Alles in allem waren es rund hundert Pferde. Sie wirbelten eine gewaltige Staubwolke auf. Die neuen Pferde, die bei den Spaniern nie ungehindert rennen durften, spürten einen kleinen Funken in sich, aus dem schnell eine Flamme wurde – das Feuer der Freiheit. Sie galoppierten schneller als je zuvor und die neu gefundene Freiheit ließ ihre Herzen höher schlagen. Beim Rennen lösten sich Hufeisen und flogen davon. Sättel hingen an der Seite, etliche fielen einfach herunter. Bei vielen Pferden war das Zaumzeug über ein Ohr gerutscht und die Zügel schleiften am Boden. Jedes Mal wenn ein Hufeisen weggeschleudert wurde oder ein Sattelgurt riss, wieherten die Pferde vor Freude. Sie würden nie wieder jemandem gehören. Nie wieder geschlagen werden. Nie wieder schuften, um die Gier der Spanier zu befriedigen. Die Pferde rasten so schnell durch das neue Land, dass ihre Hufe den Boden förmlich verschlangen. Durch ihre Adern strömte das Fieber der Freiheit.
In einer merkwürdigen Vertiefung legten sie eine Verschnaufpause ein. Hier schoss Dampf aus Öffnungen im Boden. Bei jedem dieser Ausbrüche gab es ein Zischen, gefolgt von einer federweißen Dampfwolke, die in den Himmel aufstieg. Die Wolke blieb stehen, bis der Wind sie so weit verteilte, dass die Überreste aussahen wie die Fäden eines riesigen Spinnennetzes. Die schwitzenden und schwer atmenden Pferde bestaunten diesen scheinbar magischen Ort.
Espero trabte auf Estrella und Tijo zu. „Ich kann es nicht fassen. Ihr seid hier! Ihr seid ihnen entkommen!“, wieherte er voller Freude.
Tijo beugte sich zu ihm herüber und drückte seine Wange an den Kopf des alten Hengstes. Espero spürte etwas Nasses. Das sind also Tränen, dachte er. Pferde konnten nicht weinen, auch nicht, wenn ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten. Einen Moment lang wünschte sich Espero, weinen zu können, um den Emotionen Ausdruck zu verleihen, die sein Herz so leicht machten.
Er fuhr mit der Nase an Tijos Bein hinunter zu Estrellas Flanken und zuckte zurück. Der Geruch des Ledersattels war ihm zuwider.
„Kein Problem“, sagte Tijo und sprang ab. „Ich befreie sie von dem Zeug.“
Er öffnete den Sattelgurt und ließ den Sattel auf den Boden fallen. Dann streifte er ihr das Zaumzeug vom Kopf und schleuderte es so weit weg, wie er konnte.
Estrella schüttelte sich heftig, als könnte sie so den Geschmack des widerlichen Metallgebisses loswerden. Dann sah sie sich um und staunte nicht schlecht.
„Wir sind jetzt so viele“, stellte sie verblüfft, aber auch ein wenig besorgt fest. Diese neu befreiten Pferde wussten nicht, was es bedeutete, wild zu sein. Jemand musste es ihnen beibringen, sie anleiten. Aber konnte sie ihre Anführerin sein? Als sich ihre Herde das letzte Mal auf sie verlassen hatte, war alles schiefgegangen.
Außerdem bekam sie das Bild des gestürzten Pego nicht aus dem Kopf. Ein wahres Gefühlschaos tobte in ihr. So lange sie sich erinnern konnte, hatte sie immer nur Verachtung für den schwarzen Hengst empfunden. War er absichtlich in die Schusslinie der Musketen gesprungen? Hatte er wirklich sein eigenes Leben geopfert? Wieso jetzt? Was hatte ihn verändert? Wieder musste sie daran denken, wie das Blut aus seiner schrecklichen Brustwunde geströmt war. Sein Blick hatte etwas Merkwürdiges ausgedrückt, kurz bevor er starb. Es war nicht das stolze Glänzen gewesen, das sie so oft in seinen Augen gesehen hatte. Auch keine Angst. Eher eine Art Erleichterung. Und vielleicht sogar eine gewisse Freude – als wäre er dem Tod freudig entgegengetreten. Es kam ihr vor, als hätte er sagen wollen: Ich bin erledigt, aber du musst leben. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der stolze Pego in diesem Moment zum ersten Mal in seinem Leben etwas bewiesen hatte – wahren Heldenmut.
