80268.jpg

Noch bevor die Pferde sie sahen, konnten sie sie riechen. Der moschusartige Geruch der Donnerwesen breitete sich über die Ebene aus.

„Sind wir bald da?“, fragte Verdad, der so aufgeregt war, dass er nicht stillstehen konnte.

„Das fragst du nun schon seit dem letzten Vollmond!“, schimpfte Angela gutmütig.

Estrella verzog die Nüstern. Es war eine dunkle feuchte Nacht. Nebel waberte. Dichte Wolken zogen über den Himmel und verbargen die Sterne. Aber die Riesenberge konnte sie trotzdem sehen und sie wirkten jetzt viel näher. Sie war überzeugt, dass sie richtig entschieden hatte. Auf dem langen Weg hätten sie womöglich Flüsse durchqueren müssen, Flüsse mit einer reißenden Strömung. Doch jetzt hatte die Herde neue Energie. Die Pferde schritten freudig aus. Sogar die alten Stuten ließen sich davon anstecken.

„Ich kann die Riesenberge zwar nicht sehen, aber ich fühle sie“, schnaubte Espero. Und tatsächlich waren kühle Winde zu spüren, die aus den Höhen herunterwehten.

„Das erinnert mich an etwas“, begann Arriero mit der ruhigen Stimme zu sprechen, die er immer benutzte, wenn er von seinen Erlebnissen als Kriegspferd in der alten Heimat erzählte. „Wir waren im Norden, in der Sierra del, oh … wie nannten es die Spanier doch gleich … árboles blancos, glaube ich.“

„Ach, du meinst Birken, diese dünnen weißen Bäume“, sagte Corazón.

„Nur, dass nach der Schlacht nichts mehr weiß war. Es war alles rot vom Blut. Wir haben viele Leben verloren. Aber der Feind noch mehr.“ Er schnaubte. „Sie hätten die Berge lieber Sierras del Sangre nennen sollen, die Blutberge.“

Estrella schauderte. Hatte sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Oder würde diese Ebene mit ihrem Blut getränkt werden? Sie wusste, dass die Pferde lieber sterben würden, als sich noch einmal einfangen zu lassen. Sie lief schneller.

Tijo, der ihre Unruhe spürte, beugte sich nach vorn, streichelte ihren Hals und wechselte das Thema. „Dieser Geruch kommt von den Haaren der Donnerwesen. Sie sind lang und dick und riechen sehr stark.“

„Meinst du ihre Mähnen?“, fragte Espero.

Tijo schüttelte den Kopf. „Sie haben keine Mähne. Nicht wie ihr.“

„Keine Mähne?“ Angela schüttelte missbilligend den Kopf. „Wie traurig. Meine Mutter hat immer gesagt, meine Mähne wäre so etwas wie eine Krone. Sie hat sie oft liebevoll geputzt.“

„Ich putze sie jetzt“, murrte Corazón.

„Natürlich, meine Liebe, natürlich.“

„Wenn sie keine Mähne haben, was haben sie dann?“, fragte Cielo und schüttelte seine eigene Mähne, als müsste er diesen Schock verarbeiten.

„Es sieht aus, als wäre ihr ganzes Fell eine Mähne. Es ist ganz zottig und jede Strähne ist so lang.“ Tijo zog einen Pfeil aus seinem Köcher, um die Länge anzuzeigen.

„Bei meinem Widerrist!“, rief Angela aus. „Nicht zu fassen, dass sie über so lange Mähnen nicht ständig stolpern.“

„Sie stolpern nie“, sagte Tijo, während die Gruppe in einem leichten Galopp lief.

„Erinnerst du dich an die Infantin Eleanora, die Tochter von Prinzessin Sofia?“, fragte Angela. „Ihre Zöpfe reichten bis zu den Knöcheln und sie ist ständig darüber gestolpert.“

„Bis sie starb“, fügte Corazón ungerührt hinzu.

„Sie ist gestorben?“, fragte Tijo. „Vom Stolpern über ihre Zöpfe?“

„Oh nein“, sagte Corazón. „Einer hat sich in einem Kutschenrad verfangen. ¡Terminado!“ Gelegentlich schwelgten die beiden Stuten in der Erinnerung an die alten Zeiten am Königshof und fielen dann unbewusst wieder in die Sprache der Spanier zurück.

