19. Ein geheimnisvolles Symbol

Jericho brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Er konnte unbesorgt zu Camp Jericho fahren, dort noch einmal übernachten und am nächsten Tag nach Edinburgh zurückkehren. Die SAW-Agenten hatten ihm nach einem ausführlichen Verhör, das sie als Gespräch bezeichneten, die Auflage erteilt, sich unverzüglich bei SAW-Edinburgh zu melden. Wie Jericho vermutete, für ein weiteres Gespräch, gefolgt von seiner fristlosen Kündigung.

Terrys Mörder war gefasst. Es bestand kein Zweifel daran, dass Mick ihn getötet hatte. Selbst wenn das, was er in der Scheune von sich gegeben hatte, nicht ausgereicht hätte, um die Agenten zu überzeugen, gab es auch noch den Brief und die Mordwaffe. Eine Agentin sah Jericho noch ausreichend als Kollegen an und hatte ihn über den Stand der Ermittlungen informiert. Zwei Agenten hatten nach Jerichos Hinweis bei der Durchsuchung von Micks Versteck im Garten ein Messer gefunden, auf dem sie bereits Blutspuren feststellen konnten. Eine genauere Analyse würde ergeben, dass es sich dabei um Terrys Blut handelte, da war sich Jericho sicher.

Mick dagegen war sich zu sicher gewesen, nicht ertappt zu werden. Sonst hätte er das Messer längst verschwinden lassen. Oder die Stimmen in seinem Kopf hatten ihn zu sehr verwirrt. Eine Sache, auf die sich Jericho noch keinen rechten Reim machen konnte. Möglich, dass der Mord, zu dem man ihn gezwungen hatte, ihn dermaßen aus der Bahn geworfen hatte.

Nach Jerichos Geschmack waren die SAW-Agenten zu leicht zufriedenzustellen. Sie hatten zwar behauptet, nach Micks Auftraggebern zu forschen, doch das hatte sich so mau angehört, dass Jericho ernsthaft daran zweifelte. Auch die Fahndung nach Micks Mörder war bisher erfolglos geblieben. Der flüchtige Incubus schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Jericho ging davon aus, dass es sich um einen von Micks Auftraggebern handelte. Mit dem Tod von Martin hatten sie ihr Druckmittel gegenüber Mick verloren. Er war unzuverlässig geworden und musste beseitigt werden. Außerdem war er ihnen nicht mehr von Nutzen, nachdem er es versemmelt hatte, den Verdacht weiter auf Jericho zu lenken.

Immerhin dieser Verdacht war vollständig ausgeräumt, das hatten die SAW-Agenten Jericho versichert. Zu einer Entschuldigung hatten sie sich nicht hinreißen lassen. Wäre ja auch zu viel verlangt. Dennoch bereitete Jericho sich mental auf weitere lästige Gespräche bei SAW-Edinburgh vor. Mit Hangman. Er freute sich nicht gerade darauf.

Eine Nacht in der vermeintlichen Freiheit seines Camps wollte er noch genießen. Es gab einiges, über das er nachdenken musste. Unter anderem, was es bedeutete, dass er Islays Wohl über seine Rache gestellt hatte. Und was es mit dem Schatten des Todes auf sich hatte, der angeblich über Islay schwebte. Wenn sein Leben von einem Trank abhing, den es nicht mehr gab - warum war er dann nicht längst tot?

Seine Indian stand noch da, wo er sie zuletzt abgestellt hatte. Jericho parkte daneben. Islay würde es schon schaffen, sie abzuholen. Auch ohne Jerichos Hilfe. Denn Jericho hatte nicht vor, sich vor seiner Abreise von Islay zu verabschieden. Besser, sie sahen sich so schnell nicht wieder.

Diese Hoffnung verflüchtigte sich rasch. Jericho stellte nicht nur fest, dass sein Zelt stand, und zwar ordentlicher aufgebaut, als er es hinbekommen hatte, sondern dass eine bekannte Person davor auf der Isomatte saß und in aller Seelenruhe ein Bier trank.

»Haben sie dich laufenlassen?«, fragte Islay und sah zu ihm hoch. Jericho hatte sein freches Grinsen vermisst.

»Nur kurz. Morgen muss ich mich bei SAW-Edinburgh melden.« Er setzte sich neben Islay, der ihm eine Bierdose reichte.

