Durch die Vordertür in den Singenden Sidhe zu marschieren kam nicht in Frage. Auf der Straße parkte noch immer einer der SAW-Wagen. Der Pub wurde beschattet. Zum Glück auf nicht sehr subtile Weise. Jericho hätte schon blind sein müssen, um das Auto nicht zu bemerken. Weil er zuletzt im Pub gesichtet worden war, hofften die schlauen SAW-Agenten nun, er würde erneut dort aufkreuzen. Hatte er ja auch vor, nur nicht so, wie sie es erwarteten. Er nahm lieber die Hintertür. Aber nicht die, durch die er das letzte Mal mit Islay den Pub verlassen hatte. Dort hatte SAW garantiert eine Wache postiert.
Jericho entschied sich für den Garten. Den hatte er am Abend zuvor durch das Küchenfenster gesehen. Eine verwilderte Grünfläche hinter dem Gebäude, von Mauern umgeben. Über eine davon kletterte Jericho. Geschmeidig landete er im hohen Gras. Der Halmlänge nach zu urteilen, hatte es in diesem Jahr noch keine Bekanntschaft mit dem Rasenmäher gemacht. Nun war es höchstens noch ein Fall für die Sense. Eindeutig besaßen weder Manon noch Mick ein Faible für Gartenarbeit. Gut für Jericho. Ein gepflegter Golfrasen hätte ihm weit weniger Deckung beschert.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich an das Küchenfenster heranzupirschen, um nachzusehen, ob Mick arbeitete. Doch etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Von Dorngestrüpp und Efeu überwuchert duckte sich ein Schuppen in die Ecke des Gartens. Jericho folgte seinem Instinkt und begab sich zunächst dorthin. In Gartenhäuschen gab es oft Interessantes zu entdecken. Während eines Auftrags in Aberfoyle hatte er in einem ähnlichen Verschlag mal ein Nest Schlangendämonen ausgehoben, die aus einem Dimensionsloch gekrochen waren, das selbst Terry nur mit Mühe hatte finden können, so klein war es gewesen.
Dämonen entdeckte Jericho diesmal nicht. Nur eine Tür, die sich lautlos öffnen ließ, als wären die Scharniere erst kürzlich geölt worden und das Vorratslager eines Menschen, dem es nichts ausmachte, sich ausschließlich mit Baked Beans und Chips zu verköstigen. Außer Dosenfraß gab es ein Matratzenlager samt Schlafsack, einen Stapel Taschenbücher und Wasserflaschen. Der Schlafplatz wurde von dem üblichen Gartenramsch eingerahmt. Schaufeln, Harken, Säcke mit undefinierbaren Erden und Sämereien und in einer Ecke stand tatsächlich ein rostiger Rasenmäher neben einem Zwerg, der einem irischen Leprechaun nachgebildet war. Das rote Haar war allerdings verblichen und die Kleeblätter, die er in der Hand hielt, zum Teil abgebrochen. Das einzige Fenster war blind vor Staub und mit Spinnweben wie mit einer Gardine verhangen.
Nettes Versteck.
Jericho hegte einen Verdacht, wer es in letzter Zeit genutzt haben könnte. Doch obwohl sich die Schlinge immer stärker um Micks Hals zusammenzog, begriff Jericho nicht, was den Pubbesitzer dazu getrieben hatte, einen Türschließer von SAW zu ermorden. Ein Ermittler wäre nun in Ruhe Theorien zum Tatmotiv durchgegangen. Die Methode March sah als nächsten Schritt eine nette Plauderei mit dem Hauptverdächtigen vor. Jericho verließ den Schuppen und ging quer durch das hüfthohe Gras zum Küchenfenster. Mit dem Rücken zur Wand schob er sich wachsam näher an den Fensterrahmen heran, beugte sich zur Seite und spähte ins Gebäude.
Zuerst dachte er, es wäre niemand in der Küche. Dann hörte er das Schniefen. Er veränderte seinen Blickwinkel. Auf dem Boden, an einen der Edelstahlschränke gelehnt, saß mit angezogenen Knien Manon. Sie weinte. Zu ihren Füßen lag ein beschriebenes Blatt Papier. Jericho klopfte an die Scheibe. Manon hob den Kopf und riss die geröteten Augen auf. Unerwartet schnell sprang sie auf und rannte zum Fenster. Sie öffnete es. Fettiger Dunst schlug Jericho entgegen.
»Die SAW-Agenten sind hier«, flüsterte Manon.
»Ich weiß. Was ist passiert?«
Manon schluckte mehrmals hörbar. Hilflos schüttelte sie den Kopf. Jericho hätte Islay mitnehmen sollen. Er besaß das nötige Feingefühl für eine Situation wie diese, mit der Jericho heillos überfordert war.
»Wo ist Mick?«, fragte er. Vermutlich war das genau das Falsche. Doch es riss Manon aus ihren sichtlich qualvollen Bemühungen, nicht zu weinen. Sie machte Jericho ein Zeichen, dass er im Garten auf sie warten sollte. Wenig später stand sie neben ihm im hohen Gras.
»Martin ist tot«, sagte sie erstaunlich gefasst. »Wir haben die Nachricht heute morgen erhalten. Die SAW-Agenten haben sie überbracht. Er hat eine Apotheke überfallen und ist ...« Sie suchte nach Worten. »Der Apotheker hat ihn erschossen.«
»Was hat SAW damit zu tun?« Zu spät fiel Jericho ein, dass er zumindest kondolieren könnte. »Tut mir leid«, fügte er hinzu.
Manon wischte sich über die Augen. Sie war ungeschminkt, das ließ sie fremd und verletzlich erscheinen und viel jünger als sonst. »Irgendwie wusste ich, dass es passieren wird. Nachdem wir die Banshee gehört haben ...«
Jericho wiederholte seine Frage.