„Wir sind frei“, sagte Abelinda zaghaft. Sie schüttelte fasziniert den Kopf, denn sie trug jetzt keine Trense mehr. Dann sah sie sich nach hinten um, betrachtete ihr schweißverkrustetes hellbraunes Fell und konnte es nicht fassen. „Ich habe nichts mehr an! Keinen Sattel! Keine Trense und nur noch ein einziges Hufeisen!“ Sie begann, ausgelassen zu bocken.
„Aber ich trage immer noch mein Geschirr, auch wenn ich nicht mehr mit den anderen zusammengebunden bin.“ Mikki drehte den Kopf von einer Seite zur anderen.
„Das haben wir gleich“, sagte Tijo. Er hatte immer noch das Messer des Spaniers in der Hand und fing an, damit an einem Riemen herumzusäbeln.
Yazz kam angetrabt und versetzte Tijo einen liebevollen Stoß mit ihrer langen Nase.
„Wer bist du?“ Mikki schaute zu der alten Maultierstute auf.
„Ich bin auch ein Muli und habe früher ein Joch getragen. Aber ich bin gegangen, bevor du geboren wurdest.“
„Ich erinnere mich gut an dich“, sagte Abelinda. „Ich konnte nie wirklich verstehen, wieso du weggelaufen bist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber jetzt glaube ich, dass du in jener Nacht die ersten Saatkörner gesät hast, und sieh uns jetzt an.“ Sie warf Jacinto einen Blick zu und musste wieder an seine Worte denken. „Freiheit kann einem nicht gegeben werden. Man muss sie sich nehmen. Und dann hat uns Jacinto den Weg gezeigt. Wir haben uns unsere Freiheit genommen!“
Mikki warf freudig den Kopf hoch und begann zwischen den Dampfwolken herumzutoben. Sie bockte, stieg und bockte noch einmal. „Ist das toll! Ich bin so froh!“ Sie wieherte wild und ihr Freudenschrei wurde von den Dampfwolken in den Himmel getragen.
Tijo war inzwischen bei einem Junghengst und streifte ihm das Zaumzeug vom Kopf. Dem nächsten Pferd nahm er den Sattel ab. Er erledigte diese Aufgabe mit einem gewissen Ernst. Es war wundervoll, die Tiere von allem zu befreien, was den Spaniern gehörte, und er schnitt wortlos einen Riemen nach dem anderen durch. Am besten gefiel ihm das Geräusch, wenn ein Metallgebiss auf den Boden fiel. Meistens klang es ziemlich dumpf, aber gelegentlich landete eines auf einem Stein, was sich besonders gut anhörte. Er hebelte auch so viele Hufeisen ab, wie er konnte. Einige saßen jedoch zu fest und mussten sich erst beim Marsch durch das Gelände lockern, bevor er sie abnehmen konnte.
Er arbeitete die ganze Nacht und als der Morgen anbrach, wanderten die Schatten der Riesenberge über die Herde hinweg. Sie waren näher an den Bergen, als sie gedacht hatten. Es war höchstens ein halber Tagesmarsch, dann ging es nur noch bergauf, zumindest sah es so aus. Aber die Pferde und Maultiere waren von ihrer neuen Freiheit so begeistert, dass sie nichts schrecken konnte. Alles war besser als Gebiss und Zaumzeug, Joch und Sporen.
„Ich dachte, ich würde vor dem Karren sterben“, sagte ein altes Muli und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Wisst ihr“, sagte ein anderes, „mit einem Joch um den Hals kann man nicht nach oben sehen. Man sieht nie mehr das Blau des Taghimmels oder die Sterne der Nacht. Ich fühle mich, als wäre ich nicht nur in einem neuen Land, sondern in einem ganz neuen Universum.“
Estrella wurde immer nervöser. Sie war frei. Die Nasenbremse war verschwunden, genau wie der Sattel und der ekelhafte Metallgeschmack – all dies war nicht mehr da, aber ob sie es jemals vergessen konnte?
