10. Der Stein der Sieben

Jericho holte Islay schnell ein. »Islay. Bleib stehen.«

»Leck mich.« Islay stapfte weiter, ohne ihn anzusehen. Jericho blieb an seiner Seite. Einmal streckte er die Hand aus, um Islay am Oberarm festzuhalten, überlegte es sich aber anders. Er hatte sich schon mies genug verhalten, da musste er nicht auch noch Gewalt anwenden. Sonst stellte das seine Lösung für alle Probleme dar.

Erst, als Islay sein Motorrad erreichte, stoppte er. Die Indian parkte neben Jerichos Volvo. Einen Moment befürchtete Jericho, Islay würde einfach aufsteigen und wegfahren, doch er blieb mit gesenktem Kopf davor stehen, die Hände auf den Sitz gestützt, schwer atmend. Das schwarze Haar fächerte vor sein Gesicht, sodass Jericho es nicht sehen konnte.

»Es tut mir leid«, sagte Jericho rau. »Das war unfair von mir. Ich bin stinksauer auf Connell und auf SAW und habe es an dir ausgelassen.« Außerdem war er stinksauer auf sich selbst, weil er Islay begehrte, selbst jetzt, und sich dafür verachtete, nicht gefeit gegen die Anziehungskraft eines Incubus zu sein. Aber das brauchte Islay nicht zu wissen. »Entschuldige bitte«, fügte er hinzu. Er meinte es ehrlich. Selbst wenn seine Methoden auf viele Leute brutal wirken mochten, er war nie unnötig grausam. Er bereute, dass er Islay verletzt hatte. Dass er ihn irgendwann töten musste, bedeutete nicht, dass er ihn vorher quälen durfte. Vor allem, da Islay nichts für seine Herkunft konnte und wirklich sein Bestes gab, um ihm zu helfen.

Jericho begriff noch immer nicht ganz, wieso er das tat. Anfangs war wohl Neugier im Spiel gewesen, das Interesse an einem Artikel, den Islay für seine Bewerbung bei AWsome verwenden könnte. Doch nachdem Jericho ihm mehrmals angedroht hatte, ihn zu töten, hätte jeder andere an seiner Stelle die Flucht ergriffen und nicht auch noch seine Hilfe angeboten.

»Ich danke dir für deine Unterstützung«, sagte er. »Die weiß ich wirklich zu schätzen.«

»Und mein Blut weißt du auch zu schätzen«, murrte Islay. »Wie hast du dir das vorgestellt? Wolltest du mich regelmäßig unbemerkt anzapfen? Oder darauf hoffen, dass ich öfter mal in eine Schlägerei gerate?«

»Hat ja ganz gut funktioniert.«

Islay schnaubte. Er hob den Kopf und funkelte Jericho wütend an. »Hast du mich darum mitgenommen? Damit du dein Amulett bei Bedarf auffrischen kannst?«

»Unter anderem«, gab Jericho zu.

Islays Schultern sackten nach unten. »Ehrlich bist du, das muss man dir lassen. Wenn diese Blutsache nicht wäre, hättest du mich längst umgebracht, oder? Nur, weil ich ein Incubus bin. Du weißt, dass ich nichts mit dem Tod deiner Schwester zu tun habe. Merkst du eigentlich, wie bescheuert das ist?«

»Ich habe einen Schwur geleistet.«

»Ah! Na, das erklärt natürlich alles. Ein Schwur ist die perfekte Ausrede für unlogisches, dummes und absolut unsinniges Verhalten«, höhnte Islay.

»Es ist ein magischer Schwur.« Eigentlich ging Islay das nichts an. Sollte er Jericho ruhig weiterhin für verbohrt und blöd halten, das war ihm egal. Dennoch wollte ein kleiner Teil von ihm, dass Islay es verstand. »Ich habe in der Woche nach Claras Tod auf einen Stein der Sieben geschworen, dass ich innerhalb der nächsten sieben Jahre jeden Incubus töte, den ich finde.«

Islay wirkte nicht sehr beeindruckt. »Alles klar. Und was passiert, wenn du das nicht tust?«

»Dann wird der Stein der Sieben ein Opfer von mir verlangen.«

»Welches?«

»Keine Ahnung. Das ist ja der Witz daran. Es kann alles sein, aber es wird etwas sein, woran mir sehr viel liegt.«

Islay lachte. Tatsächlich, er lachte. »Glaubst du echt an diesen Scheiß? Und selbst wenn das stimmen sollte, woran ich arg zweifle, was soll dir denn schon passieren? Dir liegt doch an nichts und niemandem etwas!«

Ganz unrecht hatte er nicht. An Clara hatte Jericho viel gelegen. Sie war der einzige Mensch, den er je geliebt hatte. Und Terry war sein bester und einziger Freund gewesen. Nun, da beide tot waren, gab es nur noch die Suche nach ihrem Mörder, an der ihm etwas lag. Der Wunsch, diese Person für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen.

