Leider war Islay jedoch viel mehr als ein Incubus. Das machte es Jericho nicht gerade leichter, ihn auf Abstand zu halten. Anfangs hatte er ihn unterschätzt. Hübsches Gesicht, nichts dahinter. Er hatte sich getäuscht. Islay hatte sich als mutig und einfallsreich erwiesen, loyal gegenüber seinen Freunden und ein helles Köpfchen. Außerdem war er eigensinnig, hartnäckig, eine Spur zu begeisterungsfähig und konnte Jericho den letzten Nerv rauben. Doch all das würde ihn nicht retten.
Jericho hätte sich freuen müssen, als sie den Parkplatz erreichten, an dem sie sich trennen würden, vermisste Islays unermüdliches Geplapper aber schon jetzt.
»Schade, dass du den Pick-up nicht mitnehmen kannst. Ich mag ihn«, sagte Islay bedauernd.
»Zu auffällig. Raus mit dir. Ich helfe dir mit der Indian.«
Sie stiegen aus und schlugen die Plane zurück, die Jericho über die Ladefläche gebreitet hatte. Islays Motorrad lag sicher verschnürt da. Sie brauchten einige Zeit, um es loszumachen und vom Pick-up zu wuchten. Unbekümmert rieb sich Islay die ölverschmierten Finger hinten an seinen Jeans ab. »Danke fürs Mitnehmen. Ruf mich an, wenn du Camp Jericho aufgebaut hast.«
»Keine Besuche.«
»Und wenn ich Bier mitbringe?«
Jericho schwieg, was Islay offenbar als Zustimmung auffasste, denn er lächelte erfreut. »Bis dann also.« Er zögerte.
Jericho fürchtete einen Herzschlag lang, dass Islay ihn zum Abschied umarmen oder gar küssen würde, doch er beließ es bei einem schiefen Grinsen, setzte sich den Helm auf und schwang sich auf die Indian. Jericho sah ihm nach, wie er den Parkplatz verließ und die Straße entlang bretterte. Er war ein guter Fahrer. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Jericho zog die Schultern hoch und knurrte vor sich hin. So weit war es also schon gekommen. Er, der jahrelang niemanden an sich herangelassen hatte, um genau das hier zu vermeiden, machte sich Sorgen um einen verdammten Incubus!
Ja, aber nur, weil Islay im Moment lebendig mehr wert war als tot. Nur darum.
Der Fahrzeugwechsel lief problemlos ab. Der Autoschrauber, bei dem er vor Ewigkeiten auch den Pick-up erworben hatte, gehörte zu den wenigen Menschen, denen Jericho vertraute. Was wohl daran lag, dass er kein Mensch war, sondern ein Anderweltler, jedenfalls zur Hälfte. Das Gute war, dass ihn niemand mit Jericho in Verbindung bringen würde. Er stellte den Pick-up in die Scheune neben der Farm und übergab Jericho die Schlüssel zu einem alten Volvo. »Das Schätzchen lässt sich von keinem Dimensionsloch aus der Ruhe bringen«, versicherte er. »Gute Fahrt.«
»Danke. In spätestens einer Woche bringe ich ihn dir zurück.«
Das war das Limit, das sich Jericho gesetzt hatte. Wenn er bis dahin nichts herausgefunden hatte, würde er sein Glück woanders versuchen. Die Spur war für seinen Geschmack ohnehin schon zu kalt, aber irgendwo musste er anfangen.
Der Volvo fuhr sich gut. Die Lenkung fühlte sich schwammig an und mehr als achtzig Sachen waren nicht drin, aber die Bremsen funktionierten und der Wagen machte einen behäbigen, jedoch zuverlässigen Eindruck. Hauptsache, er fiel nicht auf. Jerichos Pick-up war zu bekannt und wie er SAW kannte, wurde er bei jedem Fahndungsaufruf erwähnt.
