Gegen sieben Uhr störte eine aus dem Handy dudelnde Melodie Jericho bei seinen Schwertkampfübungen. Sogar er, der mit moderner Musik nichts am Hut hatte, erkannte den größten Hit der Band Demonhunters . Genau Islays Humor. Jericho steckte sein Schwert sorgfältig ins Futteral zurück und nahm den Anruf an.
»Guten Morgen«, trällerte Islay fröhlich. »Was hältst du davon, wenn ich dich zum Frühstück einlade?«
»Ich kann mich im Otterview nicht blicken lassen, wenn deine Miss Bumbles da ist.«
»Miss Bumbles wird nichts herumerzählen. So ist sie nicht.«
Jericho unterdrückte einen Fluch. »Du hast ihr doch nicht gesagt, dass ich hier bin?«
Beleidigtes Schweigen.
Jericho zwang sich zur Ruhe. »Hör mal, Islay, du darfst hier niemandem trauen, verstehst du das? Und du weißt doch, wie das ist. Ein Geheimnis, das zwei kennen, ist keins mehr. Es sei denn, einer von den beiden ist tot.«
»Miss Bumbles kann nichts mit dem Mord zu tun haben. Sie war gar nicht auf Skye, als es passiert ist.«
»Das könnte auch genau das Gegenteil bedeuten. Was, wenn sie dem Mörder den Weg freimachen wollte?«
Erneutes Schweigen, diesmal nachdenklich. Schon komisch, wie unterschiedlich sich Stille anhören konnte.
»Du hast recht«, gab Islay widerwillig zu. »Aber du solltest trotzdem herkommen. Solomon Pinkett hat gestern eine Nachricht für mich hinterlassen. Miss Bumbles hat sie mir in mein Zimmer gelegt. Keine Sorge, der Umschlag war verschlossen. Keine Spur von Wasserdampfaktionen oder ähnlichem. Solomon vermutet, dass du auch hier bist und bittet dich um Hilfe.«
»Welcher Art?«
»Dämonenjagd. Und er hat ausdrücklich dazugeschrieben, dass die Magier dich bezahlen werden.«
»Klingt gut.« Geld konnte Jericho tatsächlich brauchen und zu einer Jagd sagte er nicht nein. Die AWs von Greyfriars hatten keine echte Herausforderung dargestellt. Auf eine so große Arachnide Wesenheit wie bei seinem letzten Besuch auf Skye konnte er wohl auch nicht hoffen, aber er durfte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Zumal er keine anderen Jobs annehmen konnte, solange SAW hinter ihm her war. Niemand vergab Aufträge an einen Dämonenjäger, der wegen Mordes gesucht wurde.
Bis auf die Magier von Skye, offensichtlich.
»Wissen die, dass SAW mich sucht?«
Islay zögerte. »Naja. Komm einfach her, dann merkst du es schon.«
»Doch so schlimm?«
»Wir treffen uns im Schuppen. Da sieht dich Miss Bumbles nicht.«
Mit einer Dose Baked Beans gestärkt fuhr Jericho nach Portree. Die ersten Tourbusse kamen ihm schon entgegen. Die Chancen, dass Touristen über sein Zelt stolperten, schätzte er dennoch als gering ein. Camp Jericho lag in ausreichender Entfernung zu den üblichen Touristenattraktionen und die wenigsten Urlauber hatten Lust, sich bei einem Marsch querfeldein über eine Wiese nasse Füße zu holen. Oder sich überhaupt mehr als ein paar Meter von ihrem bequemen, klimatisierten Bus fortzubewegen.
Sobald Jericho die ersten Häuser von Portree passierte, wusste er, was Islay gemeint hatte. Bis er die Hauptstraße erreichte, waren ihm fünf Fahndungsplakate aufgefallen. Das Foto darauf sah ihm sogar ähnlich. Hundert Pfund Belohnung waren Hinweise auf ihn wert. SAW zahlte immer schlecht, aber das sah Jericho als Beleidigung an. Ein Plakat direkt neben der Tür des Pubs Singender Sidhe sah aus, als hätte jemand versucht, es abzureißen. Islay? Pubbesuche konnte sich Jericho in nächster Zeit jedenfalls sparen. Langsam fuhr er weiter.
Hatte Portree vor drei Wochen noch wie eine Geisterstadt gewirkt, zeigten nun die überall parkenden Fahrzeuge, dass das Touristengeschäft wieder florierte. Menschen waren kaum zu sehen, die schliefen noch, frühstückten gemütlich in ihren Unterkünften oder waren mit den ersten Bussen unterwegs. An den Bed and Breakfasts hingen Schilder, die darüber informierten, dass keine Zimmer mehr frei waren. Auch am Otterview baumelte eines am Gartenzaun. Jericho fand einen Parkplatz zwei Straßen weiter und pirschte sich von hinten an das Haus heran. Er kletterte über zwei Mauern und landete schließlich in Miss Bumbles Garten, genau an der Rückwand des Schuppens.
