Kapitel 1

Shanes Finger tanzten über die Klaviertasten. Die kühlen, glatten Oberflächen aus Elfenbein erwärmten sich nicht unter seinen flinken Berührungen. Sie blieben tot, auch wenn er ihnen die lebendigsten Töne entlockte.

Shane starrte auf die Halterung für die Notenblätter, auch wenn sie leer war. Er hasste es, ins Publikum zu schauen, und Vincent hatte ihm verboten, auf seine Hände zu sehen, während er spielte. Das wirke amateurhaft.

Liszts Liebestraum No 3. Die Klänge erreichten ihn nicht, aber den Seufzern und dem Murmeln der Gäste nach zu urteilen, war seine Ausführung ausreichend, damit er sich keinen Ärger seitens seines Vaters einhandelte.

Wie üblich stand Vincent auf der linken Seite des Flügels und nickte kaum merklich. Seine Koteletten ergrauten langsam. Eigentlich fiel das kaum auf, weil der ganze Saal trotz seiner Lichter und der Kleider seiner gut betuchten weiblichen Gäste, grau und kühl wirkte.

Wie lange noch, bis das bei ihm auch einsetzte?

Er fühlte sich, als müsse es bald so weit sein.

Die letzten Töne schwebten durch den Raum. Shane ließ die Finger gehorsam auf der Klaviatur, bis auch der letzte Akkord verhallt war. Dann erst erhob er sich und deutete eine Verbeugung an.

Die Gäste applaudierten. Einige hoben ihre Gläser und stießen nochmals auf ihn an. Shane imitierte ein höfliches Lächeln. Sein Vater kam auf ihn zu.

„Die Hendersons sind eben erst eingetroffen, Junge, geh sie begrüßen und vergiss nicht, dich für die Cartier zu bedanken.“ Die breite Hand in seinem Rücken schob ihn so kräftig voran, dass Shane beinahe stolperte, doch er bewahrte seine Haltung und suchte mit seinem Blick nach den Hendersons.

Carls Glatzkopf unter den vielen anderen auszumachen, war schwierig, aber Lisbeth trug wie immer einen dieser albernen Hüte ...

Shane beeilte sich, dem Einflussbereich seines Vaters zu entkommen, und schlängelte sich möglichst elegant zwischen den anderen Gästen hindurch.

„Oh, da ist er ja. Unsere herzlichsten Glückwünsche, junger Mann.“ Carl prostete ihm zu.

„Du ähnelst deinem Vater langsam immer mehr“, bemerkte seine Frau und Shane konnte ein Zucken seines Mundwinkels nicht unterdrücken. Jesus, hoffentlich nicht .

„Ich danke Ihnen. Konnten Sie das Stück genießen?“

„Du spielst ganz hervorragend“, erwiderte Lisbeth und Carl nickte so ruckartig dazu, dass man fast Angst haben musste, sein Kopf würde gleich abbrechen.

„Vielen Dank. Auch für das großzügige Geschenk.“

Er hasste diese Uhren. Er hasste die römischen Ziffernblätter und er hasste die Armbänder dieser Klunker. Dass er nun schon wieder eine geschenkt bekommen hatte, bedeutete, dass er sie auch hin und wieder würde tragen müssen. Spätestens bei ihrem nächsten Besuch.

„Nichts zu danken, mein Junge.“ Carl lächelte und nahm sich einen Käsespieß von einem der Tabletts, die von den Angestellten des Caterings vorbeigetragen wurden.

„Genießen Sie den Abend.“

Er fühlte bei den Worten genauso wenig wie bei den Noten. Alles davon war auswendig gelernt und abgespult. Wann war dieses Puppentheater endlich vorbei?

Shane wandte sich von den beiden ab und ging zurück zum Flügel. Sein Blick glitt uninteressiert durch die Besucherschar. Sein Vater war nirgends mehr zu sehen. Immerhin. Vielleicht konnte er sich dann jetzt wegschleichen und später behaupten, er wäre geschäftig wie eine Biene von Blüte zu Blüte geschwebt und hätte brav die sozialen Kontakte gepflegt.

