17. Die Schlinge zieht sich zu

Jericho verließ den Garten auf demselben Weg, auf dem er ihn betreten hatte. Über die Mauer. Ohne von SAW-Agenten belästigt zu werden erreichte er den Volvo. Mit etwas Glück würde er Mick noch an Nics Werkstatt antreffen. Leider hatte er keine Ahnung, um wen es sich bei den Auftraggebern handelte. Dem Brief nach wollte Mick sich auf den Weg zu ihnen machen, um sie ordentlich zusammenzustauchen. Hätte ihm ein wenig früher einfallen sollen, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Nämlich bevor er Terry umgebracht hatte, der Scheißkerl. Jericho würde ihn gerade lange genug am Leben lassen, um die Namen seiner Auftraggeber zu erfahren.

Mit quietschenden Reifen kam er auf dem Hof zum Stehen. Sein erster Blick galt der Stelle, an der der Lieferwagen geparkt hatte. Er stand noch da. Wo war Mick?

Zwischen den Wagen tauchte Nics Blondschopf auf. Sie kam auf ihn zu. Er kurbelte die Scheibe runter. »Wo ist der Penner?«, brüllte er. Soviel zur Kaltblütigkeit.

Nic starrte ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank und wich zurück. »Wer?«

»Mick Kavanagh!«

»Woher soll ich das wissen?«

Da begriff Jericho. Mick hatte keine Ahnung, dass der Lieferwagen mittlerweile auf Nics Hof stand. Er vermutete ihn in der alten Scheune. In der Scheune, in der Islay wartete.

Verdammt!

Jericho zerrte das Handy aus der Tasche. Das Ding dudelte viel zu lange das Freizeichen.

»Hast du ihn?«, erklang endlich Islays aufgeregte Stimme.

»Verschwinde«, stieß Jericho hervor.

»Was?«

»Hau ab! Weg von der Scheune! So weit wie möglich.«

»Wieso denn das? Ist da eine von deinen Bomben drin?« Islay lachte. »Noch mal legst du mich nicht rein, Jericho March. Du hast mir versprochen, dass ich dabei sein darf, wenn du ... o, warte mal. Da kommt jemand auf einem Fahrrad die Straße lang.«

Im Ernst? Dieses Arschloch von Mick fuhr mit dem Rad zu der Scheune? War der nicht in der Lage, irgendein Auto kurzschließen? Egal. Hauptsache, Islay tat endlich, was er sollte. Jericho zwang sich zur Ruhe. »Islay, das ist Mick. Er hat Terry getötet. Er ist durchgeknallt und bewaffnet. Versteck dich irgendwo, er darf dich nicht sehen. Ich bin gleich bei dir.«

»Ach du Scheiße«, sagte Islay schwach. »Du hast recht, es ist Mick. Er steigt ab und lehnt das Rad an den Zaun an der Straße. Jetzt kommt er her. Warte mal, ich ...«

Ein Rascheln war zu hören. Er versteckte sich. Irgendwo. Bestimmt. Er war nicht blöd. Hinter der Scheune zum Beispiel. Hauptsache außer Sicht. Jericho wendete den Volvo und gab Gas.

Gedämpft hörte er Stimmen und dachte erst, das Radio hätte sich von selbst eingeschaltet. Doch die Geräusche kamen aus dem Handy, das er auf den Beifahrersitz geworfen hatte. Er tastete danach und presste es an sein Ohr, während er das Gaspedal so fest herunterdrückte, dass es eine Beule im Bodenblech geben würde. Die Verbindung zu Islay bestand noch.

»... willst du denn hier?«, hörte er Mick sagen. Und dann: »Wo ist der verdammte Lieferwagen! Hast du ihn geklaut, du mieser Schnüffler? Soll ich dir noch eine verpassen?«

»Versuch’s doch!«, erwiderte Islay aufsässig.

Jericho biss die Zähne zusammen. Er konnte Mick und Islay zwar leise, doch deutlich hören. Und er schwor sich, Mick noch an diesem Tag eigenhändig zu erwürgen.

»Ganz schön große Klappe ohne deinen Beschützer«, höhnte Mick. »Tja, den wird SAW bald einkassieren und einen neuen Beweis dafür finden, dass er Campbell auf dem Gewissen hat.«

»Das glaubst du auch nur. Und was meinst du mit Lieferwagen? Ich sehe hier keinen.«

Ja, gut, Islay. Halt ihn hin.

»Verarsch mich nicht!«, brüllte Mick. »Für diesen Scheiß habe ich keine Zeit! Ich muss die verdammten Stimmen loswerden!«

Das klang nicht gut.

»Hast du ihn gestohlen? Gehörst du etwa zu ihnen? Bist du hier, um mich zu kontrollieren? Reicht es euch nicht, dass ihr euch in meinem Kopf breitmacht?«

Islay wusste ausnahmsweise mal, wann es besser war, den Mund zu halten. Er ließ Mick krakeelen.

Doch dann hörte Jericho ihn schreien. »He! Ich bin keiner von denen, ich weiß nicht mal, wen du meinst! Nimm das Gewehr runter!«

»Den Dämon werde ich! Ich knall dich ab, alle von euch, aber du bist der Erste. Dieser Jericho steckt doch mit denen unter einer Decke, oder? Sie wollen ihn loswerden und benutzen mich dafür. Wie sie mich auch bei Campbell benutzt haben.«

Merkte der Typ eigentlich, was für ein unlogisches Durcheinander er von sich gab?

