Einen Moment fühlte sich Jericho durchschaut, bis ihm klar wurde, dass Islay nichts von seinem Vorhaben wissen konnte. Noch nicht. Früher oder später würde er es herausfinden und vermutlich wieder vor ihm fliehen. Islay musste etwas anderes meinen.
»Schon nach einem Bier?«, fragte Jericho ihn scherzhaft.
Islay schnaubte. »Nein. Ich will damit sagen, dass ich eigentlich tot sein müsste.«
»Auf mich wirkst du ziemlich lebendig. Und wie gesagt, ich habe nicht die Absicht, dich in nächster Zeit umzubringen.« Das kam der Wahrheit schon viel zu nahe.
Islay lachte hohl. »Sehr beruhigend. Du hast also noch nichts davon gehört? Kommt das in eurer Ausbildung nicht vor?« Mit einer aggressiven Bewegung riss er die Bierdose auf, setzte sie an und trank ein paar gluckernde Schlucke.
Jericho ließ ihm Zeit. Er hatte keine Ahnung, worauf Islay hinauswollte.
»Kira hat mir ein Buch gegeben«, fuhr Islay schließlich fort. Er sah Jericho nicht an, drehte die Dose zwischen den Händen. »Über Incubi und Succubi. Darin steht, dass Mischlinge, also Kinder, die sie mit Menschen zeugen, nicht lebensfähig sind.«
»Jetzt wo du es erwähnst ... mir sind tatsächlich keine Halbincubi bekannt. Außer dir. Ausnahmen bestätigen die Regel, oder wie war das?«
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?« Islay sah ihn an, als wäre er durch einen Test gefallen. »Du bist doch der Experte.«
»Ich bin Dämonenjäger, kein Fachmann für Anderweltler.«
»Hab gehört, man nennt dich Feenfreund.«
»Auch über Freunde muss man nicht alles wissen. Und Incubi haben nie zu meinen Freunden gezählt und werden es auch nie.«
In Islays Augen trat ein verletzter Ausdruck. »Ich habe es kapiert. Du brauchst mir das nicht jeden Tag wieder unter die Nase zu reiben.«
Jericho bereute es schon. Er fühlte Islays Schmerz. Das gefiel ihm nicht, aber er konnte es nicht ändern. »Islay«, sagte er möglichst sanft. »Falls du dir Hoffnungen machst, doch kein Incubus zu sein ...«
»Ja, das Amulett«, unterbrach Islay ihn. »Ich will es sehen. Du hast es dabei, oder? Könnte doch sein, dass es das letzte Mal gar nicht mich gemeint hat, sondern jemanden, der hinter mir stand. Oder es hatte eine Fehlfunktion oder sowas. Zeig es mir. Bitte.«
»Wenn ich mein Bier getrunken habe.«
»Hast du es nicht um den Hals gehängt?«
»Ich steh nicht auf Brandnarben.«
Islay verzog das Gesicht. »Es wird also auch noch heiß, wenn ich ... also, wenn ein Incubus in der Nähe ist?«
»Kochend heiß.« Jericho sah Islay vielsagend an. Auf diese Steilvorlage musste er einfach anspringen.
Islay tat ihm den Gefallen. »Bin eben ein heißer Typ.« Endlich zeigte er eine Andeutung des alten frechen Grinsens. Es flaute sofort wieder ab. »Ich habe ein Foto von ihr gefunden.« Er brauchte nicht zu sagen, wen er meinte. »Sie war, oder ist, ein Succubus. Das sieht man auf dem Bild. Sie ähnelt zwar einem Menschen, aber eher so, als versuchte sie, einen Menschen nachzuahmen. Verstehst du, was ich meine?«
»Das kannst du auf einem Foto erkennen?«
»Könnte auch Einbildung sein. Jedenfalls steckte das Foto im Umschlag eines Buches mit dem Thema, wie man sich vor Anderweltlern schützen kann. Mein Vater hat es dort versteckt, in seinem Büro. Und jetzt sag nicht, es könnte ein Zufall sein, dass er ausgerechnet dieses Buch ausgewählt hat.«
»Nein. Da dein Vater kein Incubus ist, du aber schon, muss deine Mutter ein Succubus sein. Es sei denn, dein Vater ist nicht dein richtiger Vater, und davon gehe ich nicht aus, bei der Familienähnlichkeit.«
»Was? Ich sehe doch nicht aus wie mein Vater!«, protestierte Islay. Machte den Eindruck, als würde ihn das beinahe mehr stören als sein Anderweltlerblut.
