Ohne sich um Islays Protest zu kümmern, riss Jericho ihm den Anhänger aus der Hand. Die Meerjungfrau baumelte vor seinen Augen. So viele Jahre hatte er sie an Terry gesehen. Sie hatte zu ihm gehört wie seine krumme Nase und seine dummen Witze. Nun war sie das Einzige, was von ihm übrig geblieben war.
»Jericho?«, hörte er Islays Stimme wie aus weiter Ferne.
Er schloss die Faust um die Meerjungfrau, spürte, wie sich die Schwanzflosse in seine Handfläche bohrte. »Das ist Terrys Anhänger.«
»Ach so, entschuldige. Ich wollte nicht stöbern.«
Jericho schüttelte den Kopf, um zu sich zu kommen. »Nein«, stieß er hervor. »Du verstehst nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass er da drin war. Als ich Terence im Otterview gefunden habe, war der Anhänger weg. Bis jetzt.«
»Der Mörder hat ihn da reingelegt.« Wie üblich schaltete Islay schnell. »Um den Verdacht auf dich zu lenken. Wenn die SAW-Agenten ihn im Handschuhfach deines Wagens gefunden hätten ... gute Nacht.«
Jericho lehnte sich zurück und zwang sich, tief durchzuatmen. »Verdammter Scheißdreck. Wer hatte die Gelegenheit, was in den Wagen zu legen? Er war nicht abgeschlossen. Oder es hatte ihn jemand aufgebrochen.«
»Bist du mit dem Auto zu den Shellys gefahren?«
»Nein, Murray hat mich mitgenommen. Der Volvo hat mindestens eine Stunde unbeobachtet herumgestanden. Murray hätte den Anhänger allerdings auch hineinlegen können, bevor er mich geweckt hat.«
Islay verzog das Gesicht. »Murray hat dich geweckt?« Klang ziemlich neidisch.
»Eigentlich war es Willow. Sein Hund.«
»Aha.« Islay sog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Es könnte also jeder gewesen sein.«
»Jeder, der weiß, dass ich hier bin und wo ich das Auto geparkt habe.« Also auch Islay. Islay hätte sogar die Gelegenheit gehabt, Terry den Anhänger abzunehmen. Jericho versuchte, sich vorzustellen, wie Islay seinem Freund die Kehle durchschnitt und kaltblütig den Anhänger an sich nahm. Vergebens. Dafür reichte seine Fantasie nicht aus. Das hieß aber nicht, dass Islay es nicht getan haben konnte. Allerdings wäre er dann kaum so dumm gewesen und hätte den Anhänger zufällig im Handschuhfach gefunden. Erleichtert atmete Jericho auf. »Ich tippe auf Mick.«
Und wenn er ihn erst befragte, würde der ihm schon verraten, wieso er Terry ermordet hatte. Nur war der Weg in den Pub leider von SAW versperrt.
»Zur Scheune«, entschied Jericho. »Vielleicht finden wir da einen Hinweis. Danach rede ich mit Mick.«
Und zwar ohne Islay. Denn es würde nicht beim Reden bleiben. Da konnte er keine Zeugen brauchen. Schon gar nicht einen netten Jungen wie Islay.
Einen netten Incubus.
Verdammt.
Islay wies ihm den Weg zur Scheune. Sie befand sich auf halber Strecke von Portree zur Brücke. Die Bezeichnung Scheune war reichlich hochgegriffen. Das Gebäude ähnelte eher einem schludrig zusammengezimmerten Bretterverschlag. Das Tor hing schief in den Angeln. Die staubige Luft roch nach altem Stroh und einem Hauch Benzin. Auf dem Boden, der lediglich aus festgestampfter Erde bestand, entdeckte Jericho einen Ölfleck.
»Wonach suchen wir?«, fragte Islay.
