jederzeit. Zumindest dann, wenn die Dimensionslöcher die Verbindung nicht störten. »Islay«, begann er.

Islay strahlte. Aus irgendeinem Grund liebte er es, wenn Jericho seinen Namen sagte. Jericho unterdrückte ein weiteres Seufzen. »Wir hatten was abgemacht. Ich nehme dich nur mit, wenn du dich raushältst. Du kannst für die Zeitung arbeiten und alles tun, was du sonst noch vorhast. Es darf nur nichts mit dem Mord zu tun haben. Sind wir uns da einig?«

»Aber ... nein! Ich kann dir helfen. Ich bin gut im Recherchieren. Ich kenne die Einheimischen besser als du, und, ohne dir zu nahe treten zu wollen, ich kann auch besser mit denen reden. Vor dir haben sie zu viel Schiss.«

»Solltest du auch haben.«

Islay grinste nur. »Wenn es dich glücklich macht. Mal ernsthaft, Jericho, wir sind ein gutes Team. Mit mir hast du wesentlich bessere Chancen, den Mörder zu finden. Und das willst du doch, oder? Nenn mir einen Grund, warum ich dir nicht helfen sollte.«

»Da fallen mir gleich hundert ein.« Und der wichtigste davon war, dass Jericho allein den Gedanken nicht ertragen konnte, dass Islay in Gefahr geriet. Natürlich nur, weil er ihn lebendig benötigte. Aber das durfte er ihm auf keinen Fall sagen. Schließlich sollte sich Islay keine falschen Hoffnungen machen. Jericho war immer noch ein Dämonenjäger, der Incubi hasste. Und Islay war nun mal ein Incubus.