Er hatte sich auch ein wenig getarnt. Statt seiner üblichen Kluft, bestehend aus Ledermantel, Lederhose und derben Arbeitsstiefeln, alles in Schwarz, hatte er sich gekleidet wie ein Tourist, der ein paar Tage in der Wildnis verbringen wollte. Seinem Farbschema war er allerdings treu geblieben. Er trug schwarze Cargohosen, ein Shirt aus Merinowolle und darüber eine Daunenjacke. Sogar eine Baseballkappe hatte er sich aufgesetzt. Komplettiert wurde das Outfit mit abgetragenen Wanderstiefeln und einem Rucksack, an dem eine Rolle mit seinem Schlafsack hing. Die Aussicht auf ein paar Tage Zelten gefiel ihm. Sein letztes Jahr bei SAW war vom Stadtleben, geregelten Dienstzeiten und öden Jobs geprägt worden und hatte ihn verweichlicht. Höchste Zeit, dass er sich wieder auf seine Instinkte besann.
Wie bei seinem vorigen Besuch auf Skye tuckerte er erst am späten Nachmittag über die Brücke, die das Festland mit der Insel verband. Im Gegensatz zu damals war er diesmal nicht der Einzige, der auf der Straße nach Portree unterwegs war. Zwar konnte Skye sich nicht mehr mit dem Prädikat Dämonenfrei seit zehn Jahren schmücken, doch die Touristen kehrten zurück, nachdem die Offene Tür geschlossen worden war. Die meisten von ihnen nicht etwa, weil sie einen ruhigen Urlaub verleben wollten, ohne Dämonenangriffe befürchten zu müssen, sondern weil sie auf Skye zwar viel Natur, aber auch die Errungenschaften der Technik genießen konnten. Die Einflüsse der Dimensionslöcher vom Festland beeinflussten Skye kaum und so war die Insel eine der wenigen Regionen Schottlands, in denen man im Internet surfen konnte. Jedenfalls in dem, was vom Internet übrig war.
Ein weitaus kleinerer Teil der Touristen kam tatsächlich zum Wandern und Campen her. Genug, dass Jericho nicht auffallen würde. Wildcampen war erlaubt, wenn man sich nicht gerade Privatbesitz als Zeltplatz erkor.
Jericho stellte den Volvo in einiger Entfernung von der Hauptstraße auf einem schmalen Feldweg ab, hinter ein Gebüsch, sodass man ihn nicht auf Anhieb sehen konnte. Für sein erstes Camp ging er nicht sonderlich weit, allein aus dem Grund, dass es bald dunkel wurde. Nämlich in etwa vier Stunden. Es hatte nichts damit zu tun, dass Islay ihn so leichter finden konnte.
Verärgert hämmerte Jericho die Heringe unnötig kraftvoll in den feuchten Grasboden. Er durfte sich von Islay nicht länger ablenken lassen. Hier ging es allein darum, die Spur von Terrys und Claras Mörder aufzunehmen. Nachdenklich strich sich Jericho über das Kinn und betrachtete das windschiefe Zelt. Womöglich war es gar keine schlechte Idee, Islay bei den Ermittlungen helfen zu lassen. Aber konnte er ihm wirklich trauen? Für gewöhnlich verließ sich Jericho auf seine Menschenkenntnis. Sie hatte ihm mehr als einmal den Arsch gerettet. Doch bei Islay war er sich nicht sicher, was er von ihm halten sollte. Er wirkte unschuldig und durchtrieben zugleich. Und er war ein Incubus. Die waren dafür bekannt, Menschen in ihren Bann zu ziehen und zu manipulieren.
Nicht mit Jericho March. Er würde Islay gegenüber misstrauisch bleiben bis zum unvermeidlichen Ende. Darum musste er ihn nun auch anrufen. Um zu kontrollieren, was er gerade anstellte. Nicht etwa, um sich davon zu überzeugen, dass er gut angekommen war.
Das Handy war voll aufgeladen und zeigte einen Balken Signalstärke an. Das war ein Balken mehr als fast überall in Schottland.
Islay meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Islay MacGregor.« Sehr förmlich. Hörte sich an, als wäre er außer Atem.
»Abendliches Lauftraining?«, riet Jericho.
»Was? Ach ... nein. Ich musste mich beeilen, um vor Ladenschluss noch ein bisschen was einzukaufen. Alles klar bei dir? Steht Camp Jericho?«
»Keine Namen.« Allmählich wurde Jericho so paranoid wie Terry. Und was hatte es Terry gebracht? Eine aufgeschlitzte Kehle.