Dabei war das gar nicht notwendig. Die Leute amüsierten sich scheinbar prächtig. Sie aßen, tranken und lästerten gemeinsam, stellten ihre teuren Roben zur Schau und taten dabei doch meisterlich so, als würde das alles für sie keine Rolle spielen. Allesamt Heuchler.

Die Geschenke auf seinem Gabentisch sahen alle edel aus aber nichts davon hatte eine Seele. Sie spiegelten seine Gäste zu perfekt. Uhren und anderer Schmuck, Geldgeschenke, eine Krawattennadel, ein Füllfederhalterset, Notenblätter.

Shane seufzte und positionierte sich so neben dem Flügel, dass er unbemerkt sein Handy aus der Innentasche des Jacketts ziehen und das Display checken konnte. Keine Nachrichten. Warum auch? War ja nicht so, als verbände ihn und seine Studienkollegen eine dicke Freundschaft. Man sah sich, man grüßte sich, man quatschte ein bisschen, wenn die Vorträge mal wieder besonders langweilig waren, aber das war’s ja im Grunde auch schon wieder. Er brauchte wirklich nicht erwarten, dass ihm jemand eine Sprachnachricht mit schief eingesungenem Happy Birthday schickte.

„Hey.“

Die leise Stimme gehörte zu Vincent, der von irgendwoher aufgetaucht war, während Shane verstohlen auf das Display geschaut hatte.

Die grauen Augen musterten ihn freundlich aber nicht ohne einen Hauch von Tadel. Shane zog eine Grimasse und steckte das Telefon weg.

„Selber hey.“

„Ich hätte da auch noch ein Geschenk für dich.“

„Hast du dich an derselben beschissenen Liste bedient wie die anderen? Scheint nämlich nicht dieselbe zu sein, die ich geschrieben habe.“

„Teure Geschenke gehören zu teuren Feiern, Shy.“

Shy. Eigentlich konnte er diesen Spitznamen nicht leiden. Er war nicht schüchtern ... er konnte nur ziemlich viele andere Menschen einfach nicht ausstehen. Deswegen tat er sich auch schwer, auf sie zuzugehen.

Er gestattete Vincent nur, diesen Namen zu benutzen, weil er hier im Moment sein einziger Verbündeter war. Oder so ähnlich.

Seine Pupillen zuckten hin und her, um zu prüfen, ob jemand zu ihnen herüberschaute.

„Also, was ist es?“

„Nichts, das ich dir hier vor Ort geben könnte. Das würde den anderen Gästen mit Sicherheit die Feier ruinieren.“ Das Lächeln seines Klavierlehrers verriet deutlich mehr als seine Worte.

Shane zuckte mit den Schultern. Warum nicht? Er wollte sich sowieso verziehen und wenn er mit Vincent zusammen den Raum verließ, sah es zumindest nicht ganz so nach einer Flucht aus. Man konnte immer noch annehmen, dass er mit seiner Performance unzufrieden war und ihm direkt eine Predigt halten wollte.

„Na dann ...“, sagte er und hob auffordernd die Brauen.

 

*

 

Shanes Finger krallten sich um die hintere Kante der Kommode. Keuchend drückte er den Rücken durch und genoss den Gedanken an das vulgäre Bild, dass sie beide gerade abgeben mussten. Sein Vater wäre vermutlich spontan tot umgefallen, wenn er gesehen hätte, wie sein Sohn sich von seinem Klavierlehrer rimmen ließ.

Dabei spielten sie schon lange nicht mehr nur auf den Tasten. Es hatte fast wie so eine Art Rollenspiel angefangen ... der faule Klavierschüler, der zur Strafe für seine mangelhaften Leistungen bei seinem Lehrer Wiedergutmachung leisten musste.

Das prickelnde Gefühl zwischen seinen Beinen ließ ihn die Augen schließen und den blöden Geburtstag vergessen. Vincents Zunge bohrte sich unartig tief in ihn hinein, zog sich wieder zurück, leckte seinen Muskelring solange, bis alles ganz feucht war und jeder fremde Atemzug sich kalt auf seiner Haut anfühlte.