»Du verstehst dich nicht gut mit ihm.«
»Er hat mich mein ganzes Leben lang belogen.«
»Hast du ihn mal gefragt, warum?«
Islay sah zur Seite.
Jericho ließ nicht locker. »Hast du ihn überhaupt mal nach deiner Mutter gefragt?«
»Ständig. Das habe ich dir doch erzählt. Wir hatten einen Riesenstreit, genau wegen dieses Themas. Ich bin nach Skye abgehauen und ...«
»Ich meine, seit du es weißt.«
»Nein«, murmelte Islay. »Ich wollte. Aber dann ... ich muss erst mehr herausfinden. Er soll sich nicht wieder hinter Lügen verstecken können.«
»Hast du Schiss, was passiert, wenn er das nicht mehr tut?«
Islay zuckte zusammen. Er zog die Schultern hoch. Da er sich halb von Jericho abgewandt hatte, konnte Jericho sehen, wie sich die Muskeln unter dem Shirt verkrampften. Er widerstand der Versuchung, mit der Hand darüber zu streichen. »Du bist mal wieder viel zu dünn angezogen.«
Islay brummelte leise vor sich hin, stand auf und hob seine Lederjacke auf, auf der er gesessen hatte. »Zeigst du mir jetzt das Amulett?«
»Es ist in meinem Zelt.«
»Umso besser. Ich brenne darauf, Camp Jericho einen Besuch abzustatten.«
Jericho hatte versucht, das Amulett in Leder einzuwickeln, damit er es in Islays Gegenwart um den Hals tragen konnte. Doch das Ding schmorte auch dickes Leder in Nullkommanix durch. Er brauchte eine magische Hülle. Darauf wollte er bei nächster Gelegenheit den Ersten Magier von Skye ansprechen. Er hatte noch was gut bei ihm. Bis dahin verwahrte er das Amulett in seiner Schatulle, entweder in einer Manteltasche, oder jetzt, da er seinen Mantel nicht dabei hatte, im Rucksack.
Bewundernd lief Islay um das Zelt herum. »Das ist toll. Ich war noch nie campen. Darf ich mal eine Nacht mit in deinem Zelt schlafen?«
»Nein.« Jericho öffnete die Schatulle. Trotz des zehn Meter breiten Abstands zu Islay leuchtete das Amulett rot wie eine Ampel. Langsam kam Islay näher. Er beugte sich über die Schatulle. Der Schein des Amuletts warf rötliche Reflexe auf sein Gesicht. »Und du bist sicher, dass es Incubi anzeigt?«
»Ja.« Jericho versuchte, zu erkennen, ob das Amulett schon weniger stark leuchtete. Er wusste es nicht. Jedenfalls zeigte es deutlich die Anwesenheit eines Incubus an. Noch. Und wenn es das nicht mehr tat, wusste Jericho ja mittlerweile, wie er es auffrischen konnte, Undine sei Dank.
»Okay.« Islay richtete sich auf. »Also bin ich wohl tatsächlich die Ausnahme. Ein lebender Halbincubus.«
»Hast du gedacht, du bist irgendein anderes Wesen aus der Anderwelt?«
»Hätte doch sein können. Ein Selkie oder so. Was Niedliches.«
»Die Selkies, die ich kenne, sind nicht niedlich.«
»Ehrlich gesagt, habe ich gehofft, ein ganz normaler Mensch zu sein.« Islay musterte das Zelt, als könnte er darin Antworten auf all seine Fragen finden. »Was, wenn ich zwar noch lebe, aber der Fluch des gemischten Blutes mich demnächst doch ereilt? Wenn ich plötzlich tot umfalle?«
»Dann müssten die Bücher über Incubi doch nicht umgeschrieben werden. Naja, ein bisschen schon.«
»Danke für dein Mitgefühl.«
»Wir trinken jetzt noch ein Bier zusammen, dann gehst du nach Hause und schläfst drüber.« Jericho zog die Isomatte aus dem Zelt und breitete sie einladend aus.
Nach kurzem Zögern setzte sich Islay. »Das ist also deine Lösung für Probleme.«
»Nicht für alle. Die meisten löse ich mit meinem Schwert oder ein paar Granaten.«
»Hey, da bin ich ja ein richtiger Glückspilz.«
»So sieht das aus.« Jericho setzte sich neben ihn und gab ihm das vorletzte Bier. Das letzte nahm er selbst. »Danke für das Bier.«
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Islay. Aha, Themawechsel war angesagt. Das war Jericho ganz recht. Er hatte keine Ahnung, warum in dem Incubibuch so ein Quatsch stand, doch er wusste, dass nichts, was er tun oder sagen konnte, Islay beruhigt hätte. Allerdings hatte sich sein Fragenkatalog für das nächste Verhör eines Incubus soeben erweitert. Er würde herausfinden, warum es nicht mehr Halbincubi gab.
