Islay ließ sich Zeit. Erst am frühen Abend sah Jericho ihn von seinem Aussichtspunkt die Straße entlangfahren. Rasen wäre wohl der bessere Ausdruck. Nach einigen haarsträubenden Überholmanövern bog Islay in den Feldweg ein und verschwand aus Jerichos Sicht. Wenige Minuten später konnte er beobachten, wie Islay über die Wiese stapfte. Irgendetwas stimmte nicht. Jericho kniff die Augen zusammen. Verdammt, brauchte er allmählich eine Brille? Er wurde alt.
Als Islay bis auf fünfzig Meter herangekommen war, sah er auch ohne Brille, was los war. Islays rechtes Auge war zugeschwollen, seine Wange blaurot verfärbt und unter seiner Nase klebte verkrustetes Blut. Bevor er sich bewusst dafür entschieden hatte, rannte Jericho los. Er erreichte Islay und packte ihn an den Schultern. »Was ist passiert?«
Mit einer Mischung aus Trotz und Verlegenheit schielte Islay zu ihm hoch. Aus der Nähe sah er noch übler aus. Seine sonst schmale, feingemeißelte Nase sah aus wie ein Klumpen und das rechte Auge konnte er nur einen Spalt weit öffnen. Es tränte. »Kleiner Zwischenfall.«
»Wer zur Hölle war das?«
»Nicht so wichtig. He, starr mich nicht so an. Hast du dich noch nie geprügelt?«
»Doch, aber dann sah immer mein Gegner so aus.«
»Haha.« Islay machte sich von ihm los und trottete an ihm vorbei zu der Isomatte, die Jericho wie am Vortag auf der Hügelkuppe ausgebreitet hatte. Er streifte den Rucksack von den Schultern, stellte ihn ab und setzte sich ächzend. »Hab dir Shepherds Pie mitgebracht. Und ein paar Bier.«
»Scheiß auf den Pie, du erzählst mir jetzt, was los war!« Jericho setzte sich nicht, er stellte sich so vor Islay, dass er ihm die Sicht auf das Meer versperrte, und musterte ihn grimmig. »Wir können hier keinen Ärger brauchen, wenn wir ermitteln wollen.«
Islay war blass und sah so elend aus, dass Jericho beinahe Mitleid mit ihm gehabt hätte. Wenn er der Typ für Mitleid und Islay kein Incubus gewesen wäre. So ließ es ihn völlig kalt, dass dieser Trottel sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Abgesehen davon, dass sie eigentlich unauffällig bleiben wollten und es ihn ärgerte, wie dämlich Islay sich benahm. »War das dieser Sergeant, mit dem du dich getroffen hast?«
»Lola?« Islay fing an zu lachen. Das führte dazu, dass ihm Blut aus der Nase tropfte. Er zog ein bereits rotfleckiges Taschentuch hervor und tupfte mit schmerzverzerrtem Gesicht unter seiner Nase herum.
Jericho sah seine Chance gekommen. Er ging vor Islay in die Hocke und schob seine Hand mit dem Tuch weg. »Lass mich mal sehen.«
Islay zuckte zurück. »Nein danke«, protestierte er schwach. »Mir fehlt nichts.«
»Bist du sicher, dass die Nase nicht gebrochen ist?«
»Ja, das fühlt sich anders an.«
Jericho fragte sich, wie oft Islay schon die Nase gebrochen worden war. Bisher hatte er ihn nicht als Schläger eingeschätzt. Mit der rechten Hand wischte er Blut von Islays Kinn, mit der linken zog er das Amulett hervor. Eine bessere Gelegenheit, Islays Nutzen auszutesten, würde so schnell nicht wiederkommen. Das Futteral wirkte, nur ein wenig Wärme kam durch die magische Schicht. Jericho zog das Amulett am Lederband aus der schützenden Hülle und behielt den rotleuchtenden Stein im Auge, während er Blut darauf schmierte. Dabei verbrannte er sich die Finger. Das Rot wurde dunkler und intensiver. Gut, also wäre das geklärt. Ohne sich damit aufzuhalten, das Blut wieder abzuwischen, schob Jericho das Amulett zurück in die Lederhülle.
