11. Familienprobleme

Das klagende Geheul schwoll zu einem trommelfellzerfetzenden Kreischen an, mischte sich mit dem Scheppern von splitterndem Glas. Manon ließ das Geschirrtuch fallen, Murphy stand mit aufgerissenem Mund da. Beide pressten sich die Handflächen auf die Ohren. Die Luft waberte. Der Raum schien zu schwanken. Ein scharfer Schmerz schoss durch Jerichos Schläfen. Er verdrängte ihn, flankte über die Theke und rannte in die Küche. Auf dem Boden lag ein Tablett, umgeben von zerbrochenem Geschirr und ein paar Portionen Fish and Chips. Daneben stand ein Mann, ein paar Jahre älter als Manon und dank seiner ähnlich spitzen Gesichtszüge als ihr Bruder zu erkennen. Auch er presste die Hände auf die Ohren, krümmte sich und kniff die Augen fest zu. Um eines seiner Handgelenke war ein schmuddeliger Verband gewickelt. Jericho wollte lieber nicht darüber nachdenken, wer den Shepherds Pie zubereitet hatte.

Das Gekreisch der Banshee erreichte den Höhepunkt und brach genauso abrupt ab, wie es angefangen hatte. Totenstille senkte sich über die Küche. Micks keuchender Atem, nachdem er aufhörte, die Luft anzuhalten, erklang nach ein paar Sekunden überlaut. Langsam richtete er sich auf und hob die Lider, sah Jericho und wich zurück. Eine verständliche Reaktion, wenn Jericho genauso wütend aussah, wie er sich fühlte. Mit einem Satz war er bei Mick, packte ihn am Kragen und ließ sich von seinem Schwung weitertragen, Mick vor sich herschiebend, bis der mit dem Rücken gegen einen überdimensionalen Kühlschrank donnerte.

Jericho verdrehte seine Faust, sodass der Kragen sich um Micks Hals zusammenzog, und brachte sein Gesicht nahe an Micks heran. Der panische Ausdruck in den Augen des Kerls kam hoffentlich nur zum Teil von dem ausgestandenen Schreck wegen des Bansheerufs.

»Bist du Mick?«, fragte Jericho pro forma.

Mick gab ein würgendes Geräusch von sich, das Jericho als Zustimmung deutete.

»Wenn du Islay nur noch einmal anrührst, mach ich Hackfleisch aus dir, das deine Schwester direkt für euren Shepherds Pie verwenden kann. Kapiert?«

»Hmpf«, machte Mick. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen.

»Lass meinen Bruder los!«, erklang Manons empörte Stimme hinter ihnen.

Jericho gab Mick frei, doch nicht ohne ihn noch einmal mit Wucht gegen den Kühlschrank zu schmettern. Micks Knie gaben unter ihm nach. Er rutschte zu Boden. Manon baute sich schützend vor ihm auf. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Darum geht es also. Solltest du nicht zunächst mal Micks Version der Geschichte anhören?«

»Die interessiert mich einen Dreck.« Jericho hatte seine Botschaft überbracht. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Er wandte sich ab, gerade rechtzeitig, um Islay in die Küche stürmen zu sehen. Der Anblick seines zerschlagenen Gesichts entfachte neue Wut in Jericho. Er war viel zu rücksichtsvoll mit Mick umgegangen.

Schlitternd kam Islay zum Stehen, sah Jericho an, dann den am Boden kauernden Mick, Manon und wieder Jericho. »Das hab ich befürchtet«, sagte er und klang unpassend fröhlich. Mit missglückt strenger Miene zeigte er auf Jericho. »Ich brauche keinen Beschützer.«

Bevor Jericho seine Meinung zu dem Thema äußern konnte, kam Mick schwankend auf die Füße. »Habt ihr das gehört?«, stammelte er.

»Falls du die Banshee meinst - die war wohl kaum zu überhören«, bemerkte Jericho trocken.

Mick griff nach dem Arm seiner Schwester. »Damit sind wir gemeint!«, krächzte er mit wildem Blick. »Unsere Familie. Jemand wird sterben.«

Manon war blass geworden. Ihre dunkel geschminkten Lippen bebten. »Martin«, flüsterte sie.

