Die Schafe hatten Jerichos Zelt flachgelegt und sich darauf niedergelassen. Im Schein der Taschenlampe sah Jericho sie gemächlich kauen. Er hätte die Biester mit seinem Schwert köpfen können. Aber das waren keine Dämonen, sondern arglose Tiere, die ihm zudem nicht gehörten. Den Ausschlag gab die Überlegung, dass sie mit ihrem Blut das, was von seinem Zelt übrig war, komplett eingesaut hätten.
Den Schafen das Zelt, Jericho die Isomatte, die noch auf dem Hügel lag. Eine Weile betrachtete er die Wolken, die über den nächtlichen Himmel zogen und die Sterne immer wieder verdeckten.
Mit diesem Mick stimmte etwas nicht. Er hatte Angst, nicht nur vor der Banshee. Manon hatte behauptet, bei ihm lägen wegen der Sorge um Martin die Nerven blank, doch Jericho zweifelte daran. Martins Drogenproblem bestand sicher nicht erst seit gestern. Was hatte es mit dem Verband auf sich? Ob er sich beim Angriff auf Terry verletzt hatte? Blieb immer noch die Frage nach dem Motiv ...
Islay küsste ihn. Allerdings viel feuchter als gewohnt. Träge hob Jericho die Lider und schaute in ein paar braune Augen. Dicht gefolgt von einer langen, rosa Zunge, die auf sein Gesicht zu schnellte. Er kniff die Augen zu, packte in weiches Fell und schob den Hund von sich. Gab schönere Arten, geweckt zu werden. Aber auch wesentlich schlimmere.
»Willow!«, rief jemand eher belustigt als verärgert. »Lass Jericho in Ruhe und komm her.«
Jericho setzte sich auf und gab den Hund frei, der dem Befehl zunächst keine Folge leistete, sondern ihn interessiert beschnupperte. Ein hübscher Border Collie mit schwarzweiß geflecktem Fell. Islay wäre Jericho trotzdem lieber gewesen.
Murray Shelly stapfte über die Wiese auf sie zu. Ein blauer Strickpullover nach Art, wie ihn die Fischer trugen, reichte ihm bis fast zu den Knien. Über Jeans trug er dunkelgrüne Gummistiefel. »Willow!«, rief er erneut, energisch diesmal. Der Hund sprang auf ihn zu und setzte sich folgsam an seine Seite, sobald er ein paar Meter entfernt von Jericho stehen blieb. Er tippte sich an eine imaginäre Mütze. »Morgen. Wird ein klarer Tag heute. Später könnte es regnen.«
»Morgen?« Jericho sah sich um. Das erste trübe Licht des Tages erhellte seinen Campplatz, der nicht so ruhig war, wie erhofft. »Es ist höchstens fünf Uhr.«
»Viertel nach. Danke, dass du meine Schafe gefunden hast.« Er grinste. Willow auch.
»Gern geschehen«, knurrte Jericho und gähnte. Die Kälte war ihm in die Knochen gekrochen. Früher hätte ihm eine Nacht unter freiem Himmel ohne Schlafsack nichts ausgemacht. Er wurde wirklich alt.
Murray gab Willow ein paar knappe Zeichen. Der Hund sprang los wie ein von einer Bogensehne schnellender Pfeil. »Willow bringt die Schafe heim. Komm, ich lade dich zum Frühstück ein.«
Jericho erhob sich mit knirschenden Gelenken. Die Schafe verließen gerade ihren bequemen Schlafplatz und trabten davon, dicht gefolgt von Willow. Murray folgte seinem Blick und kratzte sich im Nacken. »Tja. Tut mir leid mit dem Zelt. Kann man da noch was machen?«
»Glaub schon. Bist du auch Schafzüchter? Ich dachte, du arbeitest als Touristenguide.«
Während sie über die Wiese Richtung Straße gingen, erklärte Murray: »Das reicht zum Leben nicht. Lucy hat zwar auch ihren Job, sie ist Lehrerin, aber die Konkurrenz ist groß. Jeder hier will was vom Tourismuskuchen abhaben. Natürlich habe ich den Vorteil, ein Shellycoat zu sein.« Murray klimperte mit der Muschelkette, die um seinen Hals hing. »Das finden viele Gäste interessant. Naja, die Schafe sind auch mehr ein Hobby. Tante Shirley wäre es lieber, ich würde mich wieder mehr mit der Fischerei befassen.«
»Ist sie noch bei euch?«
»O ja.« Murray verdrehte die Augen. »Wirst sie gleich erleben. Versteh mich nicht falsch, ich mag sie, aber sie muss sich überall einmischen und dann noch diese Sache mit dem Loch Leathan ... Bin froh, wenn sie sich auf den Heimweg auf ihr geliebtes Mull macht. Da ist sowieso alles besser, wie sie uns täglich mehrmals versichert.«
Sie fuhren mit Murrays Jeep, der neben Jerichos Volvo und der Indian parkte. Jericho würde Islay später abholen und zu seinem Motorrad bringen. Er musste ihm ohnehin noch ein paar Fragen stellen. Wie zum Beispiel die nach dem Grund für seinen handfesten Streit mit Mick.
