»Naja, jeder Mensch besteht zu achtzig Prozent aus Wasser«, überlegte Islay laut auf dem Weg zurück nach Portree. Dank seiner guten Ohren hatte er jedes Wort mitbekommen, das Tante Shirley zu Jericho gesagt hatte. »Aber irgendwie unheimlich war sie schon. Wie so ein Orakel. Woher wusstest du, dass sie den Wasserdämon gespielt hat?«
»Gut geraten. Außerdem hätte ich weder Murray noch Lucy noch Joan so einen Mist zugetraut.«
»Ah, du hast also bereits die komplette Familie Shelly kennengelernt.«
»Nur die, die auf Skye lebt. Und den Cousin aus Edinburgh.«
»Du musst mir unbedingt von dem Gefallen erzählen, den du ihm getan hast. Das ist nun schon das zweite Mal, dass ich davon höre.« Islay lehnte sich zurück und legte die Füße auf das Armaturenbrett. Er trug löchrige Chucks, die aussahen, als wären sie noch vor dem Wandel hergestellt worden. »Jedenfalls hätte ich es Joan auch zugetraut, dass sie auf so eine Idee kommt. Schließlich war sie es, die Hamish den Trank verkauft hat, mit dessen Hilfe er den Ersten Magier stürzen wollte.«
»Und warum sollte sie ausgerechnet jetzt auf diese Idee kommen? Nein, es war logisch, die Schuldige bei Neuankömmlingen zu suchen.«
»Hast du nicht vor Kurzem noch behauptet, du wärst kein Ermittler?«
»Auch Dämonenjäger können logisch denken.«
Jericho parkte vor dem Haus der Magier. Bevor er ausstieg, setzte er sich die Baseballkappe wieder auf. Er müsste wohl an seiner Tarnung arbeiten. Lucy war schon die zweite gewesen, die ihn auf Anhieb erkannt hatte. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass sämtliche Einwohner von Skye nichts mit SAW zu tun haben wollten. Außerdem gab es noch Touristen. Viele Touristen. Einige standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und machten Fotos vom Magierhaus. Mit Digitalkameras. Skye war einer der wenigen Orte in Schottland, an denen diese Dinger funktionierten. Jericho wies mit dem Kinn auf die Leute. »Hast du auch so eine Kamera?«
»Ich benutze eine analoge Spiegelreflex«, erklärte Islay würdevoll. »Dass ich in Edinburgh aufgewachsen bin, heißt nicht, dass ich ein Dummkopf bin. Als Journalist und angehender Mitarbeiter von AWsome muss ich darauf eingestellt sein, in der Nähe von Dimensionslöchern zu arbeiten.« Er hob den Arm. »Übrigens habe ich auch eine analoge Uhr, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte. In einer Stunde treffe ich mich mit Sergeant Burns im Singenden Sidhe . Kommst du mit?«
»Besser nicht. Will mich so wenig wie möglich blicken lassen.«
Außerdem, das musste Jericho zugeben, würde Islay vermutlich mehr aus dem Sergeant herausbekommen, wenn er es allein versuchte. Jericho konnte eine einschüchternde Wirkung auf andere haben. Und besonders Polizisten waren für gewöhnlich nicht gut auf ihn zu sprechen. Es waren Geschichten über ihn im Umlauf, die von Zusammenstößen mit der Polizei handelten. Nicht ganz aus der Luft gegriffen, wenn auch meist übertrieben.
»Okay.« Islay besaß den Anstand, wenigstens ein bisschen enttäuscht auszusehen. »Wir sehen uns dann später im Camp. Ich bringe dir was zu Essen mit.«
Wenn er nur nicht immer so verdammt nett wäre ... Jericho knurrte etwas Unverbindliches. Härter als nötig ließ er den Türklopfer gegen das Holz schlagen.
Solomon Pinkett gab sich mit Jerichos Behauptung, er hätte den Wasserdämon unschädlich gemacht, zufrieden. Ob er Jericho wirklich glaubte, stand auf einem anderen Blatt. Jericho ging nicht davon aus. Dumm war der Erste Magier nicht. Ein wenig vertrauensselig vielleicht. Zu Jerichos Freude händigte er ihm gleich einen Umschlag mit der vereinbarten Bezahlung aus. So musste Jericho sich wenigstens nicht auch noch von einem Incubus aushalten lassen. Auf dem Weg zurück zu seinem Camp kreisten seine Gedanken eine Weile um die rätselhaften Worte von Tante Shirley. Er hatte nie eine besondere Affinität zu Wasser besessen. Er trank das Zeug auch nicht gerne. Ein frischgezapftes Stout war ihm lieber. Obwohl auch das zu einem Gutteil aus Wasser bestand. Womöglich hatte Islay recht und die Worte bezogen sich auf den Wasseranteil im menschlichen Körper und Tante Shirley war durchgeknallt. Durchgeknallt genug, um Touristen zu erschrecken, war sie auf jeden Fall, also sollte er ihren mysteriösen Bemerkungen keine Bedeutung beimessen.
Jerichos Zelt stand noch. Zwei Schafe mit pinkfarbenen Flecken auf der Wolle lagen daneben wie Wachhunde und schauten Jericho neugierig entgegen, kauend. Jericho öffnete den Reißverschluss des Zelteingangs und zog die Isomatte nach draußen. Er setzte sich und zog das Lederfutteral aus der Tasche. Solomon hatte es ihm überlassen, ohne zu fragen, wozu er es brauchte. Jericho hatte ihm lediglich gesagt, er müsste ein magisches Artefakt damit umhüllen und benötigte Hitzeschutz. Das Futteral erwies sich als etwas zu klein für das Amulett. Oben schaute ein Stück der goldenen Fassung heraus. Egal. Jericho hängte es sich um den Hals. Ob das Futteral etwas taugte, konnte er erst feststellen, wenn sich Islay in der Nähe befand.
Bis dahin las Jericho in Terrys Notizbuch. Auf die meisten Einträge, in Terrys persönlicher Kürzelschrift verfasst, konnte er sich keinen Reim machen. Wie schon nach Claras Tod schienen seine Ermittlungen im Sande zu verlaufen. Mit dem Unterschied, dass er nach Claras Tod zu keinem klaren Gedanken fähig gewesen war. Von Trauer und Wut zerfressen hatte er nur danach getrachtet, Incubi zu jagen und zu töten, in der Hoffnung, dass sich nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit irgendwann Claras Mörder unter ihnen befinden musste. Statt der Auflage von SAW nachzukommen, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, war er jede Nacht durch die Straßen von Edinburgh gestreift, getrieben von Hass und Rachedurst.
Einen Incubus hatte er nicht erwischt und Clara war davon auch nicht wieder lebendig geworden. Diesmal würde er es klüger anstellen. Besonnener. Die Aufklärung von Terrys Tod würde ihn auch zu Claras Mörder führen, dessen war er sicher. Und solange ihm Islays Unterstützung dabei half, würde er seinen Hass zurückstellen und den Incubus am Leben lassen.
Doch nicht länger.