 

Die meisten Gäste hatten den Pub nach dem Bansheeschrei fluchtartig verlassen. Nur noch ein paar Hartgesottene waren gelieben. Islay komplimentierte sie mit freundlicher Überredungskunst hinaus. Nachdem der Letzte von ihnen gegangen war, hatte sich Manon genug beruhigt, um das Geschlossen-Schild aufzuhängen und die Tür zu verriegeln. Mit einem Seufzen lehnte sie sich daran und schloss kurz die Augen. Von Murphy und der anderen Thekenkraft war nichts zu sehen. Offenbar hatten sie die Gesangseinlage der Banshee als gute Gelegenheit erkannt, früher Feierabend zu machen.

»Ich mache Tee«, erbot sich Islay und verschwand schon in der Küche, ohne auf Zustimmung zu warten. Mick saß zusammengesunken an einem der Tische, auf dem halb geleerte Biergläser standen.

Manon ging zu ihm, legte ihm flüchtig die Hand auf die Schulter und ließ sich auf den Stuhl neben ihm fallen. »Die Banshee hat vor vier Jahren den Tod unserer Eltern vorhergesagt.«

»Und jetzt ist Martin an der Reihe«, sagte Mick dumpf.

»Das weißt du nicht.«

»Wer denn sonst? Du? Ich?«

Mehr als den vermeintlich baldigen Tod eines Familienmitglieds interessierte sich Jericho für etwas anderes. Bei seinem letzten Aufenthalt auf Skye hatte er Mick nie im Pub gesehen. Wo war er gewesen? Auch auf Verwandtenbesuch auf dem Festland? Viele Einheimische hatten die durch das Dimensionsloch verursachte Touristenflaute genutzt, um selbst mal Urlaub zu machen. Doch würde Mick seine Schwester mit dem Pub allein lassen? Jericho kannte ihn zu wenig, um ihn einschätzen zu können. Gut genug, um ihn nicht zu mögen. Er hatte Islay geschlagen. Das genügte, um Jerichos Zorn auf sich zu ziehen.

Islay kam mit zwei Teebechern auf einem Tablett und stellte sie vor Mick und Manon. Vor Mick so heftig, dass der Tee überschwappte.

»Was soll der Scheiß«, knurrte Mick, ohne aufzusehen. »Haben wir keinen Whisky mehr?«

»Doch, aber nicht für dich«, erklärte Manon resolut. »Du hast seit Jahren keinen Tropfen mehr getrunken und wirst heute ganz sicher nicht damit anfangen.«

»Wann, wenn nicht jetzt? Keine Macht den Drogen?« Mick gab einen Laut der Verzweiflung von sich. »Warum Martin? Warum ausgerechnet jetzt?« Er vergrub das Gesicht in den Händen.

Manon strich ihm sacht über den Rücken, stand auf und ging zu Islay und Jericho, die an der Theke lehnten. Ihr sonst so kunstvoller Lidstrich war verschmiert und gab ihr das Aussehen eines müden Pandas. »Ihr geht jetzt besser. Islay, tut mir leid, was heute passiert ist. Bei Mick liegen die Nerven blank. Es war nicht deine Schuld.«

»Naja, ein bisschen schon«, murmelte Islay verlegen. »Kann ich euch irgendwie helfen?«

»Das hast du bereits. Du hast die Leute rausgeschmissen.« Manon grinste schwach. »Hinten ist offen.« Sie ignorierte Jericho.

Er folgte Islay durch eine schmale Tür neben den Toiletten durch einen Gang, eine weitere Tür auf einen Hinterhof und von da auf eine Straße. »Muss ich mir Gedanken darüber machen, wieso du den Hinterausgang dieses Pubs kennst?«

»Keine Sorge, hier gibt es keine Razzien. Jedenfalls bisher nicht. Manchmal dauert eine Musiksession länger als bis zur Sperrstunde und die Gäste gehen hinten raus, damit die Polizei nichts merkt. Zumindest die Polizisten nicht, die nicht bei der Session dabei waren.« Islay zögerte. Er schob die Hände in die Jackentaschen. »Das war nett von dir. Unnötig und übereifrig, aber ... nett. Danke.« Im Licht einer Straßenlaterne glänzten seine Augen.

