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Estrella und Tijo führten die Gruppe an. Nach reiflicher Überlegung hatte die junge Stute beschlossen, bei ihrem ursprünglichen Plan zu bleiben und die Herde nicht zu trennen, wie Haru es ihr geraten hatte. Das Gras in dieser Gegend schmeckte zwar nicht besonders, aber es stillte ihren Hunger. Außerdem kamen sie gut voran. Die Riesenberge rückten mit jedem Tag näher.

Sie waren nur noch einen Tagesmarsch von der Donnerwesen-Ebene entfernt. Estrella wusste natürlich, dass diese Ebene mit Tijos frühesten Erinnerungen verknüpft war, zu denen auch das weiße Fell des Donnerwesens gehörte, das Harus Gefährte erbeutet hatte.

Haru hatte Tijo diese Jagd beschrieben – wie die gewaltige Herde über die Ebene strömte wie dunkle Wolken am Himmel. Und wie in der Mitte der Herde plötzlich etwas Weißes aufgetaucht war. Im ersten Moment hatten es die Jäger für eine Staubhexe gehalten. Das machte ihnen Angst und sie wichen zurück. Doch Harus Gefährte Atah rannte los und warf den Speer. Die anderen Jäger beobachteten fasziniert, wie Blut spritzte. Das weiße Donnerwesen war also kein Geist, sondern ein Tier aus Fleisch und Blut. Atah war bei der Jagd gestürzt und zu Tode getrampelt worden. Aber es war sein Speer, der den Weißen erlegt hatte, und deshalb gehörte das Fell seiner Frau Haru. Das verlangten die Stammesgesetze.

Tijo sah die Geschichte, die Haru ihm schon in frühester Kindheit erzählt hatte, in leuchtenden Farben vor sich. Auch Estrella kannte sie und konnte es kaum erwarten, diese Donnerherden zu sehen. Aber in ihre Vorfreude mischte sich auch Furcht, denn die Riesenberge jenseits der Ebene schienen immer größer und bedrohlicher zu werden. Ihre zerklüfteten Spitzen sahen aus wie das Maul eines Raubtiers, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen. Hätte sie doch auf die omo-Eule und Harus Geist hören sollen? Estrella hätte die Herde sofort zur Umkehr bewegen können. Sie konnten immer noch den langen Weg nehmen. Sie warf einen Blick auf die Pferde. War es möglich, dass sie trotz des groben Grases noch dünner geworden waren? Sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Die Pferde versammelten sich auf einem Vorsprung oberhalb eines flachen Tals, das sie durchqueren mussten, um die Ebene zu erreichen. Ein kalter Wind kam auf und fuhr durch die dürren Äste der Bäume, unter denen sie Schutz gesucht hatten. Die dichte Wolkendecke riss auf und gab den Blick auf den blauen Himmel frei – so blau wie der Fluss, den sie vor Kurzem durchquert hatten. Ein einzelner Vogel wurde von den Wolkenfetzen eingerahmt. Estrella schaute nach oben und verfolgte seine Flugbahn. Der Vogel nutzte die Aufwinde und segelte mühelos auf die höchste Spitze der Riesenberge zu.

Wenn wir doch nur Vögel wären und einfach hinüberfliegen könnten, dachte Estrella. Dann wären sie in Sicherheit. Außer Reichweite der Menschen und auch sicher vor allem anderen, was ihr Leben als erste wilde Herde in diesem neuen Land gefährdete. Sie mussten diesen sicheren Ort auf der anderen Seite der Berge unbedingt erreichen. Den Ort, an dem das süße Gras wuchs. Plötzlich schlug Estrellas Herz schneller und vor ihrem inneren Auge schimmerte etwas. Das kleine Pferdchen! Das war der Beweis, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

„Diese Tiere, Tijo, die du Donnerwesen nennst. Sie sind groß, nicht wahr?“ Estrella wollte wissen, was sie erwartete.