„Hast du die Kutsche gezogen, Angela?“, fragte Estrella.

„Das haben wir beide“, antwortete Corazón.

„Ihr seht nicht besonders traurig aus“, stellte Estrella fest und drehte den Kopf, um Tijo einen Blick zuzuwerfen.

„Oh, die Infantin Eleanora war ein widerwärtiges Gör. Richtig gemein. Sie hat ihre Sporen von den Dienern spitz schleifen lassen, wenn sie uns geritten hat, und fand es toll, wenn uns das Blut über die Flanken lief.“

„Was?“, stieß Estrella entsetzt hervor. Sie konnte nicht fassen, wie gleichmütig die Stuten von diesen Grausamkeiten berichteten.

„Das stimmt“, sagte Corazón. „Wir waren überglücklich, als sie starb.“

„Aber dann kam es noch schlimmer.“ Angelas Stimme hatte ihren amüsierten Tonfall verloren und ihr Blick wirkte ein wenig abwesend.

„Noch schlimmer?“, fragte Cielo. Die Herde war stehen geblieben und hörte den Stuten zu. „Was war noch schlimmer?“

„Wir wurden verkauft“, berichtete Angela und schloss die Augen, als könnte sie so die bösen Erinnerungen aussperren.

„Verkauft an verschiedene Besitzer. Wir waren getrennt für … wie lange? Fünf Jahre?“, fuhr Corazón fort.

„Eher sechs“, sagte Angela.

Estrella schauderte. Sie und Espero waren nur ein paar Wochen voneinander getrennt gewesen und das hatte fast unerträglich wehgetan. So war das eben, wenn man Teil einer Herde war. Ein Mitglied zu verlieren fühlte sich an, als verlöre man ein Stück von sich selbst.

„Du musst immer übertreiben, Angela. Es waren keine sechs Jahre. Aber es hat sich angefühlt wie zehn. Ich werde niemals den Tag vergessen, an dem wir uns wiedersahen. Ich hatte gerade mein Hengstfohlen abgestillt. Sie haben mir den Kleinen sofort weggenommen, um ihn zu verkaufen. Oh, wie ich mich nach ihm verzehrt habe! Mein Herz war gebrochen und ich dachte schon, ich würde den Rest meines Lebens allein verbringen. Aber dann kam auf der Weide plötzlich eine Stute mit Flecken auf der Nase auf mich zu. Ich hätte diese Flecken überall erkannt. ‚Fea!‘, habe ich gewiehert. Wie ihr alle wisst, hat man Angela wegen der Flecken ‚die Hässliche‘ genannt. Aber für mich war sie nicht hässlich, sondern der schönste Anblick der Welt. Meine Fea war wieder da. Das war ein Trost nach dem Verlust meines Fohlens …“ Sie verstummte. Die Erinnerung an das freudige Wiedersehen mit Angela war immer noch von Trauer überschattet.

Die Pferde schwiegen. Vielleicht dachten sie an all die Trennungen, die sie im Laufe ihres Lebens hatten ertragen müssen. Nur wenige hatten das Glück, wieder mit denen vereint zu werden, die sie liebten. Estrella konnte niemals hoffen, ihre Mutter Perlina wiederzusehen.

Lautes Schnaufen riss sie aus ihren Gedanken.

„Die Donnerwesen setzen sich in Bewegung. Ihr werdet sie gleich sehen“, sagte Tijo und schaute sich aufgeregt um. „Da vorn ist ihr Lagerplatz, vermutlich wächst dort auch gutes Gras – mein Stamm nennt es Donnergras.“

Der Wind drehte und der Geruch der Donnerwesen wurde strenger. Estrella gab das Zeichen zum Weitergehen, aber nur im Schleichschritt. Sie schwang den Kopf einmal in jede Richtung. Die Bedeutung war klar – kein Schnauben, kein Wiehern, kein lautes Atmen. Sie mussten absolut still sein, um die riesigen Tiere nicht aufzuschrecken. Die Pferde konnten sie wegen des dichten Nebels zwar nicht sehen, aber sie mussten ganz in der Nähe sein.

Sie gingen lautlos weiter. Auch die Hengste setzten ihre großen Hufe ganz leise auf. Das vertraute Atmen der Pferde verstummte, als wären sie keine Lebewesen mehr, sondern Geister.

