Jericho machte sich nicht die Mühe, sein Zelt aufzubauen. Das hatte Zeit bis später. War sowieso vernünftiger, den Ort des Camps zu wechseln, falls SAW ihm tatsächlich schon auf den Fersen war und ein neugieriger Einheimischer herausgefunden hatte, wo sein Lager sich befand. Bis auf seinen Schlafsack lag nichts Wertvolles im Zelt. War alles im Auto eingeschlossen. Das er nicht abgeschlossen hatte. Jedenfalls ließ sich die Tür ohne Schlüsseleinsatz öffnen. Der Kofferraum nicht, wenigstens etwas. Darin bewahrte Jericho in Ermangelung eine Schrankes seine Waffen auf. Im Auto lag nur Islays Rucksack. Vermutlich hatte Jericho einfach vergessen, abzuschließen.
Einer Eingebung folgend zog er das Handy aus der Tasche. Es war noch halb geladen. Drei Nachrichten von Islay. In der ersten fragte er, ob Jericho sein Camp wohlbehalten erreicht hatte. Die war vom Vorabend. Die anderen beiden waren erst eine halbe Stunde alt. Islay lud ihn zum Frühstück in den Schuppen ein. In der letzten Nachricht teilte er ihm mit, dass der Tee mittlerweile kalt war. Er fragte nicht mal nach seiner Indian.
Zwei Frühstückseinladungen an einem Morgen. Jericho wurde auf seine alten Tage noch richtig beliebt. Eine halbe Stunde später parkte er ein paar Häuser vom Otterview entfernt und begab sich direkt in den Schuppen. Islay hatte irgendwo einen Liegestuhl aufgetrieben, in dem er sich räkelte und ein Buch las. Er sah reichlich gelangweilt aus. Auf der als Tisch zweckentfremdeten Kiste war ein Frühstück aufgebaut, das womöglich vor nicht allzu langer Zeit aus mehr Zutaten bestanden hatte als kaltem Toast.
Islay sah von dem Buch auf. Seine Miene hellte sich auf, obwohl er sichtlich versuchte, cool zu wirken. »Hey. Hab das meiste von deinem Frühstück essen müssen, bevor es kalt wurde. Wenn du willst, kann ich ...«
»Danke. Hab schon bei den Shellys gefrühstückt.«
Islays Brauen wanderten aufwärts. »Aha.« Er rührte sich nicht, blieb wie hingegossen in dem Liegestuhl sitzen. Erwartungsvoll sah er Jericho an. Von einem Schatten des Todes keine Spur. Aber Jericho war auch keine weise alte Shellycoat.
»Ich fahr dich zu deinem Motorrad.« Nach kurzem Zögern fügte Jericho hinzu: »Wenn du willst, kannst du mich zu Nic Gallagher begleiten. Muss da was nachprüfen.«
Um ein Pokerface hinzubekommen, musste Islay noch viel üben. Strahlend sprang er so begeistert auf, dass er den Liegestuhl umwarf. »Du hast eine Spur?«
»Sowas in der Art.«
Zum Glück schien Islay seinen Ärger überwunden und vergessen zu haben, dass er Jericho seine Hilfe entzogen hatte. Ob es daran lag, dass Jericho sich in seinen Streit mit Mick eingemischt hatte? Er traute ihm eher zu, dass ihm das nicht passte, doch da schien er sich getäuscht zu haben. Hoffentlich nahm Islay das nicht als Zeichen dafür, dass Jericho etwas an ihm lag.
»Hat Tante Shirley noch was gesagt?«, erkundigte sich Islay während der kurzen Fahrt.
»Was denn?«, fragte Jericho misstrauisch. Er würde den Teufel tun und ihm von dem Mist mit dem Schatten erzählen.
»Na, irgendwas zu dem Wasserkram.«
Den hatte Jericho schon vergessen. »Nein.« Er fuhr direkt auf den Hof vor der Autowerkstatt. Diesmal wusste er, wonach er Ausschau hielt. Wie sich herausstellte, hatte er sich nicht getäuscht. Zwischen den Wagen stand ein Lieferwagen.
Nic beugte sich gerade über die geöffnete Motorhaube eines Uraltfords. Sie richtete sich auf, als Islay und Jericho auf sie zugingen. »Bringt ihr mir Arbeit?«, rief sie hoffnungsvoll.
Islay vollführte eine den Hof umfassende Geste. »Scheint, als hättest du schon genug.«
»Du sagst es, das scheint wirklich nur so. Den meisten dieser Schätzchen ist nicht mehr zu helfen. Die taugen nur noch zum Ausschlachten. Oder die Besitzer melden sich einfach nicht. Haben wohl Schiss, dass die vermeintlich kleine Reparatur doch zu teuer wird.«
»So wie Mick Kavanagh?«, fragte Jericho auf gut Glück.
Wie Nic das Gesicht verzog, hatte er ins Schwarze getroffen. »Zum Beispiel. Sein blöder Lieferwagen steht seit ein paar Wochen hier und er hat sich nicht mal dazu herabgelassen, danach zu fragen.« Mit dem Schraubenschlüssel deutete sie auf den Lieferwagen, den Jericho schon bei seinem ersten Besuch hier gesehen, ihm aber weiter keine Bedeutung zugemessen hatte.