Tijo nickte. „Sie sind riesig!“

„Wie riesig?“

„Ungefähr so groß wie du, Estrella.“

Estrella versuchte sich ein Tier vorzustellen, das ihre Größe hatte, aber kein Pferd war. „Sind sie so etwas wie Hirsche?“

Tijo wusste nicht, wie er die Tiere beschreiben sollte. Er hatte erst einmal das Gesicht eines Donnerwesens gesehen, als die Jäger des Stammes den Kadaver ins Lager geschleift hatten, um ihn dort zu zerlegen.

„Der Kopf der Donnerwesen ist so groß wie ich“, sagte er schließlich.

„Was?“, schnaubte Estrella und legte die Ohren an. Es war gruselig und wirklich beunruhigend, sich ein solches Tier auch nur vorzustellen.

„Wir müssen aufpassen, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Sie können sehr gefährlich sein, wenn sie erschreckt werden.“

„Das hört sich an, als wären es Monster, Tijo.“

„Auch wir sind Monster, zumindest für alle, die uns bisher noch nicht gesehen haben.“

Zur selben Zeit stand Pego im kühlen Schatten des Unterstands, den die Leute des Häuptlings für ihn errichtet hatten. Sie behandelten ihn gut. Wie einen König. Einen Gott. Die Mitglieder des Stammes näherten sich ihm unterwürfig und zitternd, als respektierten sie dieses merkwürdige Wesen nicht, sondern fürchteten es.

Der Wind drehte und die Morgenbrise brachte einen neuen Geruch mit. Einen vertrauten Geruch. Pego wieherte nervös und begann zu scharren. El Miedo! Die Hunde sprangen auf, denn sie hatten ebenfalls Witterung aufgenommen.

Der Stamm war sofort in Alarmbereitschaft. Die Menschen hatten ein so enges Verhältnis zu ihren Hunden, dass diese nicht einmal bellen mussten, damit ihre Besitzer zu den Speeren griffen. Der Häuptling ging zu Pego und schwang sich auf seinen Rücken. Pego war verunsichert. Für diese Eingeborenen war er ein Gott, aber nicht für die Spanier. Nicht für El Miedo, der um seine Beute gebracht worden war, als Pego sich geweigert hatte, über die Schlucht zu springen, und der dann auch noch von ihm abgeworfen worden war.

Der Häuptling traf El Miedo und seine Männer am Rand einer Weidefläche. Pego sah sich um und war sofort misstrauisch. Die Spanier waren zu Fuß gekommen.

Wie merkwürdig, dachte er. Das einzige Tier, das sie mitgebracht hatten, war das Maultier Jacinto. Pego bleckte die Zähne und wieherte schrill. Der Häuptling streichelte seinen Hals, um ihn zu beruhigen.

Du willst mich beruhigen?, dachte Pego. Das habe ich nicht nötig. Du brauchst das viel dringender, mein Freund. Ich kann dich in zwei Sekunden abwerfen und verschwinden.

In dem Moment, in dem Pego Jacinto entdeckte, der mit einer schweren Kiste und prall gefüllten Satteltaschen beladen war, kannte er den Plan. Das Spiel hatte begonnen. Eine Perlenkette, die aus einer der Satteltaschen heraushing, bestätigte seine Vermutung.

Die Verführung geht los, dachte er. Was jetzt kam, hatte Pego schon oft miterlebt. Die Spanier kamen in ein Dorf und boten Perlen in Farben an, die diese Leute noch nie gesehen hatten. Bunte funkelnde Juwelen, natürlich aus wertlosem Glas, aber dennoch hübsch anzusehen. Aber noch beliebter waren die Stoffe. Sie waren reich bestickt, oft mit Blumen oder Tieren. Die Stämme im Süden mochten besonders die Bilder aus der Bibel, auch wenn sie nicht das Geringste über die Jungfrau Maria oder die Heiligen wussten.