Plötzlich erstarrte Tijo auf Estrellas Rücken. „Nein“, wisperte er.

Obwohl die erste Herde nicht den winzigsten Laut von sich gegeben hatte, waren die Donnerwesen durch irgendetwas aufgeschreckt worden. Die Erde begann zu beben. In einiger Entfernung löste sich der Nebel auf. Dort schien eine neue Bergkette aus dem Boden zu wachsen, doch diese war nur ein paar Hundert Meter entfernt. Die Landschaft veränderte sich vor ihren Augen.

„Ist das ein Erdbeben?“, fragte Bolero panisch.

„Nein! Leise!“, zischte Tijo eindringlich. „Das sind riesige Tiere. Wenn sich ihre Herde in Bewegung setzt, fühlt ihr es in euren Hufen.“

„Was ist das für eine dunkle Staubwolke? Dunkler als die Nacht?“, fragte Estrella.

„Das sind die Donnerwesen. Es ist eine große Herde“, antwortete Tijo.

Jetzt war ein tiefes Grummeln zu hören, aber auch laute Rülpser und Schnaufer.

„Was da knurrt, sind ihre Mägen. Sie verdauen ihr Futter und machen Platz für neues Gras“, erklärte Tijo.

„Neues Gras?“, fragte Grullo begierig und drehte suchend den Kopf von einer Seite zur anderen.

„Du glaubst, dass du viel frisst, Grullo?“ Tijo lächelte. „Einer von diesen Bullen frisst fünf Mal so viel wie du.“

„Und du sagst, die Menschen jagen sie?“, fragte Grullo.

„Ja. Ihr Fleisch ist süßer als das der meisten anderen Tiere und sehr nahrhaft. Was sie nicht essen, wird für den Winter getrocknet. Es füllt den Bauch wie kein anderes Fleisch.“ Tijo verstummte. „Aber nur geschickte und starke Jäger können ein Donnerwesen erlegen. Zwei von ihnen reichen aus, um einen ganzen Stamm den Winter über zu versorgen.“

Estrella warf den Kopf zur Seite, um anzuzeigen, dass sie einen weiten Bogen um die fremden Tiere machen würden. Aber sie überstürzte nichts. Wieder führte sie ihre Herde mit lautlosen Schritten an. Die Pferde folgten ihr ebenso leise. Zum Glück hatten sie ihre Hufeisen schon vor langer Zeit verloren. Estrella war froh, dass neue Nebelschwaden heranzogen und die erste Herde verbargen. Sie war dankbar, dass der Mond kaum zu sehen und so dünn wie eine Strähne ihrer Mähne war und dass Nebel und Dunkelheit ihren Lieblingsstern verschluckt hatten. Hoffentlich konnten sie sich vorbeischleichen – ungesehen, ungehört und so still wie eine Geisterherde in der Nacht.

Pego hatte ein ungutes Gefühl, als er mit dem Häuptling auf dem Rücken dahintrottete. Sie hatten sich den anderen Männern von El Miedo angeschlossen. Jetzt ritten auch sie. Und sie steuerten eine weite Ebene an, auf der einige Späher die Spuren der ersten Herde entdeckt hatten. Pego merkte natürlich, dass El Miedo ihn nicht aus den Augen ließ. Pego war nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Wird er sich an mir rächen, wenn er mich in die Finger bekommt? Eines war jedenfalls sicher. Man würde ihn nicht behandeln wie einen Gott, nicht so, wie es diese Eingeborenen getan hatten. Der Häuptling hatte zwei kräftige Männer verpflichtet, Pego nach jedem Ritt die Muskeln zu massieren. Kletten blieben keine Minute in seinem Schweif oder der Mähne hängen, denn zwei Frauen pflegten sein Fell dreimal am Tag mit Kämmen, die sie aus Knochen gemacht hatten. Außerdem hatte die Frau des Häuptlings die Aufgabe, ihm besonderes Futter zuzubereiten. Am besten schmeckte ein Gericht aus dornigen Pflanzen. Sie schälte sie und zerstampfte das Innenleben zu einer weichen Masse. Der Geschmack war süß und sauer zugleich, und die Speise wurde ihm gereicht wie einem König. Der Häuptling breitete eine große weiße Decke aus. Dann hockte er sich an ein Ende und aß aus einer Schale, während Pego auf der anderen Seite einen Holzeimer mit Kaktusbrei vorgesetzt bekam. Doch damit würde es vorbei sein, wenn der Häuptling ihn gegen die Glasperlen und Musketen von El Miedo eintauschte. Das durfte nicht passieren!