»Weiß ich, wenn wir es finden.« Jericho schaute sich in dem düsteren Verschlag um. Keine Fenster, Licht fiel ausschließlich durch die Lücken zwischen den Brettern und das offene Tor. »Nicht das schlechteste Versteck für einen Lieferwagen, der für eine Weile von der Bildfläche verschwinden soll.«
»Wenn Mick der Mörder ist, warum ist er dann nach dem Mord nicht einfach wirklich weggefahren?«
»Entweder die Karre ist ihm echt verreckt oder er wusste nicht, wohin. Oder er wollte Manon im Auge behalten.«
»Aber wo war er?«
»Gute Frage.« Jericho schob mit dem Schuh einen Haufen modriges Stroh in der Ecke auseinander. »Hier jedenfalls nicht, da hätte ihn Emily entdeckt. Warum hat niemand Manon verraten, dass der Lieferwagen ihres Bruders aufgetaucht ist?«
»Emily ist mit ihrer Katze zu Verwandten aufs Festland gefahren. Weiß ich von Miss Bumbles. Das ist ein paar Wochen her, also muss sie schon kurz nach der Entdeckung des Wagens aufgebrochen sein. Sie ist immer noch fort. Und Nic ... naja, sie hatte mal was mit Mick. Sie haben sich nicht gerade freundschaftlich getrennt. Jedenfalls kann sie Mick nicht ausstehen und Manon mag sie auch nicht besonders.«
Jericho drehte sich zu Islay um. Der lehnte an dem schiefen Rahmen des Tors, die Arme verschränkt, ein Bein lässig über das andere geschlagen. Vor dem hellen Rechteck des Tors konnte Jericho ihn nur als Schattenriss erkennen. »Islay.«
»Ja?«
Er hörte das Lächeln in der Stimme und atmete tief durch. »Ich fahre zum Pub und rede mit Mick.«
»Gut, da werden wir ...«
»Allein.«
»Aber ...«
»Kein aber. Du wartest hier. Es könnte durchaus passieren, dass ich von SAW geschnappt werde. Ich will dich da nicht mit hineinziehen.«
»Du wirst ihn foltern, oder?«
Jericho unterdrückte ein Seufzen. »Wie kommst du darauf?«
»Ich bin nicht blöd und du bist Jericho March. Denkst du, ich hätte noch nichts von deinen Befragungsmethoden gehört? Äußerst umstrittenen Methoden übrigens. Im AWsome sind einige Pro-und-Contra-Artikel darüber erschienen.«
»Hab nicht gewusst, dass es ein Pro gibt.«
»Ist dir sowieso egal, oder?« Islay stieß sich vom Torrahmen ab und ging auf Jericho zu. »Beim letzten Mal auf Skye hast du versucht, mich mit vergiftetem Whisky außer Gefecht zu setzten. Was hast du diesmal vor? Schlägst du mich nieder?«
»Der Whisky war nicht vergiftet.«
Nur mit einem Schlafmittel versetzt, das Islay Jerichos Berechnungen zufolge mindestens bis zum nächsten Mittag süße Träume beschert hätte. Stattdessen war Islay kurz darauf am Old Man of Storr aufgetaucht, munter und hellwach. Mittlerweile ahnte Jericho, woran das gelegen hatte. Viele Tränke wirkten nicht bei Anderweltlern oder zumindest völlig anders als auf Menschen. Islay hatte Glück gehabt. Mit Pech hätte der auf Menschen zugeschnittene Trank ihn, den Incubus, womöglich getötet.