Im Haus der Shellys duftete es nach Rührei mit Speck und Kaffee. »Lucy, wir haben Besuch!«, rief Murray. Er streifte die Gummistiefel im Flur ab und stellte sie zu den anderen, die neben der Tür aufgereiht waren. Nach kurzem Zögern entschied Jericho, seine Wanderschuhe ebenfalls auszuziehen. Besser, stinkende Socken preiszugeben, als Ärger mit Shirley Shelly zu riskieren. Auf Strümpfen tappten sie in die Küche.
Lucy strahlte Jericho an. Trotz der frühen Stunde wirkte sie erschreckend munter. »Guten Morgen, Jericho! Das ist ja eine schöne Überraschung.«
»Hab ihn auf der vorderen Weide eingesammelt. Die Pink Ladys haben sein Zelt als Schlafplatz benutzt«, berichtete Murray. Er nahm Teller und Tasse aus dem Schrank und stellte beides auf den bereits gedeckten Tisch. »Setz dich. Magst du Eier?«
»Natürlich nimmt er Eier«, ertönte die unverkennbare Stimme von Tante Shirley. Tadellos in ein Tweedkostüm gekleidet schwebte sie in die Küche und reichte Jericho die Hand. »Von irgendwoher muss der Mann doch seine Kraft bekommen. Für mich bitte ohne Speck, Lucy.«
Ein paar Minuten später konnte Jericho das beste Frühstück seit Langem genießen. Fast so gut wie das, das Islay ihm damals im Otterview kredenzt hatte.
»Letzte Nacht ist in Portree eine Banshee gehört worden«, sagte Murray im Plauderton.
»Ihr Schrei bezieht sich selbstverständlich auf die Kavanagh-Kinder«, fügte Tante Shirley ebenso gleichmütig hinzu. »Die Banshees beklagen die Tode in dieser Familie seit Jahrhunderten.«
»O nein, die Armen«, sagte Lucy mitfühlend. »Dann geht es wohl um Martin, das schwarze Schaf der Familie. Möchte noch jemand Kaffee?«
Alle wollten.
»Naja, Mick sah auch nicht sonderlich gut aus in letzter Zeit«, bemerkte Murray scherzhaft und erntete dafür einen strafenden Blick seiner Frau. »Hat sich gestern Abend mit deinem Freund angelegt, Jericho.«
»Gibt es eigentlich etwas, das nicht sofort auf ganz Skye die Runde macht?«, fragte Jericho ergeben.
Murray tat, als müsste er ernsthaft darüber nachdenken. »Nein«, stellte er fest. »Dass du zurück bist, dürfte mittlerweile auch mindestens jeder Zweite wissen. An deiner Stelle würde ich so bald wie möglich von hier verschwinden, bevor SAW anrückt.«
»Weißt du zufällig auch, worum es bei dem Streit gestern Abend ging?«
»Ihr junger Freund«, mischte sich Tante Shirley ein. Sie fixierte Jericho. »Er wird sterben.«
Jericho verschluckte sich fast an seinem Toast. »Was meinen Sie damit?«, fragte er scharf.
Mit einem Mal sah Tante Shirley nicht mehr aus wie die elegante ältere Lady. Sie strahlte eine urtümliche Kraft aus, die Jericho die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Selbst ihre Stimme klang anders, als sie nun sprach. Tiefer und voller. »Der Schatten des Todes hängt über ihm.«
»Das reicht, Tante Shirley«, sagte Murray. Und zu Jericho: »Hör nicht auf sie. Sterben müssen wir alle mal.«
Jericho ließ Tante Shirley nicht aus den Augen. Sie wirkte nun wieder völlig harmlos und führte mit ruhiger Hand die Gabel zum Mund.
»Was ist mit Islay?«, fragte er.
»Ach, Murray hat recht«, erwiderte sie lächelnd. »Nur das Geschwätz einer alten Frau.«
Ein paar Minuten herrschte Schweigen. Schließlich sagte Lucy: »Wenn es wirklich Martin trifft, tut es mir sehr leid für Manon. Sie hat mir neulich noch erzählt, dass Martin endlich einen Platz in einer guten Entzugsklinik bekommen hat. Mick ist extra nach Glasgow gefahren, um alles zu regeln. Das war auch mal nötig, obwohl Manon sich ziemlich darüber geärgert hat, dass sie den Pub ohne den Lieferwagen schmeißen musste.«
»Haha, ja, der Lieferwagen ist wichtiger als Mick, der faule Sack.« Murray lachte. »Erstaunlich, dass er es damit bis nach Glasgow und zurück geschafft hat.«
Irgendetwas passte nicht zusammen. Da nagte ein Verdacht an Jericho, etwas, das er eigentlich hätte wissen müssen. Doch zunächst konnte er womöglich Murrays schlechtes Gewissen ausnutzen. Murray brachte ihn nach dem Frühstück zurück zum Camp. Jericho warf einen vielsagenden Blick in die Richtung, in der sein Zelt stand. Lag. »Was die Sache mit dem Zelt angeht ...«
»Tut mir echt leid, Mann.«
»Du könntest mir einen Gefallen tun. Ich würde gerne mal mit Joan reden. Es geht um ein paar Tränke.«
Murray war die Erleichterung anzusehen, nachdem sich bei dem Wort Gefallen zunächst Sorgenfalten in seine Stirn gegraben hatten. »Klar, kein Problem. Ich sage ihr Bescheid. Sie findet dich.« Er zögerte. »Die Warnung war übrigens ernst gemeint. Bleib nicht zu lange hier. Könnte sein, dass schon jemand SAW verständigt hat.«