Aber natürlich merkte Pego, wie vernarrt der Häuptling in die Musketen war. Als El Miedo ihnen gezeigt hatte, wie leicht man mit einer Muskete einen Hirsch erlegen konnte, waren die Eingeborenen begeistert gewesen. Das Mondlicht war auf den Lauf der Muskete gefallen und hatte sie zum Glänzen gebracht, passend zum Glänzen in den Augen des Häuptlings. Er wollte diesen Tötungsstock. El Miedo lächelte und hielt ihm eine Muskete hin, machte ihm aber auch klar, dass er sie erst bekommen würde, wenn er ihnen half, den Jungen und die erste Herde zu fangen. Wie von Zauberhand herbeigerufen, tauchte ein Hirsch auf. El Miedo hob seinen Feuerstock, zielte und tötete den Hirsch mit einem Schuss. Seine Männer zerlegten das Tier und gaben den Eingeborenen das ganze Fleisch. Von dem Moment an hatte El Miedo sie in der Hand. Pego wusste, dass die Muskete nur das Lockmittel war. Die Falle würde bald zuschnappen – und dann würden sich die Musketen auf die Eingeborenen richten.

Stunden später atmete Estrella auf. Sie hatte ihre Herde erfolgreich um die Donnerwesen herumgeführt, jetzt gönnten sie sich eine wohlverdiente Rast im Schatten eines großen Baums. Schon nach wenigen Minuten war sie im Stehen eingeschlafen. Yazz stand neben ihr und ließ den Blick wachsam über die Umgebung schweifen. Die anderen entspannten sich auf ihre gewohnte Weise. Grullo legte sich hin und stieß ein wohliges Grunzen aus, als er sich über den Rücken wälzte. Angela und Corazón standen Kopf an Schweif und kraulten einander das Fell.

Hope beobachtete all das von einem dichten Salbeibusch aus. Er war den Pferden um die Donnerwesen herum gefolgt und wusste, dass sie erschöpft waren. Wenn es je einen perfekten Zeitpunkt für einen Angriff gegeben hatte, dann war er jetzt gekommen. Aber er konnte sich nicht an ihnen rächen. Die Seele seines Vaters war verloren. Er konnte nichts tun, um sie zu retten. Und was noch wichtiger war, er wusste jetzt genau, dass er nie von ihr heimgesucht werden würde. Er hatte es satt, sich zu verstecken, der Herde nachzuspionieren. Hope war fest entschlossen, ein Teil davon zu werden, ein Teil von etwas Gutem. Er kam aus dem Busch hervor und machte den ersten Schritt auf die Herde zu. Doch genau in diesem Augenblick hallte ein lauter Knall über die Ebene.

„Ein Schuss!“, brüllte Arriero, der an genügend Schlachten teilgenommen hatte, um das Geräusch zu erkennen.

Hope erstarrte. Die Spanier waren weit hinter ihnen. Zumindest hatte er das angenommen. Konnten sie der Herde unbemerkt gefolgt sein?

„Männer mit Waffen!“ Boleros schrilles Wiehern übertönte ein wildes Donnern, das unmöglich nur von Männern und Pferden kommen konnte. Es war etwas anderes …

Espero warf den Kopf hoch und blähte die Nüstern, um die Gerüche zu sortieren, die der Wind ihm zutrug. „Die Spanier sind nah. Sie jagen die Donnerwesen.“

Jetzt sah Estrella sie. Hunderte Spanier auf Pferden und Maultieren, gefolgt von Eingeborenen zu Fuß, die glaubten, sie wären auf einem Jagdausflug, um sich genügend Fleisch für den ganzen Winter zu beschaffen.

Einen Moment lang konnte Estrella sich nicht bewegen. Schreckliche Worte gingen ihr durch den Kopf: Das ist meine Schuld. Die omo-Eule hatte Recht gehabt. Sie hätte die Herde trennen sollen. Nun war es zu spät.