»Terrys Mörder finden.«
»Guter Plan. So konkret.«
»Ich bin Dämonenjäger, kein Ermittler.«
Islay hob vielsagend die Brauen. Im Nachglühen der untergegangenen Sonne schimmerten seine Augen rötlich. Oder war es sein Incubusblut? Vorher war Jericho das nie aufgefallen. »Zufällig kenne ich einen Ermittler. Lola Burns, Sergeant bei der Polizei von Skye. Könnte sein, dass ich sie auf ein Bier einlade.«
Jericho gab es nicht gerne zu, aber Islays Hilfe war tatsächlich nicht zu verachten. Im Gegensatz zu ihm konnte er sich frei bewegen, mit Leuten reden, während sich Jericho versteckt halten musste, um nicht SAW auf den Plan zu rufen.
»Hör dich auch mal um, ob Fremde auf Skye waren, als Terry ermordet wurde. Da es nicht viele Touristen gab, könnten die aufgefallen sein. Irgendwo muss der Mörder gewohnt haben.«
»Wenn er nicht gezeltet hat. Oder ...« Islay zögerte.
»... ein Einheimischer war«, vervollständigte Jericho. »Stimmt. Können wir nicht ausschließen. Also ...« Pass auf dich auf, hätte er beinahe gesagt.
Islay schien nichts zu merken. »Ich halte die Ohren offen und notiere jede Information, mag sie noch so unwichtig erscheinen. Das ist genau mein Ding als guter Journalist. Diesen Artikel werden die mir nicht verhunzen.«
War klar, dass Islay einen Artikel darüber schreiben würde. Hauptsache, ein geschnappter Mörder kam darin vor.
Ein paar Irrlichter tanzten über die Wiese. Sie flogen auf sie zu, umschwirrten sie zwitschernd und sausten davon. Islay lächelte. »Hast du je darüber nachgedacht, in die sicheren Staaten auszuwandern?«
»Da wäre ich schön blöd. Gibt da keine Jobs für Dämonenjäger.«
»Und wenn du keiner wärst?«
»Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich kann mir nichts anderes vorstellen.« Jericho sah Islay forschend an. »Und du?«
»Nein. Ich mag die Magie. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, ohne sie zu leben.« Er schluckte hörbar. »Und ... wer weiß. Ich bin ein halber Anderweltler. Womöglich würde ich tatsächlich sterben, wenn ich in eine magiefreie Zone ausreisen würde.«
»Du redest heute verdammt viel vom Tod.« Jericho rückte näher an ihn heran. Er wartete, bis Islay ihn ansah. Es war immer noch nicht ganz dunkel. Im Juni und Juli wurde der Himmel nachts nie völlig schwarz und jetzt war es hell genug, um Islays Augen zu begutachten. Keine Spur von Rot. Sie sahen dunkelgrün aus.
Jericho legte die Hand in Islays Nacken. Islays Locken kitzelten seinen Handrücken. Vermutlich hatte er vorgehabt, Islay zu küssen. Doch Islay kam ihm zuvor, küsste ihn stürmisch und wild, wie es seine Art war. Jericho umfasste sein Gesicht, strich mit den Daumen über seine Wangen, bis er ein wenig ruhiger wurde. Seine Augen waren offen, genau wie Jerichos. Er hob und senkte langsam die Lider. Seine Wimpern streiften Jerichos Haut wie winzige Bürsten. Mit sehr weichen Borsten.
»Darf ich in deinem Zelt schlafen?«, flüsterte er dicht an Jerichos Lippen.
»Nein.« Um die Ablehnung wenigstens etwas abzumildern, drückte Jericho noch einen energischen Abschiedskuss auf Islays Lippen. »Geh nach Hause. Wir sehen uns morgen.«
Islay stand auf und sah zu ihm runter. »Ist es, weil ich ein Incubus bin?«
Jericho antwortete nicht. Schließlich drehte sich Islay um und ging. Ein Irrlicht verfolgte ihn, kreiste um seinen Kopf und huschte nach links davon, weg von dem Pfad, der zur Straße führte. Islay ließ sich nicht beirren. Jericho hörte ihn lachen, was das Irrlicht erneut auf den Plan rief. Etwas später röhrte der Motor der Indian auf und verhallte allmählich in der Dunkelheit. Stille senkte sich über Camp Jericho.
Jericho wollte verdammt sein, aber er vermisste Islay.