»Die waren sowieso auf dem Weg hierher, wegen dir, und haben es im Polizeifunk gehört.« Gehetzt sah sich Manon um, als erwartete sie, jeden Moment einen SAW Agenten aus dem Gebüsch springen zu sehen. »Sie sind nett«, sagte sie verächtlich. »Tun so, als täte ihnen wirklich leid, was mit Martin passiert ist. Dabei ist er für sie nur ein weiterer Drogi, der ihnen scheißegal ist.« Das klang schon eher nach Manon. Sie packte Jericho am Arm. »Ich bin froh, dass du hier bist. Du musst mir helfen! Es geht um Mick. Er ist verschwunden. Bitte, finde ihn, ich bin mir sicher, dass er eine Dummheit begehen wird.«
»Ich fürchte, das hat er schon.« Wenn man den Mord an Terry als Dummheit bezeichnen konnte.
Manon schien Jericho nicht gehört zu haben. Mit zitternder Hand hielt sie ihm ein zerknittertes Blatt Papier hin, eng beschrieben. War wohl das, was vorhin vor ihr gelegen hatte. »Hier, diesen Brief hat er in der Küche liegen lassen. Wirres Zeug! Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit ihm los ist. Erst dachte ich, er trinkt wieder, aber er roch nie nach Alkohol. Er verhält sich total merkwürdig.«
Jericho nahm den Brief. »Seit wann ist er so?«
»Ungefähr seit der Sache mit dem Dimensionsloch. Natürlich, Pauls Tod setzt ihm zu und dann noch die Sorge um Martin ...« Manon verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »O Shit. Ich habe eigentlich schon seit Monaten auf diese Nachricht gewartet, habe immer befürchtet, dass es nun so weit ist, wenn das Telefon geklingelt hat. Aber jetzt ... bin ich nicht vorbereitet.«
»Das ist man nie.« Jericho versuchte, Micks krakelige Schrift zu entziffern:
Schwesterherz, es war ein großer Fehler, aber ich mache es wieder gut. Die hatten mich in der Hand wegen Martin. Aber jetzt ist er tot und es wird ihnen leid tun, mich benutzt zu haben. Verarscht haben sie mich und ich kann es nicht rückgängig machen. Wenn ich nicht wiederkomme, musst du wissen, dass ich es für unsere Zukunft getan habe. Sie haben mir das Geld gegeben, um den Pub abzubezahlen. Jetzt weiß ich, der Preis war zu hoch. Ich will die nicht mehr in meinem Kopf. Das alles macht mich verrückt. Ich bin froh, dass Martin tot ist und ich hasse mich dafür, aber jetzt kann ich mich hoffentlich von ihnen befreien. Die können mir gar nichts mehr. Sie haben ihr Versprechen gebrochen, obwohl ich es getan habe. Das werden sie bereuen. Wünsch mir Glück und bis bald, Mick.
»Irgendeine Ahnung, wer die sind?«, fragte Jericho.
Manon schüttelte den Kopf. Sie presste die Lippen zu einer blutleeren Linie zusammen.
»Wer hat Mick das Geld gegeben, um die Schulden zu begleichen?«
»Ich weiß es nicht.« Manon blinzelte hektisch. »Micky hat mir weisgemacht, dass er beim Hunderennen gewonnen hat. Habe ich ihm zwar nicht geglaubt, aber ich dachte immer, er hätte irgendein krummes Geschäft gemacht. So genau wollte ich es nicht wissen. Hauptsache, schuldenfrei. Wir hätten den Pub nach dem Tod unserer Eltern fast verloren, die Kredithaie saßen uns im Nacken.« Flehentlich sah sie Jericho an. »Was meint er mit diesem wirren Zeug? Er wird sich in Schwierigkeiten bringen, ganz sicher. Er hat die Jagdflinte von unserem Daddy mitgenommen. Keine Ahnung, was er damit vorhat, aber sicher nichts Gutes. Bitte, finde ihn! Ich kann nicht noch einen Bruder verlieren!«
Statt auf Manons flehentlichen Blick konzentrierte sich Jericho lieber auf den Brief. So wirr fand er Micks Geschreibsel gar nicht. Zumindest konnte er sich denken, was er mit »obwohl ich es getan habe« meinte. Jemand hatte Mick damit beauftragt, Terry zu töten, und ihn unter Druck gesetzt, indem er, oder sie, Martin bedrohten. Dass er von »die« schrieb, deutete darauf hin, dass es sich um eine Gruppe handelte. Vielleicht hatten sie Mick als Belohnung zugesagt, Martin einen Platz in der Entzugsklinik zu besorgen. Dann hatten sie ihr Versprechen wohl tatsächlich gebrochen. Die Frage nach den geheimnisvollen Auftraggebern konnte Jericho jetzt nicht beantworten. Er musste Mick finden. Er würde ihn mit dem Mord an Terry nicht davonkommen lassen. Für Wut hatte er auch keine Zeit. Die half ihm nicht weiter. Seine berühmte Kaltblütigkeit schon eher, doch es kostete ihn einiges, an ihr festzuhalten. »Wo ist Mick? Hat er keine Andeutung gemacht, wohin er wollte?«
Manon zuckte zusammen und Jericho merkte, dass er sie schroff angefahren hatte. Sie konnte vermutlich nichts dafür. Und sie hatte gerade erst vom Tod ihres Bruders erfahren. Erneut wünschte sich Jericho Islay her.
»Er hat irgendwas vom Lieferwagen gesagt«, stotterte Manon. »Du hilfst mir, oder? Du suchst ihn?«
O ja. Jericho würde ihn suchen. Aber ganz sicher nicht, um ihn vor Unheil zu bewahren.
Jericho war das Unheil.