6. Die Frau in Rot

Während sich Islay mit Solomon zu dem Hotel begab, in dem das Ehepaar wohnte, fuhr Jericho zur Werkstatt von Nic. Die begnadete Autoschrauberin, wie Islay sie nannte, entpuppte sich als Frau mit einem Lachen, das Jericho quer über den Hof entgegenschallte, noch bevor er sie gesehen hatte. Sie lachte noch immer, als sie hinter einem alten Saab hervorkam, Ölschmiere auf der Wange, das blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Neben ihr tauchte ein glatzköpfiger Mann mit Augenklappe auf. Er hatte sich ein Spinnennetz auf den Schädel tätowieren lassen.

Nic schlug ihm auf die Schulter. »Hank, den musst du gleich unbedingt Ma erzählen.« Sie wischte sich Lachtränen aus den Augen. Mit ausgreifenden Schritten marschierte sie auf Jericho zu. »Und Sie sind?«

»Ein Freund von Terence Campbell.« Jericho hatte sich extra die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Unter Nics scharfem Blick wurde ihm klar, dass es keine sonderlich gute Idee gewesen war, herzukommen. Nic erkannte ihn, das bemerkte er an der Art, in der sich ihre Augen für eine Millisekunde verengten.

»Aha.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Hat er Ihnen sein Auto vererbt? Daran werden Sie nicht viel Freude haben. Motorschaden. Ein Wunder, dass er es überhaupt bis Skye geschafft hat.«

»Steht der Wagen noch hier?«

»Klar. Ich hab drauf gewartet, dass die SAW-Typen ihn abholen. Aber die interessieren sich offenbar nicht dafür.« Sie kniff die Augen erneut zusammen. »Ein Freund, hm?«

»Was wollen Sie?«, mischte sich Hank ein.

»Er ist ein Freund von Mr. Campbell«, klärte Nic ihn auf. »Der Mercedes.«

»Auch von SAW?«, fragte Hank.

»Nein.« Direkt gelogen war es nicht, schließlich galt Jerichos Suspendierung weiterhin. »Ich will den Wagen sehen.«

Nic und Hank wechselten vielsagende Blicke. »Warum nicht?«, sagte Nic. »Kommen Sie.«

Sie führte Jericho zwischen einer Reihe Autos hindurch, an der Halle vorbei. Dahinter parkten weitere Autos in unterschiedlichen Stadien der Ausschlachtung. Jericho erkannte Terrys Wagen sofort. Der schleimgelbe Farbton hob sich von den dunklen Lackierungen der anderen ab. Der Mercedes sah noch unversehrt aus. Jericho berührte sacht den Lack an der Motorhaube. Terry hatte dieses Auto geliebt. Er war seit ihrer gemeinsamen Ausbildungszeit damit gefahren. Ein Geschenk von seinem Vater zum Schulabschluss.

Nic trat näher an Jericho heran. »Der Wagen ist top gepflegt, aber gegen Verschleiß kann man nun mal nicht viel machen«, sagte sie laut. Wesentlich leiser fügte sie hinzu: »Sie sollten vorsichtiger sein, Jericho March.«

»Woran haben Sie mich erkannt?«

Nic stieß wieder ihr dröhnendes Lachen aus. »Einen Austauschmotor? Wenn der mal so leicht zu beschaffen wäre!« Sie öffnete die Motorhaube. »Ganz Portree ist mit Fahndungsplakaten tapeziert«, zischte sie. »Die Fotos sehen Ihnen sogar ähnlich. Und um es mal ganz offen zu sagen: Sie haben sich keine große Mühe mit Ihrer Tarnung gegeben.«

Jericho tippte sich an die Baseballkappe. Das entlockte Nic diesmal nur ein müdes Grinsen. »Ernsthaft?« Sie tat, als würde sie Jericho etwas an den Kabeln zeigen. Er beugte sich gehorsam vor.

»Keine Sorge, ich verpfeife Sie nicht«, flüsterte Nic. »Sie sind ein Freund von Islay und ich mag ihn. Außerdem haben Sie uns den Arsch gerettet. Das weiß ich zufällig auch von Islay. Wer weiß, wer ohne Sie noch alles als Spinnenfutter geendet hätte. Die SAW-Typen, die später hergekommen sind, waren arrogante Mistkerle. Hab keine sonderlich große Lust, denen zu helfen, Sie zu schnappen.«

»Na so ein Glück«, brummte Jericho. »Irgendwas in Terrys Wagen gefunden?«

Sie hob die Schultern. »Sehen Sie selbst nach.« Damit drehte sie sich um und ließ Jericho mit dem Mercedes allein.

 

Eine Stunde später traf er sich mit Islay im Gartenschuppen. Islay hatte eine der Kisten als Tisch zweckentfremdet. Auf einer mit Hasen verzierten Tischdecke stand ein Teeservice. Gegen den Teller mit Scones hatte Jericho nichts einzuwenden. Er nahm einen und biss in das noch warme Gebäckstück. »Wo hast du denn die schicke Decke her?«

Islay zeigt auf eine Kiste mit der Aufschrift Ostern . »Was gefunden in Terrys Wagen?«

»Nichts. Kam mir vor, als hätte den jemand aufgeräumt.« Das Handschuhfach hatte mit gähnender Leere geglänzt. Selbst für einen ordentlichen Menschen wie Terry war das ungewöhnlich.

