Kapitel 2

Ray stand mitten im Nichts.

Unter seinen Füßen lag die Großstadt. Sonnenlicht blitzte in den gläsernen Fassaden, Autos bewegten sich als winzig kleine Punkte über die langen Linien, die die Straßen bildeten. Ein dünner Nebel lag über allem. Wolken.

Ray hob das Kinn und blickte direkt in die Sonne. Seltsamerweise blendete sie ihn nicht. Er konnte einfach hinsehen, solange er wollte, ohne die Augen zusammenkneifen zu müssen. Ihm war, als müsse er Herzklopfen haben. Das hier war ganz und gar nicht normal – er schwebte über der Stadt!

Aber da war keine Aufregung in ihm, kein Pochen, nicht einmal ... Atem.

Ray runzelte die Stirn und legte sich die eigenen Hände auf die Brust.

Nein, da gab es nichts zu fühlen, nur den Stoff seiner Kleidung. Als Nächstes tastete er nach seinen Haaren. Sie bewegten sich nicht, obwohl er den Wind rauschen hören konnte. Er war gar nicht hier. Oder ... zumindest nahmen Wind und Sonne keine Notiz von ihm. Ihm war nicht warm oder kalt. Kein Gefühl auf seiner Haut.

War das ein Traum? Ein Trip?

Die Gedanken hallten in seinem Kopf wie in einem leeren Raum ohne Erinnerungen, Gefühle und Pläne. Alles war so aufgeräumt, so unberührt, so fern.

Ray ließ die Arme sinken.

Ich bin nicht mehr da.

Er wollte es aussprechen, aber seine Lippen bewegten sich nicht. Er besaß keine Stimme.

Du bist tot, Ray.

Er wandte den Kopf. Da war niemand. Die fremden Worte waren in ihm. Jetzt kam ihm die Ruhe seines Körpers wie eine Fessel vor. Er war tot? Er ...

Warum? Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann doch nicht einfach so verschwinden!

Ray legte sich die Hände aufs Gesicht. Es war so falsch, dass er nichts empfinden konnte. Wo waren seine Tränen? Konnte er nicht einmal traurig oder wütend über diese Nachricht sein?

Alles blieb trocken. Seine Hände zitterten nicht einmal. Es war absurd. Was auch immer noch von ihm da war, sehnte sich nach etwas. Nach einer Reaktion. Aber es gab nichts, das er tun konnte.

Was mache ich noch hier, wenn ich tot bin?

Ray blickte durch seine Finger hindurch zur untergehenden Sonne.

Es gibt eine Aufgabe für dich.

Er wollte an einen Traum glauben, aber sich diesen Gedanken einzuflößen, war genauso unmöglich, wie einen Herzschlag in sich zu finden oder die Wärme seiner eigenen Hände auf der Haut zu fühlen. Etwas in ihm wusste , dass es keiner war, und diese Erkenntnis gruselte ihn genau so sehr wie die Leere, aus der er im Moment bestand. Wenn er gestorben war, dann konnte dieser Tod nicht schlimmer als das hier gewesen sein. Diese Verbannung aller eigenen Regungen ... als wäre seine Seele gelähmt. Er wollte, dass es aufhörte.

Was für eine Aufgabe?

 

*

 

Der erste richtige Atemzug seit einer Ewigkeit schüttelte seinen Körper durch wie ein Erdbeben. Seine Kehle war plötzlich unendlich eng und brannte von der Luft, die hindurchfloss.

Ray stützte sich an einer Backsteinwand ab, beugte sich vornüber und hustete so heftig, dass ihm die Tränen kamen.

Trotzdem fühlte es sich gut an. Verdammt gut sogar.

Endlich gab es überhaupt wieder etwas zu fühlen!

Tot.

So hatte er sich das irgendwie nicht vorgestellt. Ehrlich gesagt hatte er immer geglaubt, nach dem Sterben käme gar nichts mehr. Dass er selbst gar nicht mitbekommen würde, dass es vorbei war. Aber jetzt ...

Er hob den Kopf und schaute nach vorn. Er lehnte an der Wand einer Gasse. Vor ihm lag eine Straße, vollgestopft mit Taxis, Bussen und Kleinwagen. Mopeds schlängelten sich durch den stockenden Verkehr.