Jetzt standen sich die beiden Gruppen gegenüber und es begannen stumme Verhandlungen. Es war wie eine Pantomime. El Miedo und seine Männer übertrieben jede Geste. Langsam öffneten sie die Kiste und holten noch langsamer die langen Glasperlenketten heraus, die funkelten wie ein bunt glitzernder Wasserfall. Sie verbeugten sich viel und nickten immer wieder mit dem Kopf. Der Häuptling gab sich ungerührt, aber Pego spürte seine Aufregung, denn der Druck seiner Knie verstärkte sich deutlich. Plötzlich merkte Pego, dass er angestarrt wurde. Jacinto. Wieso glotzte ihn das Muli so an?

Sie tun es schon wieder, dachte Jacinto. Pego weiß genau, was die Spanier vorhaben. Das ist klar. Jacinto hatte das auch schon erlebt. Anfangs freuten sich die Eingeborenen über die Perlen und Stoffe – bis die Spanier sie in Gefangenschaft nahmen und versklavten.

Jacinto wusste, dass El Miedo nach dem perfekten Ort suchte, um eine Stadt zu errichten. Nicht irgendeine Stadt, sondern die Hauptstadt dieses neuen Landes. Der Spanier hatte seine Jagd nach Gold noch nicht aufgegeben, aber eine Stadt war in vieler Hinsicht ebenso wertvoll. Eine Stadt würde das Gold anziehen wie ein Magnet Eisenspäne. Wenn er eine Stadt besaß, konnte er sich selbst zum Generalgouverneur machen, der über das Land regierte. Und jede Stadt brauchte eine Straße, die zu ihr führte.

„El camino … camino …“ Wie oft hatte Jacinto diese Worte schon gehört. Und dieser Weg wäre nicht einfach nur ein Zubringer zur Stadt, sondern eine Prachtstraße, die Seine Majestät der König und seine Königin nehmen würden, sobald sie das neue Land besuchten. Doch dafür brauchte El Miedo Arbeiter, die er ebenso zu Sklaven machen würde wie Jacinto.

Du Dummkopf, dachte Jacinto und sah Pego an. Der Häuptling, den du auf deinem Rücken trägst, wird schon bald dieselbe Peitsche spüren wie ich. Und dann tauchten wieder die Worte auf, die ihn verfolgten, seit Yazz entkommen war. Wieso bin ich in dieser Nacht nicht geflohen? Wieso bin ich nicht mit ihr gegangen? Weil er zu viel Angst gehabt hatte. Er war ein Feigling. Nur die Mutigen verdienen ein Wunder.

Der Fährtensucher und ein Offizier hoben die schwere Kiste von Jacintos Packsattel. Die Eingeborenen hatten vorher noch nie einen Spanier gesehen. Hätten sie eine Waffe entdeckt, wären sie geflohen, und El Miedo hätte seine zukünftigen Sklaven verloren.

„Ya habrá tiempo para las mosquetes y las pistolas. Créame. Ahora es el momento para la fe.“ Die Zeit für Musketen und Pistolen wird kommen, doch im Moment ist Vertrauen angesagt.

Vertrauen. Jacinto lachte, als er dieses Wort hörte. El Miedo will, dass seine zukünftigen Sklaven Vertrauen haben. Er wieherte und drehte den Kopf, so weit es das Zaumzeug zuließ. „Vertrauen ist was für Trottel.“ Er stieß einen Maultierschrei aus. „So etwas wie Vertrauen gibt es nicht.“ Aber ein Windstoß zerriss seine Stimme und trieb ihm die Worte zurück in die eigenen langen Ohren. Es ist ohnehin sinnlos, dachte er. Die Eingeborenen verstanden weder die Laute von Maultieren oder Pferden noch die Sprache der Spanier.

Sie waren wild geboren. Was wussten sie schon von Spaniern und Peitschen und ihrer merkwürdigen Welt, in der es Gott, Jungfrauen und Priester gab? Sie würden schon bald Geschirre tragen und zu Kolonnen zusammengekettet werden – menschliche Packtiere für die Lasten der Spanier und ihre Gier nach Gold.