»Hoffentlich, um zu kündigen. Bei dem Verein willst du doch wohl nicht bleiben.«

»Mal sehen.« Die Entscheidung würde SAW ihm abnehmen und ihn rauswerfen. War wohl wirklich überfällig. Es war zu viel passiert, als dass er noch für SAW hätte arbeiten wollen. Er musste einen anderen Weg finden. Einen, der besser zu ihm passte. So wie Terry es ihm schon lange gepredigt hatte. Schade, dass der seinen Rausschmiss nicht mehr mit ihm feiern konnte.

Jericho sah Islay forschend an. »Alles klar bei dir?«

Feine Röte stieg Islay in die Wangen. Er mied Jerichos Blick. »Die Luft in der Scheune war so schlecht. Sonst wäre ich nicht umgekippt.« Umständlich fummelte er einen Zettel aus der Jackentasche. »Ich hab was für dich. Weiß nicht, ob du was damit anfangen kannst. Ich werde jedenfalls auch recherchieren, was das bedeuten könnte.«

Jericho faltete den Zettel auseinander. Darauf befand sich die säuberliche Zeichnung eines Symbols. Das Yin und Yang Zeichen, umrahmt von stilisierten Schwertern. Jericho wusste, was das bedeutete. Dazu brauchte er nicht zu recherchieren. »Woher hast du das?«, fragte er scharf, obwohl er es sich denken konnte. Nun ergab einiges Sinn.

»Das war auf Micks Arm tätowiert. Ich habe es schon bei unserer kleinen Meinungsverschiedenheit bemerkt. Er war sehr bedacht darauf, es gleich wieder mit dem Verband zu bedecken, und ich habe mir nichts weiter dabei gedacht. Hab angenommen, das wäre eine neue Tätowierung, die noch abheilt und sich entzündet hat oder so. Die sah nämlich frisch aus und hat auch rötlich geglänzt. Aber jetzt denke ich, dass sie wichtig war. Sonst hätte sein Mörder sie kaum ausgebrannt, oder?« Erwartungsvoll sah Islay Jericho an.

»Ich weiß, was das ist«, sagte Jericho. Islay würde es ohnehin herausfinden. »Das ist das Symbol der Assassinengilde.«

Islays Augen glänzten. »Wow! Also gibt es die geheimnisvollen Leute tatsächlich, die Mick mit dem Mord an Terry beauftragt haben? Ich dachte zwischendurch ja, er hätte Wahnvorstellungen. Wegen der Stimmen und so.«

»Stimmen wird er wohl gehört haben. Die waren aber keine Wahnvorstellungen. Diese Art Tätowierung bekommen die sogenannten Schläfer der Gilde verpasst. Es sind keine ausgebildeten Assassinen, sondern arme Schweine, die sich verpflichten, irgendwann einen Auftrag für die Gilde auszuführen. Meist haben sie sich hoch verschuldet oder werden auf andere Weise von der Gilde erpresst.«

»Martin«, sagte Islay.

Jericho nickte. »Und die Schulden auf dem Pub hat die Gilde auch übernommen. Sie brauchten jemanden, der Terry schnell aus dem Verkehr zieht, und haben Mick, der am nächsten dran war, aktiviert.«

»Mit der Tätowierung?«

»Ja. Sie schafft eine magische Verbindung zwischen der Gilde und dem Schläfer. Sie können einfache Befehle erteilen, zum Beispiel ein Bild des Ziels vermitteln.«

»Haben die Assassinen ihm auch befohlen, die Meerjungfrau in deinem Handschuhfach zu deponieren?«

»Vermutlich, aber wohl nicht über die Tätowierung. Komplexe Aufträge sind damit für gewöhnlich nicht zu vermitteln. Aber die Verbindung zu Skye stand ja wieder, nachdem die Tür geschlossen worden war. Ich schätze, sie haben ihn einfach angerufen.«

»Und die Stimmen?«

»Da ist wohl was schiefgelaufen. Kann mir nicht vorstellen, dass es im Interesse der Gilde lag, Mick in den Wahnsinn zu treiben. Manchmal funktionieren diese Tätowierungen nicht richtig. Mick hat Pech gehabt.«

»Er war stinksauer auf die Gilde.« Fröstelnd zog Islay die Schultern hoch. »Sein Bruder ist gestorben, obwohl sie ihm versprochen hatten, ihm zu helfen.«

»Das war sicher auch nicht so geplant. Martin war ihr Druckmittel, mit dem sie Micks Schweigen sichergestellt haben. Er hat keinen anderen Ausweg gesehen, als den Auftrag auszuführen, und wurde danach von Reue geplagt. Das würde zumindest den Brief erklären, den er Manon geschrieben hat.«

Jericho berichtete Islay kurz von dem Brief.