Auf dem Gehweg huschten Menschen hin und her. Frauen mit wehenden Tüchern um den Hals, Jugendliche auf Skateboards, Männer mit Zeitung unterm Arm. Hinter der Mülltonne auf der anderen Seite der Straße verschwand gerade eine weiße Katze.

Es roch nach Müll, Abgasen und Urin.

Das Großstadtleben hatte ihn wieder.

Ray atmete tief ein und trat hinaus in die Sonne. Er streckte die Arme von sich, hob das Kinn und spürte ganz bewusst die Wärme auf seinem Gesicht. Das war schön. Das Leben war ...

Moment, irgendetwas war immer noch nicht richtig.

Ray blinzelte und sah sich um.

Die Menschen umströmten ihn wie ein Fluss. Sie gingen nicht an ihm vorbei, sondern durch ihn hindurch . Ein paar Sekunden stand Ray nur da und starrte. Er war unsichtbar. Wie ein Geist.

Er streckte den Arm aus und beobachtete, wie eine Frau mit Aktenkoffer einfach hindurchlief. Wie im Film. Gruselig. Eine Gänsehaut krabbelte seinen Rücken hinab. Aber er war doch da!

Du wirst nur dann bemerkt werden, wenn es für deine Aufgabe relevant ist. Allein dein Schützling wird dich wahrnehmen.

Sein Schützling.

Das klang immer noch ziemlich abgedreht. War er jetzt so eine Art Schutzengel? Wenn es so etwas gab – warum hatte er selbst dann keinen gehabt? Wer war dieser Kerl, dem er beistehen sollte? Ein besonders guter Mensch, der in Gefahr war? Nun, dann war er gespannt, ihn kennenzulernen. Wirklich gute Menschen hatte er nämlich schon zu Lebzeiten kaum getroffen ...

Ray wandte sich nach links und marschierte los. Er brauchte sich nicht zu fragen, wo er suchen sollte. Es war wie vorhin, als er einfach gewusst hatte, was Sache war. Sein Schützling musste hier ganz in der Nähe sein.

Obwohl niemand ihn sehen oder fühlen konnte, passte Ray sich dem Strom der Leute an, so gut es eben ging. Er wartete mit den anderen an den Ampeln, wich Skatern aus und vermied es, in Hundehäufchen zu treten.

Er steckte die Hände in die Bauchtasche seines Sweatshirts und folgte weiter seinem Gefühl. Mit jedem Schritt wurde es stärker und zugleich strömten auch immer mehr Gedanken in seinen Kopf, als hätten sie sich plötzlich daran erinnert, dass es sie jetzt auch wieder gab.

Woran war er überhaupt gestorben?

Trauerte gerade irgendwo jemand um ihn?

Was passierte nach dieser „Aufgabe“ mit ihm?

Auf keine dieser Fragen wusste er eine Antwort. Der Versuch, sich an das Vorher zu erinnern, scheiterte. Als wäre da eine undurchdringliche Wand in seinem Hirn, die Altes und Neues voneinander abschottete. Ihm fielen keine Gesichter ein, keine Namen von Freunden oder Nachbarn, keine Songs, die er gemocht hatte, kein Job, keine Familie, keine Kindheit.

Seine Schritte wurden langsamer.

„Kann ich vielleicht meine Familie sehen, wenn ich ... Pause mache, oder so?“, fragte er leise und sah zum Himmel. Blau und wolkenlos zwischen den Spitzen der Hochhausdächer.

Kümmere dich um deine Aufgabe.

Ray legte die Stirn in Falten. „Werde ich ja, ich meinte zwischendurch. Oder danach.“

Das geht nicht.

Er verzog den Mund und presste die Kiefer aufeinander. Er wollte wütend sein, aber das Gefühl brandete nur schwach auf und brach gleich wieder, wie eine Welle, die nicht genügend Wind im Rücken hatte.

Es gab keinen Abstecher. Nur diese Aufgabe. Dafür war er hier.

Der Gedanke fühlte sich vertraut an. Wie eine warme Art von Bitterkeit. Zwiespältig. Ruhig und aufgeregt zugleich.

Ray lief weiter und zog sich aus seinen Gedanken zurück, weil sie ihn schwindelig machten. Die Aufgabe. Der Schützling. Vielleicht ... führte ihn dieser Weg ja automatisch zu seinen Antworten. Vielleicht kannte er diesen einen, besonderen Menschen ja sogar.