Dann öffnete sein Klavierlehrer die Hose. Er hörte es genau. Das Kondom musste er schon parat haben, denn es dauerte keine zwei Sekunden mehr, bis er in ihn eindrang.

Wie ein lauter, schneidender Akkord in seinem Kopf. Shane stöhnte und stemmte sich fest gegen die Stöße, die sogleich folgten.

Der Schrank, auf den er sich stützte, wackelte bei ihren Bewegungen und Shane konnte nur hoffen, dass das Ganze nicht wirklich so laut war, wie es sich für ihn anhörte. Seinen Vater im Geiste zu schockieren, war eine Sache ... es wirklich zu tun, eine ganz andere.

Vincent schlug ihn mit der flachen Hand auf den Hintern, dass es klatschte. Gleichzeitig kam er nie aus dem Takt. Er spielte ihn wie ein Instrument. Keine Fehler, keine Abweichungen.

„Gut, gut“, stöhnte er hinter ihm. Lobte ihn, als wäre das hier tatsächlich eine Unterrichtsstunde. Shane hatte sich daran gewöhnt. Anfangs hatte er es albern gefunden, inzwischen war es ihm egal. Was zählte, war, dass es sich geil anfühlte.

Die Hand in seinem Nacken drückte ihn tiefer herunter. Die Kante des Schranks schnitt bei jedem Stoß in sein Becken. Shane bettete die Stirn auf seine Handgelenke und presste die Zähne aufeinander.

Die Kommode knarrte, als Vincent einen Fuß neben ihn auf die Oberfläche stellte und mit umso mehr Kraft zustieß. Shane unterdrückte einen Schrei.

„Genau so, Shy. Genau so“, raunte Vincent in sein Ohr. Jede Bewegung war von einem Brennen begleitet, das langsam immer schlimmer wurde, aber genauso wuchs auch seine eigene Lust. Es war ein ewiger Kampf, der erst endete, als Vincent sich wie immer kurz vorm Ende aus ihm herauszog, das Kondom entfernte, und auf ihn abspritzte.

Das war das Zeichen für ihn, dass er seinen Halt aufgeben und selbst Hand an sich anlegen konnte. Ein paar hastige Auf- und Ab-Bewegungen und schon kam er auch. Die milchigweißen Tropfen benetzten das dunkle Holz und Shane betrachtete sie erschöpft.

Seine Beine zitterten.

Vincent säuberte mit einem Taschentuch seinen Rücken und zupfte das Hemd, das er kurz vor seinem Höhepunkt nach oben geschoben hatte, wieder in die richtige Form, während Shane noch damit zu tun hatte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen.

„Und, war mein Geschenk gut?“ Der Reißverschluss surrte. Sie waren fertig.

Shane schnaufte und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er fand es albern, nach dem Sex eine Bewertung einzufordern, aber er kannte das von Vincent. „Besser als die bescheuerte Uhr.“ Vorsichtig richtete er sich auf. Vincent reichte ihm ein Taschentuch, mit dem er seine eigenen Spuren von der Kommode wischte und es dann in den Papierkorb warf.

„Lass uns zurückgehen.“

Shane verzog das Gesicht zu einem mechanischen Grinsen und beeilte sich, seine Shorts und die Anzughose wieder hochzuziehen. Unwirsch stopfte er das Hemd in den Bund und schloss den Gürtel. Das Jackett lag schwerer als vorher auf seinen Schultern, als er es wieder überzog und sie gemeinsam den Raum verließen.

 

*

 

Nach ihrem Nümmerchen wurde der Tag nur noch anstrengender. Vielleicht wurde er wirklich langsam alt. Sein Hintern tat weh und seine Knie wollten nicht wieder ihre normale Konsistenz erreichen. Dafür fühlte sich sein Kopf angenehm taub an.

Shane ertrug die sinnlosen Unterhaltungen, in die man ihn verwickelte, kostete von den erlesenen Häppchen, die einfach nur nach nichts schmeckten, und schwenkte sein Weinglas mal hierhin und mal dorthin, bis er endlich Verabschiedungen aussprechen durfte.

Die Wohnung leerte sich, die langstieligen Festtagskerzen brannten herunter, die Gläser wurden nicht mehr nachgefüllt.