Islay verzog das Gesicht. »Armer Kerl. Nicht, dass ich seine Tat entschuldigen will, aber das war schon übel für ihn. Die Angst vor den Assassinen, die ihn in der Hand hatten, die Sorge um Martin, die Schuldgefühle und dann noch Stimmen in seinem Kopf ...«

Jerichos Mitleid hielt sich in Grenzen. In seinen Augen war Mick ein feiger Mistkerl.

Islay riss sich vom Sonnenuntergang los und sah Jericho an. Einen Moment lang war Jericho einfach nur dankbar dafür, dass diese grünen Augen weiterhin lebendig funkelten.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Islay.

»Herausfinden, wer die Assassinen beauftragt hat, Clara und Terry zu töten.«

»Also gehst du davon aus, dass sie auch hinter Claras Tod stecken?«

»Es gibt noch etwas, was man über die Gilde wissen sollte.« Jericho zögerte nur kurz. »Sie besteht hauptsächlich aus Incubi und Succubi.«

Islay zuckte kaum merklich zusammen. »So ist das also«, sagte er leise. Er senkte den Blick.

»Ich weiß, dass du keiner von denen bist«, sagte Jericho. »Nur über zwei Dinge musst du mich noch aufklären. Was war das mit den Handys und wieso hast du dich mit Mick geprügelt?«

Sichtlich erleichtert sah Islay ihn wieder an. »Die Sache mit den Handys tut mir leid. Ich habe sie aus der Redaktion mitgenommen. Hab nicht darüber nachgedacht, dass mein Vater die Nummer kennt und vor allem habe ich nicht damit gerechnet, dass er diesmal gleich SAW auf mich ansetzt.«

Jericho fürchtete, dass er einen guten Grund dafür gehabt hatte. Doch eins nach dem anderen. »Okay. Und der Streit?«

Islays Ohren färbten sich rot. »Also, das ...« Er holte tief Luft. »Mick hat beleidigendes Zeug über dich gesagt. Dass du zu blöd bist, um Terrys Mörder zu finden und deine besten Zeiten als Dämonenjäger längst vorbei sind, dass du nur noch ein verlebter, alter Knacker bist, der ...«

»Gut, reicht«, unterbrach Jericho ihn. »Aber was geht dich das an?«

»Nichts«, sagte Islay kleinlaut. »Eigentlich. Nur, dass ich das einfach nicht ertragen konnte und auf ihn losgegangen bin. Das war blöd, sehe ich ein.«

»Genauso blöd wie die Tatsache, dass ich auch auf ihn losgegangen bin, weil er dich geschlagen hat.«

Ein zaghaftes Lächeln spielte um Islays Lippen. »Stimmt. Das ging dich auch nichts an.«

Sie sahen sich in die Augen. Jericho streifte Islays Lächeln sacht mit den Lippen. Islay hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, weil er ihn in der Scheune allein gelassen hatte. Er war bei ihm, obwohl er oft genug versucht hatte, ihn von sich zu stoßen. Er saß hier neben ihm und sah ihn mit diesem vertrauensvollen Ausdruck in den Augen an, obwohl Jericho ihm mehr als einmal gesagt hatte, dass er ihn in absehbarer Zeit töten würde.

Er erinnerte sich an Islays Worte: Ich habe dich durchschaut, Jericho March.

Islays schneller Atem kitzelte sein Kinn. Er bemerkte die winzigen Schweißtröpfchen auf Islays schmaler Nase. Sah, wie er die Augen verdrehte. Er konnte ihn gerade noch packen, bevor er zur Seite kippte. »Islay! Hörst du mich?«

»Hm«, machte Islay schwach.

»Hat dein Vater dir einen Trank gegeben?«

Islay hob quälend langsam die Lider. Er lächelte. »Jericho«, flüsterte er. »Du hast Micks Mörder nicht verfolgt. Du bist zu mir gekommen.«

»Versuch, dich zu erinnern! Hat dein Vater dir regelmäßig Medizin gegeben? Irgendein Mittel?«

Islay schloss die Augen. Er sank schwer gegen Jericho. Dann fing sein Körper an zu krampfen. Er zuckte in Jerichos Armen, als wäre er von einem Dämon besessen. Jericho konnte nichts weiter tun, als ihn festzuhalten, bis es vorbei war. Nach einer Ewigkeit, die vermutlich nur wenige Sekunden gedauert hatte, erschlaffte Islay.

Puls schwach. Atmung vorhanden.

Jericho hob ihn hoch und rannte los. Er hatte da etwas Wichtiges mit Islays Vater zu besprechen.