»Wo bist du? Brauchst du noch was? Es soll kalt werden kommende Nacht.«
»Du hörst dich an wie meine Mutter.« Das stimmte nicht. Jericho hatte keine Ahnung, wie sich seine Mutter angehört hatte, er war in einer Pflegefamilie groß geworden. In fünf verschiedenen Pflegefamilien, genau genommen. Da Islay sonst doch keine Ruhe geben würde, verriet Jericho ihm, wo er sein Zelt aufgeschlagen hatte. Vermutlich wurde Islay als Stadtkind aus der Beschreibung sowieso nicht schlau. »Wir reden morgen weiter.«
»Bis dann.« Islay unterbrach die Verbindung ohne jeglichen Überredungsversuch, sich noch zu treffen. Verdächtig.
Es wurde kühl. Jericho richtete das Zelt mit Isomatte, Schlafsack und einem vernünftigen Waffenarsenal gemütlich ein. Auf dem Gaskocher bereitete er Tee und Ravioli zu. Die Ravioli löffelte er aus der Dose. Dazu setzte er sich auf die Anhöhe vor seinem Zelt. Er konnte das Meer sehen, die gewundene Straße nach Portree und die Sonne, die sich im Zeitlupentempo auf den Horizont zubewegte. Lange her, dass er Zeit und Muße aufgebracht hatte, einfach nur ruhig dazusitzen und an nichts zu denken. Für Grübeleien war später noch Zeit. Gedanken zogen vorbei wie die grauen Wolken am Himmel. Erinnerungen an die Zeit mit Terry. Sie waren oft zusammen auf die Jagd gegangen, hatten in der Wildnis campiert, Fallen aufgestellt. Jericho hatte sich um die Dämonen gekümmert und Terry um die Offenen Türen. Ein gutes Team.
Der Himmel färbte sich rotorange. Vor dem glühenden Spektakel zeichnete sich die winzige Silhouette eines Motorradfahrers ab. Jericho hatte Islays Orientierungssinn unterschätzt, denn eine Viertelstunde später stapfte er quer über die Wiese auf Jericho zu, ein Sixpack Bier in der Hand. Die tief stehende Sonne ließ sein Haar bläulich schimmern, umgab ihn wie einen Heiligenschein. Sein Gesicht konnte Jericho erst erkennen, als sich Islay neben ihm niederließ. Islay nickte ihm ernst zu und reichte ihm eine Bierdose. Sie öffneten ihre Dosen gleichzeitig. Es zischte. Das Bier war kalt. Unglaublich, aber Islay schaffte es, für eine Bierlänge kein Wort zu sagen.
Jericho betrachtete sein Profil, die schmale, nur ganz leicht gebogene Nase, das energische Kinn, die geschwungenen Lippen, die viel zu sehr zum Küssen verführten. Alle Incubi waren begehrenswert. Jericho hatte einige gekannt. Schon vor Claras Tod hatte er ihnen nichts als Abscheu und Verachtung entgegengebracht. Er war immun gegen ihre Reize gewesen.
Gegen Islays Reize nicht. Und er konnte ihm nicht mal vorwerfen, es darauf anzulegen. Nicht an diesem Abend jedenfalls, und wenn er nun darüber nachdachte, hatte Islay seit Greyfriars keinen einzigen Flirtversuch gestartet. Es musste ihm wirklich schlecht gehen.
Jericho nahm ihm die leere Bierdose weg und gab ihm eine neue. »Sagst du mir jetzt endlich, was los ist?«
»Du meinst, abgesehen davon, dass ich überraschenderweise ein Incubus bin und der beste Dämonenjäger Schottlands mich am liebsten einen Kopf kürzer sehen würde?«
»Das stimmt nicht. Nicht mehr.« Jedenfalls vorerst nicht.
»Wie kommst du dann darauf, dass irgendwas los sein könnte?«
»Weil ich nicht nur für meine grandiosen Jägerfähigkeiten, sondern auch für meine Menschenkenntnis bekannt bin. Du hast Schiss. Wovor?«
Islay wandte ihm das Gesicht zu. Er war blass. »Ich bin tot.«