„Die Feier lief außerordentlich gut“, sagte sein Vater und klatschte in die Hände. Ein Geräusch, bei dem Shane unwillkürlich an Vincents Hiebe auf seinen Po denken musste. „Ich habe viele lobende Worte über dich gehört und die eine oder andere Tochter hat mich ausführlicher nach dir befragt, als du vorhin verschwunden warst ...“

„Welche Töchter haben sich denn für mich interessiert?“, fragte Shane schnell. Er hatte festgestellt, dass es meistens reichte, ein wenig eigenes Interesse vorzutäuschen, um seinen Vater zufriedenzustellen. Ich werde dich nicht verkuppeln, weil ich der Meinung bin, dass ein guter Geschäftsmann die Frau an seiner Seite selbst auswählen muss. Das war der vielleicht angenehmste Satz, den sein Vater jemals zu ihm gesagt hatte.

Der Aufzählung der Namen lauschte Shane dann allerdings nur noch mit einem halben Ohr. Irgendwie war er verdammt müde.

„Ich hole mir einen Kaffee, wenn es dir nichts ausmacht, Vater“, murmelte er, als der Redeschwall abriss und ging auch schon Richtung Küche. Er kam mit seiner Flucht durch – sein Vater folgte ihm nicht.

Kaum, dass er durch die unscheinbare Tür geschlüpft war, umhüllte ihn schon der Essiggeruch. Clara schwor auf dieses Zeug, wenn es ums Saubermachen ging. Als Kind hatte er die Nase über den scharfen Geruch gerümpft, aber inzwischen roch es irgendwie ein bisschen nach Zuhause.

Die Köchin hob den Kopf, während sie weiterputzte. „Geburtstagskind!“

„Lieblingsnanny“, erwiderte er. Seine Begrüßung vertiefte Claras Lächeln und sie schien die Oberfläche, die sie gerade bearbeitete, mit noch etwas mehr Inbrunst zu polieren.

„In deinem Alter braucht man kein Kindermädchen mehr.“

„Du bleibst es trotzdem.“ Shane schlenderte zur Kaffeemaschine und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank darüber.

„Wie war deine Feier? Hat das Essen geschmeckt?“

„Großartig“, murmelte er, drückte den Knopf und sah dabei zu, wie die Flüssigkeit aus dem Hahn schoss.

„Fühlst du dich nicht gut? Soll ich noch einen Topf Suppe aufsetzen?“

Shane warf ihr einen Blick zu. „Auch wenn deine Kochfertigkeiten ausgezeichnet sind, können sie nicht alle Probleme lösen, liebe Clara.“

„Das wage ich zu bezweifeln“, sagte sie mit einem Zwinkern, warf den Lappen in ihren Eimer und kam nun näher zu ihm.

Clara war über fünfzig, ging aber stets mit einer Energie ans Werk, die selbst ihn manchmal einschüchterte. Vielleicht war sie in all den Jahren irgendwann auf ein Rezept für einen Verjüngungstrank gestoßen, das sie jetzt vor allen geheim hielt. Ihre Haare glänzten in einem kräftigen Kastanienbraun, und die Fältchen um Augen und Mundwinkel wirkten wie Zierde, nicht wie Alterserscheinungen.

„Ich weiß ja selbst nicht so richtig, was das Problem ist. Vielleicht bin ich einfach nur erschöpft. Von der Uni, von den Formalitäten, von meinem Vater, ...“

Die Maschine gab ein Gurgeln von sich – das Zeichen, dass sie fertig war. Shane zog die Tasse darunter hervor und setzte sie an seine Lippen.

„Vielleicht brauchst du etwas Erholung. Urlaub. Du hast sehr viele Pflichten, das kann auch einen jungen Menschen belasten.“

Urlaub, ja. Aber wie nahm man sich denn Urlaub von seinem eigenen Vater? Die kleinen Pillen-Trips, die er sich ab und zu organisierte waren schon das, was er am ehesten als Erholungspause bezeichnen konnte. Aber der Alltag kam doch immer zu schnell zurück.