»Was sollte denn das?«, fragte Islay und zog die Nase hoch.
Jericho befühlte Nasenrücken und Jochbeine. Angeschwollen, aber kein Bruch zu ertasten. »Deine Überlebenschancen sind soeben gestiegen.«
»Seit wann ist ein Nasenbeinbruch tödlich?« Vergeblich versuchte Islay, Jerichos Untersuchung auszuweichen. Jericho legte ihm einfach eine Hand in den Nacken und packte ihn mit der anderen unter dem Kinn, drehte seinen Kopf vorsichtig von einer Seite zur anderen. Das Auge sah übel aus.
»Das nicht. Kannst du auf dem rechten Auge was sehen?«
»Ja. He, das reicht jetzt.« Islay umfasste Jerichos Handgelenk. »Au, verdammt!«
Er zuckte erneut zusammen, als Jericho sein Oberlid behutsam nach oben zog. Jericho ließ ihn los. »Du solltest das kühlen.«
»Ja, gute Idee. Gib mir bitte mal ein Bier aus dem Rucksack.«
Jericho reichte ihm die kalte Dose und nahm eine Thermobox heraus. Der verführerische Duft von Pie stieg ihm in die Nase.
»Besteck ist in der Außentasche. Was meintest du mit Überlebenschancen?«
Islay blinzelte ihn mit seinem heilen Auge so arglos an, dass Jericho der Appetit verging. Er setzte sich neben ihn auf die Isomatte. »Da du mir schon nicht erzählen willst, warum du dich hast schlagen lassen, kannst du mir von deinem Gespräch mit dem Sergeant berichten. Und danke für das Essen. Geld gebe ich dir gleich.«
»Ach, haben die Magier gezahlt?« Islay setzte zu einem Grinsen an, das zu einer leidvollen Grimasse wurde. Seine Nase blutete nicht mehr, doch er litt sichtlich Schmerzen, auch wenn er ebenso sichtlich versuchte, das zu verbergen. »Dafür sind sie gar nicht bekannt.« Er hielt sich die Bierdose an die rechte Gesichtshälfte. »Na schön. Lola wollte mir nichts sagen. Sie hat Schiss, dass sie ihren Job verliert, wenn sie Interna ausplaudert. Einiges habe ich aber doch herausgefunden. Der Fall Terence Campbell ist der örtlichen Polizei entzogen worden. SAW hat übernommen. Angeblich gibt es Hinweise auf die Beteiligung von Anderweltlern.«
»Das ist alles?« Das hatte sich Jericho schon gedacht. SAW wollte natürlich selbst ermitteln, wenn einer der ihren ermordet wurde. Die Sache mit den Anderweltlern war vermutlich ein vorgeschobener Grund.
»Nicht ganz.« Islay drehte die Bierdose auf der Suche nach einer kühleren Stelle. »Sie hat mitbekommen, warum du unter anderem verdächtigt wirst. Hamish Connell hat wohl ausgesagt, dass du ihn bedroht hast. Du hättest zu ihm gesagt, wenn er dir in die Quere kommt, machst du mit ihm dasselbe wie mit Terence Campbell.«
Jericho knirschte mit den Zähnen. Diese miese Ratte von Connell. Er hätte ihn damals doch aus dem Fenster werfen sollen, wie ursprünglich geplant. »Der Scheißkerl lügt doch, wenn er den Mund aufmacht.«
»Da gibt es noch etwas.« Islay legte die Dose zur Seite und streckte auffordernd die Hand aus. Jericho unterbrach seine Mahlzeit, nahm eine frische aus dem Rucksack und gab sie ihm. Islay drückte sie an seine Wange und stöhnte halb vor Schmerz, halb vor Erleichterung. Dummerweise brachte dieses Geräusch Jericho auf unpassende Gedanken. Scheißincubi. Es lag in ihrer Natur, Menschen zu verführen und ihnen dann skrupellos die Energie auszusaugen. Auch wenn Islay bis vor kurzem nichts von seiner Herkunft gewusst hatte, lag ihm dieser Wesenszug garantiert im Blut. In seinem wirkungsvollen Blut, wie das Amulettexperiment gezeigt hatte. Jetzt gerade sah er aus, als hätte er ein wenig fremde Energie durchaus nötig.