Mittlerweile war die erste Begeisterung verflogen und die befreiten Pferde und Maultiere begannen sich verloren zu fühlen. Sie hatten noch nie ohne menschliche Besitzer gelebt und wussten nicht, was sie tun sollten.
„Espero“, wisperte Estrella. „Müssen wir ihnen beibringen, frei zu sein?“
„Freiheit kann man nicht lehren. Vergiss nicht, dass die meisten noch Hufeisen tragen, die Menschen ihnen unter die Hufe genagelt haben. Es wird eine Weile dauern. Man kann sich Freiheit zwar nehmen, aber Wildheit ist etwas, das sie selbst entdecken müssen. Wenn wir die Riesenberge überwinden, werden sie merken, was es bedeutet.“
„Wir nehmen sie mit?“, fragte Estrella.
„Ja, natürlich“, antwortete Espero und sah sie streng an. „Du wirst sie anführen. Du bist unsere Leitstute. Sie sind jetzt Teil der ersten Herde.“
„Aber Espero, es sind so viele. Ich … ich habe Angst …“
„Angst wovor?“
„Vor den Riesenbergen. Diese gewaltige Herde über die Berge zu führen und … wohin dann? Ich habe zwar eine Vision vom süßen Gras, aber was, wenn …“
„Estrella, genau aus diesem Grund musst du diese Pferde und Maultiere in ihr neues Leben führen. Weil du die Vision hast.“
Ob das ausreicht?, fragte sich Estrella. Sie hatte schon einmal einen schrecklichen Fehler gemacht und den Rat der omo-Eule, die Herde aufzuteilen, ignoriert. Sie war ungeduldig gewesen und hatte in ihrem Übereifer das Leben der ersten Herde aufs Spiel gesetzt.
Wo war das kleine Pferdchen? Das funkelnde Wesen war so unerwartet im Stall aufgetaucht und hatte über dem Klumpen wertlosen Katzengolds geschwebt. Es hatte sie angesehen und schien etwas sagen zu wollen. Fürchte dich nicht … fürchte dich nicht, glaubte Estrella gehört zu haben. Doch jetzt fürchtete sie sich. Sie war frei, aber sie hatte Angst. Wo war das kleine Pferd und wo war Hope? Der Kojote, von dem Tijo sagte, dass der Geist von Haru in ihm wohnte? Sie brauchte diese guten Geister. Sie musste die Anführerin sein, aber wer führte sie? Sie hatte sich inmitten von hundert Pferden noch nie so einsam gefühlt.
Doch plötzlich drang ihr der vertraute Geruch in die Nüstern, obwohl sie von der grässlichen Nasenbremse noch ganz wund waren. Es war das süße Gras. Endlich konnte sie es wieder riechen. Es überdeckte den Gestank der Ledersättel, die einige Pferde immer noch auf demRücken trugen. Es ließ den üblen Metallgeschmack verschwinden. Das war ihr Schicksal und es lag auf der anderen Seite der Riesenberge. Es war genau so, wie Esperogesagt hatte – sie war diejenige, die alle über die Bergkette führen musste.
„Tijo“, sagte sie, „wir können erst aufbrechen, wenn jeder Sattel, jedes Zaumzeug, jedes Joch und jedes Gebiss entfernt ist. Erst dann werden sie erkennen, was Freiheit bedeutet.“ Sie warf einen Blick auf einige Maultiere, die beieinanderstanden, das Joch schräg auf den Schultern. „Befrei die Mulis zuerst!“
Hope war ziemlich erledigt. Ohne den Kojoten war Haru nur ein Geist und nicht in der Lage, ihre irdische Arbeit zu vollenden. Sie verstand nicht wirklich, was es mit dem kleinen Pferdchen auf sich hatte. Es schien aufzutauchen und wieder zu verblassen wie die Sterne. Eines war Haru jedoch klar, sie durfte nicht länger auf diesem Feld bleiben, auf dem so viele tote Spanier herumlagen – die meisten waren zu Tode getrampelt worden, als die Pferde und Maultiere die Flucht ergriffen hatten.