»Du hast damit gerechnet.«

Nun blitzten Islays Zähne auf, als er lächelte. Er sagte nichts. Keiner von ihnen rührte sich.

»Wer ist Martin?«, fragte Jericho nach einer Weile.

»Der Bruder von Manon und Mick. Er ist in Glasgow unter die Räder geraten. Drogen. Falls er wirklich stirbt, ist das ein harter Schlag für die beiden.«

»Du glaubst also nicht an Schwursteine, aber an den Todesschrei der Banshees?«

»Manon hat mir mal erzählt, dass in ihrer Familie jeder Todesfall durch eine Banshee angekündigt wird. Ja, ich glaube ihr. Ist nur so unfair. Gerade jetzt. Mick konnte Martin endlich zu einer Entziehungskur überreden. Er hatte sogar genug Geld für eine gute Klinik beisammen und schon einen Platz besorgt. Vor ein paar Wochen war er in Glasgow und hat alles geregelt. Manon war richtig optimistisch.«

Jericho horchte auf. »Moment mal. Wann ist Mick in Glasgow gewesen? Als ich hier war?«

»Ja, genau. Wieso? Ah, damit können wir ihn von der Verdächtigenliste streichen, was?«

»Vielleicht hat er nur so getan, als wäre er fort, um sich ein Alibi zu verschaffen.«

»Warum sollte Mick deinen Freund umbringen?«

»Keine Ahnung. Womöglich hatten sie Streit. So wie ihr.«

»Ach, das ... aber Mick bringt doch niemanden um. Er ist nur ein wenig cholerisch manchmal. Manon hat recht, zurzeit ist er sowieso angespannt wegen Martin und wenn dann noch jemand seine Klappe aufreißt und ihn provoziert ... ich meine das nur als Beispiel.«

»Ist klar.«

Ob Jericho die ganze Zeit von falschen Voraussetzungen ausgegangen war? Er hatte angenommen, dass Terrys Ermordung mit den Informationen zusammenhing, die er Jericho geben wollte. Informationen, die Claras Tod betrafen. Was, wenn er wegen irgendeiner dummen Lappalie getötet worden war? Eines Streits, bei dem es um etwas völlig anderes gegangen war? Doch es kam Jericho kaum möglich vor, mit dem gutherzigen Terry in Streit zu geraten.

Sie gingen die Straße entlang, bogen ab und gelangten auf die Hauptstraße, wo Jerichos Wagen träge vor sich hinblinkte.

»Hast du Mick am Handgelenk verletzt?«, fragte Jericho.

Islay gab ein überraschtes Lachen von sich. »Nein. He, der Typ ist mindestens doppelt so stark wie ich. Ich hatte gar keine Chance gegen den.«

»Mit den richtigen Techniken hättest du eine.«

»Ist das ein Angebot? Würdest du mich trainieren? Mir ein paar Tricks beibringen?«

Der hoffnungsvolle Klang in Islays Stimme verbesserte Jerichos Laune erheblich. »Warum nicht? Mit ein paar Tricks ist es allerdings nicht getan. Du musst es schon ernst meinen.«

Islay trat so dicht an ihn heran, dass er die Wärme spüren konnte, die von ihm ausging. Und die Hitze, die durch das Futteral des Amuletts drang und die Haut genau über seinem Herzen zum Glühen brachte.

»Ich meine es ernst«, sagte Islay. »Und ich habe dich durchschaut, Jericho March.«

»Geh nach Hause.«

»Bis morgen.« Erneut blitzte Islays Lächeln auf. Er drehte sich um und trabte die Straße entlang, Richtung Otterview .

Jericho stieg in den Volvo und machte sich auf zum Camp Jericho, in der Hoffnung, dass die pinkfarbenen Schafe noch etwas von seinem Zelt übrig gelassen hatten.