Islay stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du willst mich also echt als Köder benutzen?«
»Du hast doch damit angefangen.« Jericho stapfte zurück zum Auto, stieg ein und warf das Kleid auf den Rücksitz. Er ließ den Motor an und wartete, bis Islay sich auf den Beifahrersitz geschwungen hatte.
»Wohin fahren wir?«
»Kleinen Besuch machen.«
Bei seinem letzten Einsatz auf Skye hatte ihm jemand einen wertvollen Tipp gegeben. Murray Shelly, ein Anderweltler, ein Shellycoat genau gesagt, dessen Schwester in ihrer Freizeit magische Tränke zusammenmischte. Unter anderem das Mittelchen, mit dem Hamish die magischen Fähigkeiten von Solomon lahmgelegt hatte. Vor seiner Rückkehr hatte Jericho die Shellys Zuhause besucht und sich für die Hilfe bedankt. Die Familie lebte in zwei nebeneinanderliegenden Häusern. Jericho parkte direkt davor am Straßenrand.
»Wir besuchen die Shellys?« Islay spähte neugierig durch die Windschutzscheibe. »Wieso?«
»Weil es nette Leute sind. Kennst mich doch. Feenfreund und so weiter.«
»Klar.« Islay warf Jericho einen skeptischen Blick zu. »Na gut, ich lasse mich überraschen.«
Ein kleines Mädchen mit roten Locken öffnete ihnen die Tür und schenkte ihnen ein zahnlückiges Lächeln. Dass sie ein Shellycoat war, erkannte Jericho lediglich an der Muschelkette, die sie um den Hals trug. Und an den Schwimmhäuten zwischen den Fingern, als sie den Daumen in den Mund steckte. Mit großen Augen schaute sie zu Islay und Jericho auf.
»Sind deine Eltern zu Hause?«, fragte Islay freundlich.
Sie nickte.
»Holst du sie bitte mal?«
Kopfschütteln.
»Junge Dame, wer hat dir ...« Eine junge Frau mit Haaren im gleichen Rotton fegte aus einem angrenzenden Zimmer in den Flur. Sie bremste abrupt ab und verstummte, als sie Jericho sah. »Jericho March!«
Jericho gab auf und nahm die blöde Baseballkappe ab. »Tag, Mrs. Shelly.«
»Ach was, nennen Sie mich Lucy.« Lucy lächelte herzlich. »Islay, so eine Überraschung. Bleibst du länger auf Skye oder ... aber komm erst mal herein. Sie natürlich auch, Mr. March.«
»Jericho.«
Sie folgten dem voraushüpfenden Mädchen und Lucy durch den Flur, eine geräumige Küche und eine zweiflüglige Tür in den Garten. Der bot eine gute Mischung aus üppiger Natur und kultiviertem Nutzgarten. Entlang einer Bruchsteinmauer zogen sich Gemüsebeete und blühende Stauden, von Blumenrabatten umrahmt. Ein Apfelbaum in der Mitte der Wiese trug viele noch kleine Früchte, an einem der dickeren Äste hing eine Schaukel. In einer Ecke des Gartens befand sich ein Teich, von Seerosen bedeckt und Schilfrohr umgeben. Eine ältere Dame in einem klassischen beigefarbenen Twinset, das graue Haar elegant hochgesteckt, zog mit einem Rechen Laub aus dem Wasser. Das einzige Kleidungsstück an ihr, das zur Gartenarbeit passte, waren die gelben Gummistiefel.
Das Mädchen rannte zur Schaukel und Lucy wandte sich an Islay. »Murray ist leider nicht da, er macht eine Bootstour mit Touristen. Wir wussten nicht, dass du wieder da bist. Er wird enttäuscht sein, dich verpasst zu haben.« Sie flocht ihre Finger ineinander und schaute, während sie sprach, mehrmals zu der schicken Gärtnerin hinüber, die keinerlei Notiz von den Gästen nahm.
»Ja, ich schulde ihm noch ein paar Bier«, sagte Islay und grinste.
Lucy lachte. »Ach so, das erklärt einiges. Tee? Ich habe frischen aufgebrüht.«
Auf einem Metalltisch auf der bunt gefliesten Terrasse stand eine Kanne mit zwei Tassen, dazu eine Etagere mit Sandwiches. »Ich hole schnell noch zwei Tassen.« Lucy huschte ins Haus.