»Der Mörder«, flüsterte Islay mit aufgerissenen Augen. »Er war bei Nic auf dem Hof!«

»Möglich. Was hast du herausgefunden?«

»Das war seltsam. Die Leute haben erzählt, dass sie eine Frau im roten Kleid gesehen haben, die im See um sich schlug und schrie, bis sie unter die Wasseroberfläche gezogen wurde. Sie ist nicht wieder aufgetaucht.«

»Was ist daran seltsam?«

»Ich war noch bei meinen Kollegen vom Beobachter . Die hatten noch andere Zeugen befragt. Die ertrunkenen Frauen hatten alle ein rotes Kleid an.«

»Hat irgendjemand diese Frauen vorher auf Skye gesehen?«

»Nein. Hätten eigentlich auffallen müssen mit der Kleidung.« Islay tippte sich gegen das Kinn. »Meinst du, die gehören zusammen? Die roten Kleider könnten eine Uniform sein. Von ... einem Schnellimbiss?«

Jerichos Theorie sah ein wenig anders aus. Er stand auf. »Fahren wir zum See.«

 

Die Straße zum Storr war abgesperrt. Ein Polizeiauto stand quer auf der Fahrbahn. An der Motorhaube lehnten zwei Frauen, eine in Uniform, die andere in Robe. Jericho bremste den Volvo ab. »Ist das üblich, dass die Magier mit der Polizei zusammenarbeiten?«

»Skye ist klein. Hier halten alle zusammen, wenn es Ärger gibt. Meistens jedenfalls. Nur gegen SAW haben die Einheimischen was.«

»Hab ich gemerkt.«

Für Jericho konnte das nur von Vorteil sein. Wenn die Menschen von Skye nicht gut auf SAW zu sprechen waren, verringerte das ihre Motivation, ihn dort zu melden. Die lächerliche Belohnung bot auch keinen großen Anreiz.

Jericho kurbelte das Seitenfenster hinunter und wartete, bis die Polizistin sich dem Auto näherte, eine Hand auf dem Waffenholster. »Durchfahrt verboten, Sir. Drehen Sie bitte um.«

Ohne die Frau direkt anzusehen, reichte Jericho ihr den Ausweis, den Solomon ihm gegeben hatte, durch das Fenster. Es war eher eine Plakette, ohne Namen, mit dem eingravierten Symbol der Magier von Skye, einem achtbeinigen Schaf. Oder was immer das Viech darauf darstellen sollte. Jericho hatte nicht nachgefragt. Die Polizistin schien gebührend beeindruckt von dem Ding, tippte sich an ihre Mütze und trat zurück. »Sie können passieren, Sir.«

Jericho lenkte den Wagen an dem Polizeiauto vorbei, rumpelte mit zwei Reifen kurz durch den Schlamm neben der asphaltierten Straße.

»Das ist nicht gut«, meinte Islay. »Der Tourismus hat durch die Offene Tür schon genug gelitten. Der Old Man of Storr ist ein wichtiger Sightseeingpunkt auf Skye. Wenn da niemand mehr hinfahren darf, bedeutet das Ärger mit den Gästen.«

»Der Ärger wäre vermutlich noch größer, wenn weitere Frauen in roten Kleidern ersaufen.«

»Stimmt schon.« Islay runzelte die Stirn. »Hattest du je mit einer AW zu tun, die sich auf Frauen in Rot spezialisiert hat?«

»Bisher nicht.« Und auch diesmal glaubte Jericho nicht, dass er einer solchen AW begegnen würde. Sein Verdacht ging in eine andere Richtung.

Wenige Minuten später passierten sie den Wasserfall und erreichten den Loch Leathan. In der glatten Oberfläche spiegelte sich der wolkenverhangene Himmel. Nichts zu sehen von rotgekleideten Frauen.

Jericho stieg aus und ging über den Kieselstrand ans Ufer, dicht gefolgt von Islay. Sie schauten auf das Wasser. Islay bückte sich und hob etwas auf. »Sieh mal, hier liegen überall Muscheln herum.« Auf seiner ausgestreckten Handfläche lagen zwei perlmuttfarben schimmernde Muschelschalen. Passte zu dem, was Jericho vermutete.

»Ich könnte reingehen«, schlug Islay vor. »Vielleicht lockt das den Dämon an.«

»Gute Idee.«

Vermutlich hatte Isaly nicht mit Jerichos Zustimmung gerechnet. Sein entgeisterter Blick sprach Bände. »Wirklich?«

»Klar.« Jericho unterdrückte ein Grinsen. »Hast du dein rotes Kleid dabei?«

»Du Blödmann!« Islay lachte. Doch sein amüsiertes Glucksen erstarb in einem erschrockenen Gurgeln. »D... da!« Er streckte den Arm aus und deutete mit zitterndem Zeigefinger rechts ans Ufer. Dort schimmerte ein roter Fetzen. Mit wenigen Schritten erreichte Jericho ihn und hob ihn auf. Er musste ihn zwischen den Steinen hervorziehen. Dabei stellte sich heraus, dass es sich nicht nur um ein Stück Stoff, sondern um ein ganzes Kleid handelte, über das jemand Kieselsteine gehäuft hatte.

Jericho drehte sich zu Islay um und hielt das Kleid hoch. »Noch Lust auf eine Runde Schwimmen?«