Zwei reglose Körper lagen in der Scheune. Der Gestank nach angekokeltem Fleisch schlug Jericho entgegen. Er streifte Mick nur mit einem flüchtigen Blick. Sah nach Gemetzel aus. Der Kerl lag in einer riesigen Blutlache. Jericho fiel neben Islay auf die Knie, konnte keine äußerlichen Verletzungen erkennen. Das Haar fiel Islay in die Stirn, sein Kopf war zur Seite gesunken. Er streckte Arme und Beine von sich. Sein Hals fühlte sich warm unter Jerichos tastenden Fingern an. Das bedeutete gar nichts. Natürlich war er noch warm, wäre er auch, wenn er noch nicht lange tot war. Doch da spürte Jericho das kräftige Pochen unter der Haut.
»Islay!«
Hatte er das geschrien? Er packte Islay an den Schultern und zerrte ihn hoch, an seine Brust, hielt ihn fest an sich gedrückt. Er wusste, vernünftiger wäre es, ihn nach Schusswunden abzutasten, seine Atmung zu kontrollieren, aber er war nicht in der Lage dazu. Alles, was er hinbekam, war, sein Gesicht in Islays Haar zu drücken und wieder und wieder seinen Namen zu sagen, als könnte er ihn damit am Leben halten.
»He ...« Islay regte sich.
Rasch schob Jericho ihn von sich, eine Hand stützend an seinem Hinterkopf. Islays Lider flatterten, hoben sich.
»Islay«, stieß Jericho hervor. »Bist du verletzt? Geht es dir gut? Hast du Schmerzen?«
Islays Augen sahen riesig in seinem kreideweißen Gesicht aus. Seine Lippen fingen an zu zittern. »Er hat ihn erschossen«, flüsterte er. »Einfach so. Und danach ... danach ...« Er fing heftig an zu schlottern.
Jericho zog ihn wieder an sich, strich ihm über den bebenden Rücken. »Ist gut«, sagte er, mehr, um sich selbst zu beruhigen. »Hat er auch auf dich geschossen?«
»Nein«, stammelte Islay. »Nur zweimal auf Mick. Wer war das?« Er krallte die Finger in Jerichos Jackenärmel. Ein bisschen von Jerichos Arm erwischte er auch. Jericho begrüßte den Schmerz. Der brachte ihn dazu, sich wieder mehr wie der Dämonenjäger zu fühlen, der er war, und nicht wie ein Volltrottel, der aus Sorge um einen Incubus alles vergaß, was er gelernt hatte.
Erneut schob er Islay von sich, energischer diesmal. Er zog seine Jacke aus und legte sie ihm um die Schultern. Islay schlugen die Zähne aufeinander und er sah aus, als würde er jeden Moment noch mal ohnmächtig werden.
»Leg dich hin«, befahl Jericho ihm. Er hätte ihm gerne etwas unter die Knie geschoben. War aber nichts da. Micks Flinte lag auf dem Boden, aber die taugte nicht für Erste-Hilfe-Maßnahmen. »Bin gleich wieder bei dir.« Jericho berührte sacht Islays Wange und wandte sich Mick zu.
Der war tot, eindeutig. Starrte mit gebrochenem Blick an die Decke, einen Ausdruck des Erstaunens auf dem Gesicht. Der Incubus hatte ihn gut getroffen. Zweimal direkt ins Herz, wie es aussah. Jericho hätte ihn umdrehen und die Austrittswunden begutachten können. Doch er wollte den Ermittlern nicht mehr als nötig ins Handwerk pfuschen. Er hatte auch schon genug solcher Wunden gesehen. Kein besonders angenehmer Anblick. Die Blutlache, die sich unter Mick ausbreitete, sprach Bände. Woher kam der Grillfleischgestank?
Der schmuddelige Verband, den Mick um das Handgelenk getragen hatte, lag neben ihm, nun noch verdreckter. Micks Arm war zur Seite abgespreizt, die Handfläche nach oben gedreht, der Ärmel seines Pullovers bis zum Ellenbogen nach oben geschoben. Auf seinem Unterarm prangte eine flächige Brandwunde, die noch rauchte.
Da hatte wohl jemand etwas entfernt. Jericho tippte auf den flüchtigen Incubus. Eine Tätowierung? Eine Wunde? Jedenfalls etwas, das Mick hatte verbergen wollen.
Das Heulen von Sirenen näherte sich.
»Jericho?«, fragte Islay. Er hatte sich aufgesetzt, war immer noch blass, doch er zitterte nicht mehr so stark. »Konntest du mithören?«
»Ja. Bis zu dem Zeitpunkt, als der I... der Mörder aufgetaucht ist.«
»Er hat mein Handy zertreten. Allerdings auch nichts mehr gesagt. Jedenfalls nicht bis ...« Islay würgte. »Ich bin umgekippt, als er dieses Ding an Micks Arm gehalten hat. Der Gestank ...«
»Kann ich verstehen.« Jericho sah sich um und entdeckte Islays Handy ein paar Schritte weiter zertreten im Stroh.
»Hast du ihn gesehen? Ihn erkannt?«, fragte Islay.
Gut, er fand zu seinem alten nervigen, dauerfragenden Selbst zurück.
»Hatte einen Motorradhelm auf«, sagte Jericho.
»Ach Mist. Hier drin auch.« Islay warf einen raschen Blick auf Mick und sah noch rascher wieder weg. »Arme Manon.«
Und er wusste noch nicht, dass auch Martin tot war.
Das Sirenengeheul wurde lauter und brach abrupt ab. Islay versuchte, aufzustehen. Jericho streckte ihm die Hand hin und half ihm, legte den Arm um ihn, als er gegen ihn taumelte.
»Ich sage für dich aus«, erklärte Islay. »Ich habe genau gehört, wie Mick den Mord an Terence Campbell gestanden hat.«
»Wir auch«, sagte jemand. Fünf SAW-Agenten in schwarzer Einsatzkluft marschierten in die Scheune. »Manchmal lohnt es sich doch, Handys abzuhören. Jericho March. Schön, Sie hier anzutreffen, da können wir uns die Suche sparen.«
Jericho sah seinen Exkollegen entgegen. Zwei von ihnen kannte er, die kamen von SAW-Fort William. Kollegen von Terry. Dementsprechend wütend und verächtlich betrachteten sie Micks Leiche.
»Diesen Mord könnt ihr mir nicht anhängen«, sagte Jericho gelassen. »Ich habe keine Schusswaffe dabei.«
Als hätte er die Agenten damit auf eine Idee gebracht, befahl eine von ihnen: »Durchsucht ihn!«
Sie zogen Islay von ihm weg. Nicht grob, aber unerbittlich.
Islay hielt seinen Blick fest. Er sah verwirrt und reumütig aus. Hatte er das mit den Handys gewusst?
Selbst wenn ... Hauptsache er lebte. Hauptsache, nicht er lag in seinem Blut auf dem dreckigen Scheunenboden.
Islay hatte sich geirrt, als er Jericho daran erinnert hatte, dass ihm nichts und niemand etwas bedeutete.