Jericho hätte erleichtert darüber sein müssen, dass Islay so schnell klein beigegeben hatte, doch er war es nicht. Etwas nagte an ihm, ein Unbehagen, wie eine böse Vorahnung. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, seinen Instinkten zu trauen. Sonst hätte er nicht so lange in einem Job überlebt, in dem kaum jemand das dreißigste Lebensjahr erreichte. Obwohl er es ursprünglich nicht vorgehabt hatte, war er drauf und dran, tatsächlich mit Mick zurück zur Scheune zu fahren.
Doch zunächst bremste er vor dem Otterview , vor dem jemand wartete, den er kannte.
Joan Shelly trug einen gelben Regenmantel über einem türkisblauen Kleid. Das Ensemble wurde mit ebenfalls gelben Gummistiefeln komplettiert. Sie stand reglos vor dem Bed and Breakfast und zeigte keinerlei Anzeichen von Überraschung, als Jericho den Volvo neben ihr zum Stehen brachte. Ohne Eile öffnete sie die Beifahrertür und stieg ein. »Du wolltest mich sprechen?«
»Hallo Joan. Schönen Gruß von Undine.«
In Joans Gesicht regte sich kein Muskel. Obwohl sie keine Muschelkette trug, sah sie von der Shelly Familie am fremdartigsten aus. Anziehend, auf eine schwer fassbare Weise. Ihre Augen standen zu weit auseinander, ihre Nase war zu lang und zu schmal, ihr Mund zu breit und ihr Kinn für menschliche Maßstäbe zu klein und spitz. Und doch fügte sich alles zu einem Gesamteindruck, den die meisten Menschen wohl als schön bezeichnet hätten. Zu einem guten Teil mochte das an dem gewellten Haar liegen, das schimmerte wie frische Kastanien und Joan bis auf die Hüften fiel. Ihre grauen Augen zeigten einen Ausdruck wacher Intelligenz, gepaart mit einer gehörigen Portion Skepsis. »Ja, Undine hat mir schon berichtet, dass sie deine Hauptlieferantin für Tränke und sonstige magische Mischungen ist.«
»Sie baut hervorragende Stinkbomben.«
Das brachte Joan zum Lächeln, wenn auch nur kurz. »Also, was willst du?«
Ihre letzte Begegnung war nicht gerade freundlich verlaufen. Jericho hatte ihr vorgehalten, dass sie Hamish Connell die wichtigste Zutat für den Trank verkauft hatte, mit dem er dem Ersten Magier seine Kräfte hatte rauben können. Nicht so sehr, weil er etwas gegen Hierarchiekämpfe der Magier einzuwenden hatte, sondern weil Solomon Pinkett tatsächlich der einzige der Magiergurkentruppe zu sein schien, der einiges auf dem Kasten hatte. Wäre Connell beim Schließen des Dimensionsloch auf sich gestellt geblieben, hätten die Einwohner von Skye sich mit einer Horde Spinnendämonen herumschlagen müssen. Nach Jerichos Meinung hatte Joan zumindest indirekt dazu beigetragen, Zivilisten in Gefahr zu bringen.
Joan sah das allerdings anders und war nicht davor zurückgeschreckt, das Jericho deutlich ins Gesicht zu sagen. Ihrer Meinung nach hätte sich Connell dann etwas noch Übleres einfallen lassen, um Solomon auszuschalten. Und hatten nicht die Shellys Jericho überhaupt erst auf die Sache mit dem Trank gebracht?
Schließlich hatten sie sich halbwegs friedlich getrennt. Jericho wusste ihre offene, unerschrockene Art zu schätzen und auch, dass sie nicht um den heißen Brei herumredete. Daher kam er gleich zur Sache. »Was weißt du über Halblinge?«
»Was ist das denn für ein diskriminierender Ausdruck«, murrte sie. »Du meinst Nachkommen, die aus Verbindungen von Anderweltlern mit Menschen hervorgehen?«
»Warum einfach, wenn es auch umständlich geht.«
»Das hat mit Einfachheit nichts zu tun. Halbling ist abwertend.«
»Und deine Meinung dazu?«
»Was soll ich darüber wissen?« Joan hob die Schultern. »Es gibt sie, klar. Du findest doch kaum eine Modenschau, in der nicht Halbsidhe über den Catwalk marschieren.«
Tatsächlich waren viele Halbsidhe mit außergewöhnlicher Attraktivität gesegnet und arbeiteten oft als Models und Schauspieler. Außerdem war es Mode geworden, sich mit Sidheblut zu brüsten. Ein Oger oder Gnom im Familienstammbaum wurde dagegen verschämt verschwiegen. Jericho wurde deutlicher. »Ich meine Halbincubi.«
»Gibt es nicht«, erwiderte Joan prompt. »Jedenfalls keine, die das frühe Kindesalter überleben. Mensch und Incubus oder Succubus verträgt sich nicht. Hat was mit den Genen zu tun. Die Kinder leiden an einem Defekt, der sie früh sterben lässt.«
Der Autor von Islays schlauem Buch schien doch nicht so verkehrt zu liegen.
»Keine Ausnahmen bekannt?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Gibt es kein Heilmittel?«
Joan überlegte. »Es gab da mal was«, sagte sie langsam. »Ein Mittel, das bei regelmäßiger Einnahme den tödlichen Defekt unterdrücken konnte. Aber irgendetwas war damit. Ich erinnere mich nicht mehr genau, warum das das Mittel nicht mehr hergestellt werden kann. Entweder der letzte Magier, der das Rezept kannte, hat das Zeitliche gesegnet, ohne es weiterzugeben, oder eine wichtige Zutat ist ausgestorben. Sowas in der Art. Kann sein, dass Undine es noch weiß.« Sie musterte Jericho neugierig. »Fragst du für einen Freund?«
»Genau. Danke. Du hast mir weitergeholfen. Hast was gut bei mir.«
»Den Gefallen möchte ich gleich einfordern. Wenn du nach Edinburgh zurückfährst, könntest du da was für Undine mitnehmen? Wir tauschen regelmäßig Zutaten aus und sie hat ein paar Sachen bestellt, die es nur auf Skye gibt.«
»Ich nehm das Zeug mit, aber das ist nicht der Gefallen. Hast immer noch was gut.«
Diesmal fiel Joans Lächeln wesentlich deutlicher aus. »Ich werde es nicht vergessen, Jericho March.« Sie stieg aus, doch bevor sie die Tür zuschlug, beugte sie sich noch mal in den Wagen. »Viel Glück für deinen Freund.«