Haru sah den Tod nicht gern, aber sie war froh, dassdie Eingeborenen das Durcheinander der ausbrechenden Pferde genutzt hatten und entkommen waren. Kein Lebewesen sollte Ketten tragen, vierbeinige ebenso wenig wie zweibeinige.
Da ihr Geistertier so geschwächt war, musste Haru sich vom Wind zum nächsten Tier befördern lassen, falls sie eines fand. Aber der Morgen war fast windstill. Ihr treuer Kojote brauchte dringend Erholung. Er war wirklich ein tapferer kleiner Kerl!
Als sich die Erde erwärmte, stieg warme Luft auf und die erste Brise regte sich. Geduld, Geist, Geduld, befahl sie sich. Ich habe nichts, wofür es sich zu leben lohnt, nur zum Sterben. Es wurde immer heißer und zum ersten Mal an diesem Morgen kam tatsächlich etwas Wind auf.
Hope war in seinem ganzen kurzen Leben noch nie so erschöpft gewesen. Er rollte sich nicht weit entfernt vom toten Pego und der Leiche eines spanischen Offiziers zusammen, der von den durchgehenden Pferden totgetreten worden war. Das war kein idealer Schlafplatz, aber er war verzweifelt. Er musste schlafen, er war todmüde. Nur Schlaf konnte ihn noch retten. Hope verstand nicht, dass nicht er so entkräftet war, sondern das Geistertier. Sobald Haru ein neues Tier fand, würde er wieder munter werden. Aber er war zu müde gewesen, um mit den galoppierenden Pferden mitzuhalten.
Er spürte eine Brise, die ihm durchs Fell fuhr. Ich werde vom Wind heimgesucht, dachte er, als Harus Geist aus ihm heraussprang.
Als er aufwachte, war es bereits früher Nachmittag. Er fühlte sich ausgeruht, aber einsam. Erschrocken stellte er fest, dass ein Geier an den Überresten von Pego herumhackte. Ein zweiter Geier landete und untersuchte den Körper eines toten Spaniers.
Der Geier schaute auf. „Ha!“, krächzte er. „Wusste ich es doch!“
„Was wusstest du?“, fragte Hope.
„Dass du noch nicht tot bist.“ Er drehte den Kopf und sah den anderen Geier an, der seinen blutigen Schnabel hob.
„Ich fand nur, dass der Kojote eher die richtige Größe für dich hat“, erwiderte der andere Geier.
„Du wolltest nur nicht teilen, das war alles.“
„Was teilen? Wieso die richtige Größe?“, fragte Hope verständnislos.
„Zum Fressen“, sagte der Geier und spuckte einen Metallknopf von der Uniform des spanischen Offiziers aus. „Das Lästige bei Menschen ist die Kleidung. Es dauert ewig, bis man einen anständigen Bissen nehmen kann.“
„Also, ich bin kein Mensch und auch nicht tot“, versicherte Hope und zog sich unauffällig zurück.
„Ja, auch das ist ziemlich lästig“, bemerkte der erste Geier.
„Sag uns Bescheid, wenn es so weit ist“, gackerte der andere Geier, der auf Pegos Brustkorb hockte. „Da du keine Kleider trägst, haben wir mit dir viel weniger Arbeit.“ Jetzt gackerten beide Geier wie wild.
Hope konnte nicht schnell genug verschwinden. Er war wieder so stark wie vorher. Die Erschöpfung, die ihn überwältigt hatte, war wie weggeblasen, aber er war auch furchtbar einsam. Er flitzte um die Leichen der Spanier herum. Die Männer waren von den Pferden abgeworfen worden und dann unter die Hufe geraten. Er musste die erste Herde finden. Er brauchte jetzt anständige Wesen um sich herum. Grace, wo war Grace? Oh, was würde er dafür geben, Grace wiederzusehen!