„Guter Ratschlag, Tante Clara. Ich werde welchen einreichen.“

„Ach, du“, sagte sie und bückte sich nach einer der unteren Schranktüren. „Ich habe eine Kleinigkeit für dich ... dein Vater wollte nicht, dass wir Angestellten dir etwas schenken, aber du wirst es ihm nicht verraten, das weiß ich.“ Sie richtete sich wieder auf und zwinkerte ihm zu.

Ein wenig überrascht musterte Shane das Geschenkpapierknäuel in ihrer Hand. Seine Mimik hellte sich auf. Das erste Geschenk heute, das nicht aussah, als wäre es von Origami-Experten eingepackt worden, sondern von einem normalen Menschen.

Er nahm es ihr ab und neigte den Kopf. „Dankeschön.“

Sie legte ihre Hand an seine Wange. Ein wenig frischer Essiggeruch umschwirrte seine Nase. „Wenn du erst den richtigen Weg gefunden hast, wird dir auch Vieles leichter fallen. Jetzt gerade verändert sich alles. Das legt sich wieder, du wirst sehen.“

Shane nickte und steckte das Geschenk in seine Hosentasche. „Ich verlasse mich drauf, dass das stimmt.“

„Das kannst du.“ Sie lächelte und wandte sich erneut ihren Putzsachen zu.

Kaum dass Shane wieder nach dem Henkel seiner Kaffeetasse gegriffen hatte, flog die Tür auf und sein Vater stand auf der Schwelle.

„Kommst du? Ich wollte dir noch etwas zeigen.“

Shane hob die Brauen, setzte die Tasse aber nicht sofort ab, um etwas Zeit zu gewinnen. Wahrscheinlich wollte er mit ihm gemeinsam nochmal den Gabentisch besichtigen und wissen, ob er jedem Geschenk den Namen des Schenkenden zuordnen konnte, damit er am Ende auch die Dankeskärtchen richtig adressierte ...

Erst als der letzte Tropfen hinuntergespült war, stellte Shane den Becher ab und folgte seinem Vater nach draußen.

 

*

 

Als sich die Wagentür neben ihm schloss, kam Shane ein Gedanke, der nicht zu den anderen passte. Es war die Antwort auf die Frage, die er sich stellte. Wohin fuhren sie? Zur Baustelle. Es kam ihm vor, als hätte ihm eine fremde Stimme diese Worte ins Ohr geflüstert. Vielleicht ein Symptom seiner Müdigkeit.

Aber es stimmte. Shane erkannte die Route, erkannte die Abfolge der Fassaden, draußen vor dem Fenster. Die Kreuzungen, einmal geradeaus, einmal links, einmal rechts.

Sie stiegen aus.

An den Laternen auf dem Vorplatz klebten Protest-Sticker. Er ging daran vorüber, folgte seinem Vater, der zu den Schaufenstern strebte. Noch waren nicht alle Geschäfte leer.

Das Geräusch von Inline-Skates auf Betonboden veranlasste ihn, den Kopf zu drehen. Auf den Parkplätzen drehten zwei Jugendliche ihre Runden. Mit Sturzhelmen und Ellbogenschützern. Die grellen Laternen auf dem Platz hefteten den Jungs meterlange Schatten an. Der eine filmte seine Fahrt mit dem Handy, der andere erzählte ihm irgendetwas. Keiner der beiden bemerkte ihn.

„Shane?“

Hastig setzte er sich wieder in Bewegung und fixierte seinen Vater, der vor den grauen Mauern des Gebäudes stand und mit dem Fuß auf und ab wippte.

„Ich finde, dein Geburtstag ist der passende Anlass, um dir eine erste Führung durch die Räumlichkeiten zu geben. Ein neues Lebensjahr bedeutet einen neuen Abschnitt in deinem Leben. Schon in ein paar Monaten wirst du Juniorchef sein und die Verantwortung für einen eigenen Bereich, ein eigenes Team, tragen. Das ist mein Geschenk an dich.“ Während er sprach, schloss sein Vater die Tür auf und sie betraten nacheinander den Flur des kleinen Gebäudekomplexes.