»Sie ist nervös«, flüsterte Islay Jericho zu. »Liegt das an dir?«
»Kaum. Bei meinem letzten Besuch war sie wesentlich entspannter.«
»Ach! Ich wusste nicht, dass du so gut mit den Shellys bekannt bist.«
Dazu sagte Jericho nichts.
Lucy kam zurück und schenkte Tee in die Tassen. »Shirley, der Tee ist fertig!«, rief sie in Richtung der gärtnernden Lady. »Das ist Murrays Tante Shirley, sie ist für ein paar Wochen bei uns zu Besuch«, erklärte sie Jericho und Islay. Sonderlich begeistert wirkte sie nicht darüber und sie seufzte resigniert.
Hoch aufgerichtet marschierte Tante Shirley auf sie zu, den Rechen mit den Spitzen nach oben in der Hand und an die Schulter gelehnt wie eine Muskete. »Ah, wir haben Besuch!« Ihre Stimme klang rau und rauchig, nicht unangenehm, und der Blick aus grauen Augen war klar und kühl wie ein Gebirgsbach.
»Tante Shirley, das sind Jericho March und Islay MacGregor, Freunde von Murray«, stellte Lucy vor. »Jericho, Islay, darf ich Shirley Shelly vorstellen. Sie kommt von der Insel Mull und ...«
»Sehr erfreut«, unterbrach Tante Shirley sie brüsk. Einen Moment glaubte Jericho, sie würde ihnen die Hand zum Handkuss darbieten, doch sie bevorzugte einen festen, kurzen Händedruck. »Sie sind also der Dämonenjäger, der von SAW wegen Mordes gesucht wird?«
Treffer versenkt.
»Shirley!«, rief Lucy. Ihre Wangen röteten sich.
»Stimmt«, sagte Jericho trocken. »Und Sie sind die Dame in rot, die bereits mehrmals Ertrinken im Loch Leathan vorgetäuscht hat?«
Lucy schnappte nach Luft. »Shirley!«, stieß sie hervor. »Wie, was ... aber ...«
Tante Shirley behielt die Fassung. Sie musterte Jericho abschätzend. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Die Muscheln am See, zum Beispiel. Außerdem passen die Augenzeugenberichte zu gut zu dem typischen Streich eines Shellycoats.«
Tante Shirley spitzte die dezent geschminkten Lippen. »Sie werfen mir mangelnde Kreativität vor?«
»Ich werfe Ihnen vor, dass Sie Touristen erschrecken.«
Lucy sah von einem zum anderen wie bei einem Tennismatch. »Tante Shirley, ist das wahr?«
»Nun ja.« Tante Shirley betrachtete den Rechen, als überlegte sie, ihn mit den Spitzen voran in Jerichos Hals zu rammen. An besagten Spitzen entdeckte Jericho bunte Verfärbungen. Wie von Autolack. Das war also die mysteriöse Monsterkralle. Er verteilte sein Gewicht gleichmäßig und bereitete sich auf eine moderate Abwehr vor, doch Tante Shirley ließ den Rechen langsam sinken und legte ihn neben der Terrasse ab. »Lucy, wie wäre es, wenn du uns etwas Stärkeres als Tee bringst?«
Nach kurzem Zögern verschwand Lucy ein weiteres Mal im Haus.
»Setzen wir uns«, kommandierte Tante Shirley.
Islay hatte bisher geschwiegen und hielt auch jetzt den Mund, bis sie alle um den Tisch saßen. Seine Augen glänzten verdächtig. Bestimmt formulierte er im Geiste bereits einen Artikel über die finsteren Machenschaften der Shirley Shelly.
»Sie haben meinem Cousin in Edinburgh geholfen, Mr. March«, ergriff diese das Wort. »Ich glaube, Sie sind vertrauenswürdig.« Unerschrocken blickte sie Jericho in die Augen. »Hat dieser Magierverein Sie beauftragt?«
»Die Magier halten Sie für einen Wasserdämon.«
Tante Shirley brach in herzliches Lachen aus. Sie kicherte noch vor sich hin, als Lucy mit einer Flasche Whisky zurückkam und die Teetassen großzügig füllte. Sie selbst gab Tee zum Whisky, Tante Shirley hob die Tasse, prostete den anderen zu und nahm einen unverdünnten Schluck. »So, da bin ich also ertappt worden«, stellte sie eher belustigt als verängstigt fest.