»Seit ein paar Wochen?« Islay schaltete sofort. »Ich dachte, er ist nach Glasgow gefahren und erst vor einer Woche zurückgekommen.«
»Tja, mit dem Gefährt jedenfalls nicht. Vielleicht ist er getrampt? Emily hat mir Bescheid gesagt, dass der Lieferwagen in der Scheune auf ihrer Kuhweide steht. Hat ihn nur durch Zufall gefunden, weil sie nach einer ihrer Katzen gesucht hat. Die hat sich vielleicht darüber aufgeregt, dass Mick ihre Scheune ohne nachzufragen als Garage benutzt.«
Islay warf Jericho einen bedeutungsvollen Blick zu. »Was ist denn dran?«
»Och, eigentlich nichts. Das Dimensionsloch hat die Elektrik ein bisschen durcheinandergebracht. Wenn Mick die letzten Reparaturen bezahlt hätte, würde ich ihm eventuell sogar sagen, dass der Wagen bei mir steht. Aber er scheint ihn nichtmal zu vermissen.«
»Manon vermisst ihn«, sagte Jericho.
Der Hauch eines Schuldgefühls huschte über Nics Gesicht. »Manon ist in Ordnung. Okay, könnte sein, dass ich heute Abend mal in den Pub gehe und ihr einen Tipp gebe. Sie hat es schwer genug mit ihren Brüdern. Martin seit Jahren in Glasgow verschollen und Mick angeblich trockener Alkoholiker. Aber mal ehrlich - wie soll das gehen, wenn man einen Pub führt?«
»Sind die hier eigentlich alle so geschwätzig?«, brummte Jericho, als sie wieder im Wagen saßen.
Islay grinste. »Ja. Die meisten jedenfalls. Sei doch froh.« Er wurde ernst. »Was ist das für eine komische Sache mit dem Lieferwagen? Mick ist am Tag vor deiner Ankunft nach Glasgow gefahren, das habe ich heute beim Frühstück herausgefunden.« Er lief leicht rötlich an. »Beim ersten Frühstück.«
Ein Wunder, dass er so schlank war. Oder hatten Incubi einen anderen Stoffwechsel als Menschen? Das erste Mal, wenn Jericho an diese verhassten Wesen dachte, blieb die verzehrende Wut aus, die ihn sonst ergriff. Stattdessen spürte er etwas wie ... Sorge? Ob Tante Shirley gar nicht so falsch lag mit ihrem Gerede vom tödlichen Schatten? Hing der mit dem zusammen, was Islay in dem Buch entdeckt hatte? War er als Halbincubus dem baldigen Tod geweiht?
»Ich habe einfach Miss Bumbles gefragt«, berichtete er, beruhigend lebhaft. »Sie konnte sich erinnern, dass sie Manon beim Einkaufen getroffen hat und sie sich freute, dass Mick endlich eine Spur von Martin gefunden hatte und auch gleich losgefahren war, um sich um ihn zu kümmern.«
»Auf dem Weg ist ihm die Karre verreckt. Entweder er hat eine andere Möglichkeit gefunden, nach Glasgow zu gelangen oder ...«
»Oder er war gar nicht dort«, beendete Islay Jerichos Überlegung. Wie von dem Schwanz eines Schockdämons getroffen setzte er sich gerade hin. »Er hat nur so getan, als wäre er in Glasgow, um sich ein Alibi zu verschaffen! Das heißt, er ... aber warum?«
»Das finde ich heraus«, sagte Jericho grimmig.
»Könnte auch sein, dass es einen völlig harmlosen Grund gibt«, gab Islay zu bedenken. »Mick hat vielleicht eine Freundin, die er vor den Tratschtanten hier geheimhalten will, und die Gelegenheit genutzt, sich ein paar schöne Tage bei ihr zu machen. He, die könnte sogar auf Skye wohnen, dann brauchte er das Auto gar nicht.«
»Was zu der Frage führt, warum er es später nicht abgeholt hat. Hast du eine Ahnung, wo die Scheune von dieser Emily ist?«
»Ja, ich glaube schon. Sie ist eine Freundin von Miss Bumbles. O Scheiße ...«
Nun sah auch Jericho, was Islay meinte. Vor dem Singenden Sidhe parkte ein schwarzer SUV. Ein typischer SAW-Wagen. Jericho gab Gas.
»Das hat ja nicht lange gedauert«, sagte Islay. »Ich frage mich, wer dich verpfiffen hat?«
»Vermutlich mehrere. Gestern Abend haben mich genug Leute gesehen, als ich in den Pub gegangen bin.«
»Ja, das war nicht sonderlich schlau von dir.« Islay schenkte ihm ein schiefes Lächeln. Er machte Anstalten, wieder die Füße auf das Armaturenbrett zu legen und kam dabei mit der Ferse an das Handschuhfach, das klappernd aufsprang.
»O, tut mir ... he, hat dein Autovermieter dir einen Talisman mitgegeben? Oder warte ... das ist ein Geschenk von Tante Shirley, oder?«
Jericho trat so plötzlich auf die Bremse, dass Islay nach vorn geschleudert wurde. Nur der funktionierende Gurt rettete ihn davor, durch die Windschutzscheibe zu segeln. Jericho konnte nicht glauben, was Islay in der Hand hielt. Es war der Anhänger, den Terry immer um den Hals getragen hatte.