»Ich musste Lola drei Pints und ein Essen ausgeben, um sie zum Reden zu bringen«, erklärte er. »Und natürlich meinen Charme spielen lassen.« Er versuchte, Jericho anzüglich zuzublinzeln, was jämmerlich daneben ging, da er ohnehin nur mit einem offenen Auge dienen konnte. »Sie hat Gerüchte gehört, dass Terence etwas über dich herausgefunden hat. Er hat mit einem SAW-Kollegen darüber gesprochen. Es handelt sich angeblich um eine Information, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll. Darum vermutet SAW, dass du Terence zum Schweigen gebracht hast.«
Jericho schleuderte die halbleere Thermobox von sich und sprang auf. »Was für ein Bullshit!« Er stapfte auf dem Hügel hin und her, kickte in die matschige Erde, dass ein paar Grassoden flogen. Wenn er diesen Kollegen in die Finger bekam! Statt auf so einen Mist zu hören, sollten diese Arschlöcher von SAW lieber nach dem richtigen Mörder suchen! Schon bei Clara hatten sie kläglich versagt. Schlimmer noch, sie hatten sich überhaupt keine Mühe gegeben. Clara war schließlich nur ein Mensch, eine Zivilistin, und sogar zum Teil selbst schuld an ihrem Tod, weil sie sich auf einen Incubus eingelassen hatte. Jericho kannte diese Ansicht, auch wenn es niemand wagte, sie ihm ins Gesicht zu sagen.
Terry war einer der besten gewesen. Nicht auf Ruhm und Karriere bedacht, sondern darauf, Schottland zu einem halbwegs sicheren Ort zu machen. Dafür hatte er alles gegeben und was bekam er zum Dank? Eine Klinge quer über die Kehle und einen Haufen Stümper, die zu dämlich waren, seinen Mörder zu finden!
»Ja, SAW verkackt es gerade«, hörte er Islay sagen, als hätte der seine Gedanken gelesen. »Aber du bist ja auch noch da.«
Ja, er war auch noch da, genauso ein Stümper, der seit viel zu langer Zeit keinen Schritt damit weitergekommen war, Claras Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Er schaffte es nicht mal, den ersten Incubus zu töten, den er seitdem erwischt hatte. Abrupt drehte er sich zu Islay um. Er saß auf der Isomatte, die Wange an die Bierdose geschmiegt, sein heiles Auge groß und grün, klar und voller Vertrauen.
»Willst du wissen, warum ich dich nicht längst einen Kopf kürzer gemacht habe?«, fuhr Jericho ihn an.
»Weil du mich magst?«
Dreist! Islay wagte es sogar, zu lächeln. Jericho zerrte das Amulett aus dem Kragen seines Shirts. »Darum! Ich brauche dein beschissenes Incubusblut, damit dieses Ding weiterhin funktioniert. Das ist der einzige Grund. Also fühl dich bloß nicht zu sicher.«
Islay ließ die Bierdose langsam sinken. Er war noch blasser geworden. »Gut. Gut!«, stieß er hervor. »Wirklich gut zu wissen. Ich reiß mir den Arsch auf, um dir zu helfen, gewähre dir sogar Unterschlupf, wenn dir SAW auf den Fersen ist, und dir fällt nichts Besseres ein, als mich zu bedrohen. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein blödes Arschloch bist? Dann übernehme ich das jetzt.« Er sprang auf und warf die Bierdose nach Jericho. Der lehnte sich nur ein wenig zur Seite. Die Dose pfiff dicht an seinem Ohr vorbei. Islay ballte die Hände zu Fäusten. »Du bist ein blödes Arschloch!«
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und marschierte davon. Den Rucksack ließ er liegen.
Jericho riss sich die Baseballkappe vom Kopf und schleuderte sie von sich ins Gras. Eines der Schafe näherte sich und schnupperte daran.
Dann tat Jericho etwas, das in den Annalen des Dämonenjägers noch niemals vorgekommen war. Er rannte jemandem hinterher, ohne die Absicht, ihn zu töten.