»Da ist doch noch was.« Islay stand nun dicht vor Jericho. Das Amulett pulsierte auf Jerichos Brust. »Du verschweigst mir etwas. Seit du mit den Shellys gefrühstückt hast, siehst du mich so seltsam an.«
»Mache ich das nicht immer?«
»Doch, aber seitdem besonders. Hast du ihnen verraten, dass ich ein Incubus bin? Haben sie was dazu gesagt?«
»Nein, hab ich nicht. Okay, wenn du es unbedingt wissen willst: Das Orakel Tante Shirley hat wieder gesprochen. Diesmal kein Wasser. Sie hat den Schatten des Todes über dir schweben sehen.«
Islay wich zurück. »Was? Das ist Quatsch, oder? Sie kann sowas nicht wirklich sehen?«
»Woher soll ich denn das wissen?«
»Hast du ihr echt nicht gesagt, dass ich ein Halbincubus bin? Vielleicht hat sie auch das Buch gelesen.«
Jericho hörte die Angst in Islays Stimme und verfluchte sich. Er hätte es ihm nicht sagen dürfen. »Ich habe es ihr nicht gesagt und sie ist nur eine alte Frau, die sich wichtig machen will.«
»Klar, darum guckst du mich so an. So ... mitleidig.«
»Davon träumst du wohl.«
Islay gab ein ersticktes Röcheln von sich und stürmte aus der Scheune. Jericho fand ihn draußen, nach vorn gebeugt, die Hände auf den Knien abgestützt, wie er gierig die Luft einsog.
»Alles in Ordnung?« Er legte sacht die Hand zwischen Islays Schulterblätter.
»Hm«, stieß Islay hervor. »Bisschen stickig da drin.« Langsam richtete er sich auf. Er war blass um die Nase. Als er Jericho anschaute, lag in seinem Blick ein stummes Flehen. »Meinst du, es bringt was, wenn ich sie frage? Sie ist eine Shellycoat. Vielleicht weiß sie auch etwas über andere Anderweltler. Über Halbincubi.«
Jericho verriet nicht, dass er bereits ein Treffen mit Joan arrangiert hatte. Er traute ihr mehr als Tante Shirley. Joan braute Tränke. Er hatte sie Undine gegenüber erwähnt. Genau gesagt hatte er bei Undine den Schlaftrunk, der vermeintlich nicht gewirkt hatte, reklamiert und sie hatte ihn nach Joan gefragt. Sie hatten beide in Edinburgh studiert und sich über ihr gemeinsames Interesse kennengelernt: Heilmittel und Tränke mit magischen Extras. Undine hielt große Stücke auf Joan. Wenn man sich mit den Wirkungen von magischen Zutaten beschäftigte, lernte man automatisch auch einiges über Anderweltler. Die Chancen standen nicht schlecht, dass Joan mehr über Incubi wusste, als in diesem blöden Buch von Islay zu lesen war.
Aber Jericho wollte Islay keine falschen Hoffnungen machen. »Vielleicht«, sagte er daher nur. »Wirst du hier auf mich warten?«
»Nein.« Trotzig sah Islay zu ihm auf. »Nicht freiwillig. Schlag mich nieder. Na los.«
Sturer als ein Dämon aus der achten Dimension.
»Das hat erst kürzlich jemand getan«, erinnerte Jericho ihn. »Du legst es drauf an, oder?«
Islay blinzelte mit dem noch leicht zugeschwollenen Auge. »Das war gar nichts. Mick ist ein Arsch. Ich würde echt gerne zusehen, wenn du ihn zu einem Geständnis bringst. Leg ihm Daumenschrauben an. Ich bin dabei.«
Wider Willen musste Jericho schmunzeln. Bis ihm Terry einfiel und dass ihn nur wenige Meilen von dessen Mörder trennten. »Wir machen es so. Ich fahre zum Pub, hole Mick raus und schaffe ihn hierher. Ist sowieso besser. Hier können wir ihn in Ruhe befragen. Du bleibst hier und wenn sich jemand blicken lassen sollte, rufst du mich an und wir überlegen uns was anderes.«
Jericho zweifelte daran, dass Islay sich darauf einließ, doch nach kurzem Zögern nickte er. »Aber du kommst wirklich mit Mick her. Versprich es.«
»Versprochen.«
Islay schenkte ihm ein Lächeln. »Lass dich nicht fressen.«