Momentan war das ganze noch eine Art Mini-Einkaufszentrum – mehrere Geschäfte in einem größeren Gebäude, lose miteinander verbunden. Ein Blumenladen, ein Kiosk, eine Parfümerie, ein Friseur ...

Der Luftzug der straffen Schritte seines Vaters wehte einige Blütenblätter über den Boden. Hier und da lagen ein paar Zigarettenstummel. Noch waren nicht alle alten Geschäfte geschlossen.

„Hörst du mir zu, Junge?“

Shane hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, zog sie aber rasch heraus, als sein Vater stehen blieb und sich zu ihm umdrehte. Jetzt stand er dicht vor ihm, die Arme verschränkt und den strengen Blick auf sein Gesicht gerichtet. Shane konnte nicht anders, als sich schuldig zu fühlen. Wofür auch immer.

„Ja, sicher. Danke, Vater.“

Vielleicht für seine mangelnde Dankbarkeit. Er hätte froh sein müssen über diese Zukunft. Chef sein. Viel Geld verdienen. Die Firma übernehmen. Das waren doch entspannte Aussichten. Nur ein Idiot würde dem widersprechen.

Er war wohl einfach nur zu erschöpft, um gerade einen angemessenen Enthusiasmus an den Tag zu legen. Die Uni stresste ...

„Ich habe mit Professor Jenkins gesprochen. Er hat sich nicht allzu positiv über deine jüngsten Einreichungen geäußert.“

Definitiv schuldig. Er war der Angeklagte und sein Vater der Staatsanwalt.

Shane widerstand dem Drang, die Schultern sinken zu lassen und sich klein zu machen. Jahrelange Übung. Er hob das Kinn und richtete seinen Blick auf einen Punkt am Nasenrücken seines Gegenübers.

„Der Komplex lag mir nicht. Ich bemühe mich, das wieder auszugleichen.“

„Wenn du meinst, irgendwo eine Schwäche zu besitzen, dann darfst du nicht dort aufhören, wo du sie neutralisierst – du musst umso mehr danach streben, eine Stärke daraus zu machen. Damit wirst du unangreifbar.“

Unangreifbar. So wie er?

Jeder Muskel seiner Mimik war steif. Shane war sich nicht mal sicher, ob er gerade lächelte, normal dreinschaute, oder genervt aussah. Letzteres ging natürlich nicht. Auch wenn er sich von seinem Geburtstag etwas anderes als das hier erwartet hatte, durfte er seinem Vater gegenüber nicht respektlos erscheinen.

„Du hast recht“, sagte er. „Ich werde es nicht dabei belassen.“

Es schien das zu sein, was sein Vater hören wollte. Er wandte sich ab und ging langsam weiter. Shane atmete stumm aus und schrumpfte ein Stück.

Er brauchte einen besseren Draht zu seinem Professor. Denn ehrlich gesagt glaubte er nicht, dass er und die Bilanzen jemals noch Freunde werden würden. Im Grunde galt das für den gesamten Studiengang, aber da musste er nun durch. Er hatte es ja bald geschafft. Bald würde alles einfacher werden.

Wenn er wenigstens nur nicht so müde wäre. Der Kaffee verlor seine Wirkung schon wieder. Jesus ... er brauchte dringend mal wieder ein paar von diesen Pillen. Wurde er vielleicht krank? Vielleicht brütete er einen Infekt aus.

Ihr Spaziergang durch die Gänge kam ihm endlos vor. Als würden sie schon seit Wochen in diesem Flur ihre Runden drehen. Er bildete sich ein, seinen Vater weiterreden zu hören, aber als er den Kopf hob, lief er einfach nur stumm vor ihm her.

Shane legte sich die flache Hand auf die Stirn. Fieber schien es nicht zu sein.

Als sie wieder am Ausgang ankamen, hätte seinem Zeitgefühl nach schon der Morgen dämmern müssen, aber der Himmel wirkte unverändert und die Skater waren auch noch da. Als hätte sich nur seine eigene Uhr weitergedreht.

Irgendetwas stimmte nicht.

Seine Finger tasteten in seine Hosentasche und umschlossen Claras Geschenk.