Doch dann wurde das Donnern der riesigen Tiere ohrenbetäubend. Es fühlte sich an wie ein Erdbeben. Die Pferde schnaubten panisch und sahen Estrella mit weit aufgerissenen Augen an, als erwarteten sie, dass ihre Leitstute ihnen sagte, was sie tun sollten. Aber sie starrte nur die Staubwolke an, die am Horizont aufstieg.

„Sie gehen durch!“, schrie Tijo und sprang auf Estrellas Rücken. Aber der unglaubliche Lärm von über tausend Donnerwesen, die um ihr Leben rannten, verschluckte seine Worte. Wie ein dunkler Strom rasten die gewaltigen Tiere über die Ebene.

Tijo beugte sich nach vorn und schrie Estrella in die Ohren. „Bleib von der Mitte weg. Halte dich am Rand.“ Sie konnten den Schweiß der Tiere riechen. Und den Gestank von Schießpulver.

Waffen!, dachte Espero. Gewehre! Ich dachte, die hätten wir weit hinter uns gelassen.

„Wir müssen uns in zwei Gruppen aufteilen“, wieherte Yazz, doch das hätte sie sich sparen können. In diesem Durcheinander aus Lärm, Angst und Schüssen hörte sie ohnehin keiner. Sie konnte auch kaum etwas sehen, denn die Donnerwesen wirbelten unglaublich viel Staub auf. Selbst das Atmen fiel schwer, mit jedem Atemzug bekam sie mehr Staub als Luft in die Lunge. Sie hörte ein Husten neben sich. Es war Espero. Der arme Espero, dessen Atemwege schon vom Feuer geschädigt und dessen Augen von der Hitze verdunkelt worden waren. Würde er jetzt aufgeben müssen? Yazz hörte, wie der großartige alte Hengst stolperte. Aber er blieb auf den Beinen und keuchte. Das Donnern seiner Hufe klang wie die Trommel einer Marschkapelle und der darunterliegende Takt lautete: Ich schaffe das … Ich schaffe das.

Auch Estrella hörte diesen Hufschlag, der die ganze Herde erfasste. Die finstere Entschlossenheit des alten Hengstes bestärkte die anderen in ihrem Freiheitsdrang. Sie würden sich nicht einfangen lassen. Sollten die Spanier sie doch mit ihren Musketen in Stücke schießen.

Kann das sein?, dachte Estrella. Werden wir schneller? Vielleicht können wir ihnen entkommen.

In der Mitte der Herde bildete sich ein freier Raum. Etwas Helles erschien, kein Staub, sondern ein Donnerwesen, dessen dunkles Fell auszubleichen begann. Anfangs war es hellgelb. Aber dann wurde es weißer und weißer. Erst jetzt wurde Tijo klar, dass er Harus Gegenwart, ihren Geist, schon die ganze Zeit über gespürt hatte, seit sie die Ebene erreicht hatten. Das riesige weiße Tier drehte seinen gewaltigen Kopf. Es sah ihn an. Haru! Sie hatte ein neues Lebewesen für ihren Geist gefunden!

Geh nach Osten,

geh nach Westen.

Männer mit Waffen

werden euch versklaven

und euch lebendig begraben.

Aber es war zu spät. Estrella hörte zwei Worte, die das Getöse übertönten: „¡Adelante! ¡Adelante!“ Es war die Stimme eines Spaniers. Dann sauste etwas durch die Luft. Wie eine zischende Viper flog etwas über ihren und Tijos Kopf. Dann spürte sie den Aufschlag der beiden Lassos. Das um ihren Hals brannte wie Feuer und riss sie im vollen Lauf von den Beinen. Tijo wurde von ihrem Rücken gezerrt und eingeholt wie ein Fisch an der Angel.

Von ihrem Geistertier aus sah Haru entsetzt zu. Sie merkte natürlich, dass das Donnerwesen am Ende seiner Kräfte war. Sie hatte versucht, ihm mehr abzuverlangen, als es zu geben vermochte. Eigentlich konnte ein Geist im Körper eines anderen Wesens nur zusehen, was geschah. Einzugreifen war nicht möglich. In dieser Hinsicht waren Geister machtlos. Aber Haru hatte versucht, die Geschichte zu verändern. Vielleicht musste sie jetzt in die Welt der Geister zurückkehren und für immer dort bleiben.