Neben ihm erhob sich eine halbhohe, gelbe Mauer. Dahinter lagen Wege, eine kleine Parkanlage mit einem Denkmal in der Mitte. Auf den Bänken rundherum saßen junge Leute und blätterten in Notizheften, unterhielten sich oder tippten auf ihren Smartphones herum. Auf einer der kleinen Wiese picknickte sogar jemand. Fahrräder lagen im Gras.

Und hinter allem ragte das riesige Gebäude der Universität mit seinen großen Fenstern und den Ziersäulen am Eingang auf.

Hier war er richtig.

Ray schritt durch das Tor und spazierte den Gehweg entlang. Die Stimmen, das Gelächter, die Gerüche ... das schien vertraut. Vielleicht hatte er auch studiert, bevor er gestorben war.

Sein Blick flog über die Gesichter, aber niemand kam ihm bekannt vor. Nur das Gefühl, das wurde stärker.

Mit großen Schritten strebte er auf die Treppen und den Eingangsbereich der Universität zu. In eine der Vorlesungen stürmen wollte er nicht unbedingt. Die von oben hatten ja gesagt, dass die Leute ihn sehen würden, wenn es relevant war ... und woher sollte er ahnen, wann das sein würde?

Also lehnte er sich im Schatten an eine der breiten Säulen und beobachtete die Tür. Sein Schützling musste ja irgendwann rauskommen.

Ray versuchte, jeden Menschen, den die großen Pforten ausspuckten, genauer zu mustern, und suchte in den Blicken der Leute nach Erkenntnis. Doch niemand bemerkte ihn. Noch nicht.

Das Gefühl, das ihn mit seinem Schützling verband, wurde stärker. Er oder sie bewegte sich. Ray fuhr sich durchs Haar. Wie würde das ablaufen? Und ... was sollte er überhaupt sagen? Hallo, ich bin eigentlich tot, wurde aber als Geist wiedererweckt und soll dich nun vor einem drohenden Unheil beschützen? Ach ja, und wahrscheinlich kannst nur du mich sehen, also sprich nicht zu laut?

Okay, das hatte er irgendwie zu wenig durchdacht. Was, wenn sein Gegenüber einfach schreiend die Flucht ergriff? Oder die Polizei rief? Niemand gab sich gerne mit offenkundig Geisteskranken ab.

Sollte er ihn dann einfach ganz normal ansprechen und diese Ich-bin-übrigens-tot-Sache so vorsichtig wie möglich irgendwann später unterbringen? Oder sollte er das gar nicht erwähnen? Aber der andere würde doch merken, dass er nicht wirklich da war.

Himmel, er hatte viel zu wenig Informationen zu diesem Job bekommen!

Mit wildem Herzklopfen stand er da und schaute nach oben, als könnte sich sein Blick durch die steinerne Überdachung bohren und die Oberen mit seinem Vorwurf konfrontieren.

Da!

Das Gefühl für den anderen, der Sensor, überschlug sich. Ray hielt den Atem an und drehte langsam den Kopf. Als er ihn sah, wusste er, dass er es war.

Ein junger Mann, mittelgroß, blonder Kurzhaarschnitt, Klamotten, Tasche und Schuhe sahen aus wie frisch aus dem Laden. Und diese Armbanduhr ... Definitiv ein Rich Kid.

Ray zog die Brauen zusammen. Der Klirren einer Münze hallte durch seinen Kopf. Der Rest ist für dich. Geh mal zum Friseur. Du siehst aus wie eine räudige Katze.

Unwillkürlich fuhr Ray sich durchs Haar.

Das ... war das so eine Art Erinnerung?

Moment, wo war der Kerl hin?

Ray stieß sich von der Säule ab und stolperte die Treppen hinunter. Da vorne. Der blonde Schopf leuchtete ihm ja regelrecht entgegen. Statt eines Rucksackes trug der Kerl eine teure Aktentasche in der Hand, die bei jedem straffen Schritt lässig vor und zurück schwang.

Ray folgte ihm. Etwas langsamer jetzt.

Wie auch immer er sich ihm vorstellen wollte – es war besser, wenn er einen ruhigeren Ort dafür suchte. Und vielleicht half es auch, wenn er erst mal ein bisschen auf Distanz blieb, und beobachtete. Wenn ihn schon der erste Blick so durcheinanderbrachte, konnte er ihm unmöglich erklären, was Sache war. Er wusste es ja selbst nicht mal.