»Wir leben in einer magischen Welt. Trotzdem glaubst du nicht an den Stein der Sieben?«

Islay verschränkte die Arme. »Ich wundere mich, dass du daran glaubst. Im AWsome ist mal ein Artikel über diese Steine erschienen. Mittlerweile sind mindestens hundert Steine der Sieben aufgetaucht, obwohl es nur sieben sein sollen. Falls es wirklich sieben wirkungsvolle Schwursteine gibt, stehen die Chancen trotzdem gut, auf eine Fälschung zu schwören.«

Nicht, wenn sich der Stein im Besitz eines Sidhe befand. Aber auch davon brauchte Islay nichts zu wissen. Jericho verschränkte ebenfalls die Arme. »Ist mir scheißegal, dass du mich für einen abergläubischen Idioten hältst. Das ändert nichts daran, dass ich alle verdammten Incubi töten werde, die ich finde. Fälschung oder nicht.«

Islay erwiderte seinen Blick herausfordernd. »Umso schlimmer. Dann sind wir nämlich wieder bei sinnlosem und unlogischem Verhalten. Aber gut, ist deine Sache. Aber mach sie nicht zu meiner. Ich werde kein Blut mehr für dein blödes Amulett spenden. Töte mich von mir aus und such dir einen anderen Dummen.«

Jericho zog es vor, das Thema zu wechseln. Irgendwie fand er Islays Argumente überzeugender als seine. Er musste in Ruhe darüber nachdenken. »Mit wem hast du dich geprügelt?«

»Wenn du es unbedingt wissen willst: Mit Mick aus dem Singenden Sidhe

»Wer ist Mick?«

»Der Besitzer. Ihm gehört der Pub, zusammen mit seiner Schwester Manon.«

»Was hat er getan? Wollte er dir keinen Tee aufbrühen?«

»Geht dich nichts an. Ich fahre jetzt. Und nur damit du es weißt: In Zukunft kannst du deine Mordfälle allein aufklären. Von mir bekommst du keine Hilfe mehr. Um dir das zu versprechen, brauche ich keinen Schwurstein.«

Islays Abgang verlor ziemlich an Wirkung, weil er es erst beim dritten Anlauf schaffte, das Bein über den Sitz der Indian zu schwingen. Seine Hände zitterten, als er sich den Helm über den Kopf streifte.

»Islay.«

Islay verharrte.

Jericho legte die Hand auf den Lenker. »Du kannst so nicht fahren.«

»Erzähl du mir nicht, was ich kann und was nicht.«

»Steig ab und in meinen Wagen. Ich fahre dich nach Hause.«

Jericho rechnete nicht wirklich damit, dass sich Islay überreden ließ, doch er nahm den Helm ab, jaulte auf, als er seine Nase streifte, und fluchte. »Na schön, du hast gewonnen. Aber das heißt nicht, dass wir noch Freunde sind.«

Freunde? Hatte Islay ihn ernsthaft für einen Freund gehalten? Blöderweise versetzte es Jericho einen Stich, dass es offenbar so gewesen war.

Er hielt Islay die Wagentür auf und schloss sie hinter ihm. Während der Fahrt nach Portree sagte Islay die ganze Zeit kein Wort und starrte stur aus dem Seitenfenster. Vor dem Otterview stieg er aus und knallte ohne einen Abschied die Tür hinter sich zu.

Nächster Halt Singender Sidhe . Da vor dem Pub kein Platz am Straßenrand mehr frei war, parkte Jericho in zweiter Reihe und schaltete das Warnblinklicht an. Im Vorbeigehen riss er das Fahndungsplakat ab, zerknüllte es und ließ es achtlos fallen.

Im Pub war es voll. Alle Tische besetzt. Der Duft nach frittiertem Essen und verschüttetem Bier hing in der Luft. Manon und zwei andere standen hinter dem Tresen und zapften Getränke, was das Zeug hielt. Sie schaute hoch und riss die Augen auf. Jericho March, formte sie stumm mit den Lippen.

Mit wenigen Schritten und Remplern bahnte sich Jericho rücksichtlos einen Weg zur Theke. »Wo ist Mick?«

»Oh oh«, gab die zweite Thekenkraft von sich und grinste. »Da kriegt jemand Ärger!«

»Halt die Klappe, Murphy«, fuhr Manon ihn an, ohne Jericho aus den Augen zu lassen. »Du hast vielleicht Nerven, hier aufzutauchen.«

»Willst du mich bei SAW melden?«

»Ich nicht.« Manon ließ den Blick vielsagend durch den gut gefüllten Pub schweifen.

Jericho starrte sie nur an. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, presste die Lippen zusammen.

»Mick ist in der ...«, sprang Murphy ein und bekam sogleich von Manon mit dem Trockentuch, das sie in der Hand zerknüllt hatte, eins übergezogen. Er duckte sich und protestierte, doch sein Geschrei ging in einem weit durchdringenderen Geräusch unter. Einem Laut, den man nicht mehr vergaß, wenn man ihn einmal gehört hatte.

Dem Schrei einer Banshee.