»Warum hast du das getan?«, fragte Lucy vorwurfsvoll. »Wie konntest du diesen armen Menschen so einen Schreck einjagen?«
»Kindchen, ich habe es nur gut gemeint«, behauptete Tante Shirley, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ihr habt hier auf Skye viel zu viele Touristen. Die stören die Ruhe, die Natur, machen Dreck und Müll und sollen besser zu Hause bleiben.«
»Was?« Mit einem Klirren stellte Lucy ihre Tasse ab. »Du wolltest Touristen vergraulen? Dir ist aber schon klar, dass Murray und ich vom Tourismus leben?«
»Du bist Lehrerin, meine Liebe, und Murray sollte besser wieder einer ehrlichen Arbeit nachgehen. Eigentlich ist er doch Fischer, wie sein Vater und sein Großvater und überhaupt jeder in unserer Familie. Es ist unter seiner Würde, diese dummen Leute auf seinem Boot herumscharwenzeln zu lassen.« Seelenruhig nippte Tante Shirley an ihrem Whisky.
Lucy stand der Mund offen. »Schar... was?«
»Die Rechnung wäre sowieso nicht aufgegangen«, mischte sich Islay munter ein. »Touristen mögen geheimnisvolle Begebenheiten wie Ladys in Rot. Bestimmt kommen schon extra welche her, weil sie von Ihnen gehört haben, Mrs. Shelly.«
»Junger Mann, Sie sind ja ein ganz Schlauer.« Pikiert musterte Tante Shirley Islay, der sie entwaffnend anlächelte. Es dauerte nicht lange, bis sich ihre missbilligende Miene ebenfalls in ein Lächeln verwandelte. »Na schön, womöglich habe ich mich auch ein bisschen gelangweilt«, gab sie zu. »Aber diese Horden von Touristen ... das ist doch unerträglich. Da lobe ich mir mein ruhiges Mull.«
»Vielleicht solltest du dann wieder zurück auf dein ruhiges Mull, statt uns hier das Leben schwer zu machen«, sagte Lucy scharf. »Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, was geschieht, wenn deine Freizeitbeschäftigung bekannt wird? Anderweltler haben sowieso keinen leichten Stand. Bisher haben wir Shellycoats auf Skye friedlich mit den Menschen zusammengelebt.«
»Das wird auch weiterhin so bleiben«, sagte Jericho ruhig. »Wenn es keine weiteren Vorkommnisse mehr gibt.«
Das erste Mal zeigte Tante Shirley eine Spur von Reue. Sie verschränkte die Hände im Schoß und schaute sittsam auf ihren Teller. »Natürlich nicht.« Doch schon hob sie den Kopf wieder. »Die Magier müssen das ja nicht erfahren. Es gibt Dinge, die man besser für sich behält. Wie zum Beispiel den Besuch gewisser gesuchter Personen.«
Jericho nickte ihr zu. Sie nickte ebenfalls. Damit war der Schweigepakt besiegelt. Jericho würde sie nicht an die Magier verraten. Im Gegenzug nahm sie keinen Kontakt zu SAW auf. Er traute ihr. Im Zweifel verließ sich Jericho eher auf Anderweltler als auf Menschen. Erfahrungswerte.
Lucy brachte sie zur Tür. Doch nachdem sie sich verabschiedet hatte und Islay und Jericho bereits auf dem Weg zum Auto waren, drängte sich Tante Shirley an ihr vorbei.
»Jericho March«, sagte sie im Befehlston. Irgendwie erinnerte sie Jericho an seine Vermieterin. Gehorsam ging er zurück zur Tür. Tante Shirley hatte die Gummistiefel ausgezogen. Sie trug rote Socken mit kleinen grünen Drachen darauf. Passten hervorragend zum Twinset. Ihre Hand schoss vor. Erstaunlich kräftige Finger umklammerten Jerichos Oberarm. Graue Augen funkelten. Deutlich blitzte der Shellycoat hinter der ladyliken Fassade hervor. »Jericho March«, raunte Tante Shirley. »Ich spüre das Wasser in dir. Es ist ruhig. Noch. Doch unter der Oberfläche brodelt es bereits.« In ihrem Blick glomm ein grünliches Leuchten auf. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, wodurch sie Jericho trotzdem nur knapp bis zur Brust reichte. Ungeduldig bedeutete sie ihm, sich zu ihr hinunterzubeugen. »Wasser«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Es ist stark in dir.«