Aus dem Holzhäuschen ertönte fröhlicher Gesang. Islay versuchte sich am neusten Hit von Demonhunters . Gar keine schlechte Stimme. Jericho lehnte sich an den Türrahmen und schaute zu, wie Islay liebevoll seine Indian polierte. Er war so in seine Tätigkeit versunken, dass er Jericho erst bemerkte, als der den Takt zu seinem Lied mit dem Fuß mitklopfte. Mit aufgerissenen Augen fuhr Islay herum, entspannte sich aber sofort, als er Jericho erkannte. Sein Lächeln fiel wie üblich umwerfend aus. »Hey, Jericho. Ach so, entschuldige. Keine Namen. Wie soll ich dich nennen? Jay? Mr. Namenlos?«
»Zeig mir Pinketts Brief.«
Islay zog einen Umschlag aus der Hosentasche und überreichte ihn Jericho. Es stand nicht viel mehr darin, als das, was Islay bereits berichtet hatte. Solomon Pinkett verlieh seiner Vermutung Ausdruck, dass Islay Kontakt zu Jericho hielt, und fragte an, ob Jericho Interesse an einer diskreten Dämonenjagd hatte. Bei der Formulierung musste Jericho lachen. »Ernsthaft? Die wollen sich das Prädikat mit der Dämonenfreiheit wohl noch mal verdienen, was?«
»Skyes Haupteinnahmequelle ist nun mal der Tourismus. Dämonen, die Besucher fressen, sind schlecht fürs Geschäft.«
»Hier steht nichts davon, dass jemand gefressen wurde.«
»Abwarten, was Mr. Pinkett zu sagen hat. Ich habe ihn für neun Uhr eingeladen.«
Jericho gab Islay den Brief zurück. »Bist du jetzt mein Sekretär?«
»Nennen wir es Assistent.«
»Ich brauche keinen Assistenten.«
Islay hob das Kinn. »Gut zu wissen, dann sage ich meine Verabredung mit Sergeant Burns für heute Abend ab.«
»Du bist ziemlich schnell eingeschnappt.« Jericho setzte sich auf eine Kiste mit der Aufschrift »Weihnachten«. Vermutlich Dekokram von Miss Bumbles.
Islay lehnte sich lässig an die Indian. Stand ihm. »Und du musst lernen, Hilfe anzunehmen.« Er musterte Jericho nachdenklich. »Das gestern Abend ...«
»Das war ein Fehler. Vergiss es.«
Islay grinste schief. »Nein, es war nett von dir. Du hast gemerkt, dass ich Angst habe, und wolltest mich ablenken. Was soll ich sagen, es ist dir gelungen. Danke.«
»Konntest du schlafen?«
Das Grinsen wurde breiter. »Du meinst, ob ich von dir geträumt habe?«
So langsam fand Islay zu seiner alten Form zurück. Jericho ging nicht auf die Flirterei ein. »Wir finden heraus, was es mit dieser Behauptung in dem Buch auf sich hat. In vielen Büchern steht einfach nur Schrott.«
Islay setzte sich neben Jericho auf eine andere Kiste mit der Aufschrift »Ostern.« Miss Bumbles war auf alle christlichen Feste vorbereitet. »Heißt das, du hilfst mir dabei? Obwohl du Incubi hasst?«
»Sagt dir der Spruch Kenne deinen Feind etwas?«
»Ich bin nicht dein Feind.« Islay rückte näher an Jericho heran, bis sich ihre Knie berührten. »Ich bin auf deiner Seite. Ich helfe dir, Terrys Mörder zu finden. Und den Mörder deiner Schwester.«
»Warum? Weil du mich als Kind für einen Helden gehalten hast?«
Islay sah Jericho schräg von der Seite an. »Weil das die Story meines Lebens wird. Damit bewerbe ich mich bei AWsome. Meine Abenteuer an der Seite von Jericho March.«
Manchmal war sich Jericho nicht sicher, was von dem Blödsinn, den Islay von sich gab, ernst gemeint war. Zur Vorsicht sagte er: »Überleg dir das besser noch mal. Die Leute, die sich bisher an meine Seite gewagt haben, sind tot.«
Islay verdrehte die Augen. »Geht es noch melodramatischer? Außerdem passt dir das doch gut in den Kram. Ein Incubus weniger.«
»Stimmt auch wieder.«
Islay schlug ihm mit der Faust auf den Oberschenkel. Er holte das zweite Mal aus, da packte Jericho sein Handgelenk. Sie sahen sich in die Augen. Nach ein paar atemlosen Sekunden wich der wütende Ausdruck aus Islays Gesicht. Kapierte er immer noch nicht, dass Jericho ihn schützen wollte? Seine Faust öffnete sich. Jericho ließ ihn los und er streckte die Hand aus, strich flüchtig über Jerichos Wange. Auf diese zärtliche Geste war Jericho nicht gefasst. Islay wohl auch nicht. Er zog die Hand hastig zurück, Röte stieg ihm in die Wangen. Er räusperte sich. »Okay. Die Wartezeit können wir überbrücken, indem wir uns über den Fall unterhalten.«
»Den Fall? Für mich ist Terry mehr als ein Fall.«
»Das ist doch nur so ein Ausdruck. Herrje, Jericho, wer ist heute schnell eingeschnappt? Verrätst du mir, ob du schon einen Verdacht hast?«
Islay war nicht dumm. Womöglich kam er auf neue Ideen. Das Problem bestand darin, dass Jericho ihm nicht traute. Dass er etwas mit dem Mord an Terry zu tun hatte, glaubte er nicht. Er hoffte es. Doch sicher war er sich nicht. Ebenso große Sorgen bereitete ihm Islays lockeres Mundwerk. Es könnte gefährlich werden, wenn er unabsichtlich Informationen ausplauderte. Nicht nur für Jericho, sondern für ihn.
Es war wohl der enttäuschte Ausdruck in Islays Augen, der Jericho dazu bewog, ein Risiko einzugehen. »Ich habe den Verdacht, dass der Mord an Clara und der an Terry zusammenhängen.«