»Was meinst du damit?« Islays Stimme klang erstaunlich fest. Fragen. Gut. Solange Mick die beantwortete, würde er ihn nicht erschießen.

Jericho umklammerte das Lenkrad und versuchte, den Volvo allein durch die Kraft seiner Gedanken dazu zu bringen, schneller zu fahren. Das Ding schien immer langsamer zu werden. Jericho hätte am liebsten laut gebrüllt vor Zorn, doch dann hätte er Mick und Islay nicht mehr hören können. Mick laberte gerade wieder was von den Stimmen in seinem Kopf. Womöglich war er doch verrückt und es existierten gar keine Auftraggeber, nur in seiner entgleisten Fantasie.

»Sie haben es versprochen«, heulte Mick nun. »Sie wollten Martin helfen.«

»Du hast Martin geholfen, du hast ihm einen Platz in der Entziehungs...«

»Schwachsinn! Das wollten SIE tun. Das weißt du doch, du Heuchler. Du hast hier auf mich gewartet, stimmt’s?« Micks Ton wurde lauernd. »Aber du hast nicht damit gerechnet, dass ich bewaffnet bin. Wo ist March? Versteckt er sich irgendwo?«

Jericho wünschte, es wäre so.

»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, hörte er Islay sagen. »Aber wenn du deinen Lieferwagen suchst, kann ich dir helfen, ihn zu finden.«

»Das haben sie auch gesagt. Dass sie mir helfen werden. Mit dem Pub, mit Martin, mit allem. Ich dachte, sie hätten mich vergessen.« Er gab ein bitteres Lachen von sich. »Ich war so ein Idiot. Aber jetzt ist Schluss damit. Sie haben ihr Wort gebrochen und können mir gar nichts mehr.«

»Ist gut«, ließ sich Islay vernehmen. »Zieh los und zeig es ihnen. Ich habe keine Ahnung, wen du meinst, aber ich wünsche dir viel Erfolg.«

»Willst du mich verarschen?«, fragte Mick misstrauisch.

»Nein. Warum sollte ich?«

»Bist du echt keiner von denen?«

Jericho wagte noch nicht aufzuatmen, doch es hörte sich fast so an, als hätte Islay es mal wieder geschafft. Er konnte wirklich überzeugend sein. Offenbar war er sogar zu dem irren Mick durchgedrungen. Falls das eine Auswirkung seines Incubus-Blutes war, verspürte Jericho diesmal nichts als Dankbarkeit für seine Herkunft.

»Er nicht, aber ich.«

Scheiße, wer war das denn? Die Stimme klang heiser, rauchig. Jericho konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Wieso war diese beschissene Scheune so weit weg? Wieso hatte er Islay allein gelassen? Nach der nächsten Kurve sah er endlich das marode Holzgebäude rechts von der Straße. Nur noch ein paar Sekunden ...

Ein Schuss.

Jericho hörte ihn zwei Mal. Einmal live und einmal zeitverzögert aus dem Handy. Es war ein Schuss, ganz sicher. Gefolgt von einem widerwärtigen Knirschen, das die Verbindung unterbrach. Den nächsten Schuss hörte Jericho nur noch einmal.

Islay!

Jericho zwang den Volvo zu schnell in die schmale Zufahrtsstraße, die zur Scheune führte. Der Wagen geriet ins Schleudern, brach aus und holperte über das Feld. Im Aussteigen sah Jericho jemanden aus der Scheune laufen. Die schlanke Gestalt in schwarzer Lederkluft trug einen Motorradhelm. Warum, wurde Jericho gleich klar, als sich die Person auf das Motorrad schwang, das vor der Scheune parkte. In Fahrtrichtung. Im nächsten Moment raste der Fremde schon an Jericho vorbei. Er glaubte, das spöttische Aufblitzen dunkler Augen hinter dem Visier zu erkennen, aber das mochte Einbildung sein.

Keine Einbildung war der feurige Schmerz auf seiner Brust. Hastig zerrte er das Amulett aus dem Ausschnitt seines Shirts. Der magische Beutel, der ihn eigentlich vor der Hitze schützen sollte, verglühte gerade zu Asche. Das Amulett leuchtete intensiv wie nie zuvor. Jericho streifte sich das Lederband über den Kopf und fuhr herum, sah dem Motorradfahrer nach. Ein Incubus. Und zwar kein Halber diesmal, wie die Reaktion des Amuletts bewies. Das war die Gelegenheit. Der Incubus musste etwas mit Terrys Tod zu tun haben und somit auch mit Claras. Sonst wäre er kaum hergekommen. Zurück an den Ort des Verbrechens. Warum? Das und vieles mehr konnte Jericho nun herausfinden. Er brauchte ihm nur zu folgen und zu fangen. Dies war die Chance, auf die er seit Claras Tod gewartet hatte.

Die Überlegungen ratterten in Bruchteilen von Sekunden durch sein Hirn. Ein anderes Bild schob sich vor den davon heizenden Motorradfahrer. Das eines verblutenden Islays, der ohne Jerichos Hilfe vielleicht sterben würde. Oder war er schon tot? Zwei Schüsse. Zwei Tote.

Das Leben eines Incubus, das wahrscheinlich ohnehin nicht mehr zu retten war, gegen die lang ersehnte Möglichkeit, Claras und Terrys Tod zu rächen.

Jericho traf eine Entscheidung.