Kapitel 4

Als sie das Foyer verließen, beschlich Ray kurz die Angst, dass die anderen Leute ihn nun vielleicht doch plötzlich wahrnehmen können würden. Wenn die Oberen ihm schon sonst nichts in die Hand gaben, mit dem er Mister Caldon von sich überzeugen konnte, dann musste wenigstens das klappen.

Eilig ging Ray voraus und stellte sich direkt ein paar Fußgängern in den Weg, breitbeinig und die Arme weit ausgestreckt, sodass wirklich kein Zweifel daran bestehen konnte, dass die Leute ihn nicht nur nicht sahen , sondern schlichtweg durch ihn hindurch gingen.

„Geisterhaft genug für dich?“, fragte er, nachdem die erste Welle aus Menschen durch ihn hindurchgeschwappt war wie Wasser durch ein leeres Fischernetz.

Sein Schützling wurde nun doch noch ein wenig blasser, als er ohnehin schon war.

Als keine Antwort kam, zog Ray die Arme wieder ein und fing an, auf dem Gehweg zu tanzen. In bester Michael-Jackson-Manier machte er den Fußweg zu seiner Bühne, bewegte die Hüften, und legte sogar einen ziemlich guten Moonwalk hin. Mit der Melodie von Billy Jean im Ohr vergaß er sogar einen Moment, wo und warum er hier eigentlich war.

„Das ... ich ...“ Das Stottern des anderen unterbrach seine Performance. Vielleicht hätte Thriller besser gepasst. Blondie massierte sich mit beiden Händen die Schläfen und schloss die Augen. „Das ist zu viel.“ Als er sie wieder öffnete, war alle Arroganz aus seiner Mimik gewichen. Jetzt gerade sah er einfach nur erschöpft und überfordert aus und dieses Bild bewegte etwas in ihm.

Ray ging zu ihm herüber. Eben war ihm der Typ noch hart auf die Nerven gegangen ... und jetzt hatte er Mitleid mit ihm. Dabei kannten sie sich ja nicht mal und ehrlich gesagt fand er alles, was er bisher über ihn wusste, eher unsympathisch.

Trotzdem legte er ihm zögerlich die Hand auf die Schulter und klopfte sachte. Letztendlich steckten sie ja zusammen in dieser Sache. „Das wird schon wieder.“

Dass seine Finger ihn tatsächlich berühren konnten, war fast ein Wunder und Ray ließ seine Hand einen Moment dort verharren, spürte einfach nur den Stoff der Kleidung und den Körper darunter. Der einzig echte Beweis dafür, dass er wirklich nicht ganz tot war. Ray musste schlucken.

„Fass mich nicht an!“ Der junge Mann entzog sich ihm hastig. „Du ... kannst nicht ...“ Er beendete den Satz nicht, und schaute ihn auch nicht an. Stattdessen rannte er plötzlich einfach los, rempelte ein paar Leute an, die sich verärgert nach ihm umdrehten, und verschwand in der Menge.

Einen Atemzug lang konnte Ray nur dastehen und ihm hinterherschauen.

Du musst in seiner Nähe bleiben. Die Stadtkulisse schwirrte vor seinen Augen, als würde sie sich langsam auflösen wollen. Ein seltsamer, verzweifelter Drang wuchs in ihm. Er musste bei Shane bleiben. Unter allen Umständen.

Kam das von den Oberen?

Keuchend nahm er die Verfolgung auf. Mit großen Schritten rannte er dem blonden Haarschopf nach, und obwohl er ja wusste, dass die Menschen für ihn im Grunde nur farbiger Nebel waren, der ihn nicht aufhalten würde, fühlte es sich in der Hektik doch seltsam an, so hastig durch sie hindurchzugleiten. Als gäbe es nur sie beide in dieser Stadt. Als wären sie die einzig echten Menschen und alle anderen nur Trugbilder.

Sein Atem rasselte von dem Sprint, aber wenigstens ließ das seltsame Gefühl, alles würde sich auflösen, endlich nach. Und er holte auf. Im Gegensatz zu ihm musste sein Schützling sich durch die Leute hindurchwieseln und konnte nicht einfach stur geradeaus rennen. An der nächsten Ecke holte er ihn ein.

„Warte, Mann! Das bringt doch nichts! Wenn ich dir nicht folge, löse ich mich vielleicht wieder ganz auf. Mir bleibt gar keine Wahl.“

Er blieb genauso überraschend stehen, wie er losgelaufen war. Den Arm an eine Hauswand gestützt und so heftig atmend, als würde er gleich seine Lunge ausspucken. Sein Kopf war ganz rot und in seinem Nacken glitzerte der Schweiß. Allzu sportlich schien sein Schützling nicht zu sein.

„Ich verstehe ja, dass du geschockt bist. Geht mir genauso. Ich hab‘ mir das auch nicht ausgesucht. Ich weiß nicht mal, warum ich selber überhaupt gestorben bin, oder wie lange das her ist. Kann mich an nichts erinnern.“ Genauso wenig wusste er, warum er ihm das erzählte. Vielleicht, weil er hoffte, ihn damit zu beruhigen oder sein Vertrauen zu gewinnen.

„Ich bin krank“, hörte er ihn murmeln. „Zu viel Stress. Mein Vater hat mich wochenlang wegen der Firma unter Druck gesetzt, dann die vielen Prüfungen, der Klavierunterricht, mein Geburtstag ...“

Ray wollte ihn am liebsten schütteln. Zugleich aber auch sich selbst. Natürlich glaubte der Kerl lieber an eine Halluzination. Das wollte er auch. Aber bei ihm sah die Sache noch etwas anders aus. Er bildete sich keine einzelne Person ein, keinen Geist. Für ihn waren alle anderen Geister. Alle bis auf ihn.

Sein Schützling tigerte wieder los, marschierte in Richtung eines Taxis und riss wie selbstverständlich eine der Türen auf. „Zur Klinik.“

Nicht schon wieder.

Die Tür ging auf und wieder zu, bevor Ray dem Wagen überhaupt auch nur nahe genug gekommen war, um mit einzusteigen. Dann fuhr er davon.

„Ich hasse diesen Job“, murmelte er und warf einen Blick nach oben. Wenigstens wurde er nicht direkt wieder mit Schmerzen gequält. Die Oberen schienen einzusehen, dass es nicht so leicht war, ihm auf den Fersen zu bleiben. Aber er musste wohl trotzdem die Verfolgung aufnehmen. Zu Fuß oder mit Bus oder Bahn ... irgendein Verkehrsmittel, in das er sich auch als Geist einschleusen konnte.

Klinik hatte er gesagt.

Ray joggte die Treppen hinunter, die zur U-Bahn-Haltestelle führten. Zu seinen Lebzeiten war er bestimmt auch oft Bahn gefahren. Der Anblick des Gedränges, die Graffitties, das Dröhnen und die Gerüche kamen ihm vertraut vor. Das Gefühl, herumgeschubst und von allen Seiten eingequetscht zu werden, fehlte ihm allerdings nicht.

Er konnte jetzt einfach durch alle hindurchspazieren und sitzen oder stehen, wo er wollte. Nachdenklich warf er einen Blick auf den Fahrplan. Er war einfach in diese Bahn eingestiegen, ohne vorher nachzusehen. Aus einem Gefühl heraus. Ja, er musste definitiv vertraut mit dem Bahnnetz sein.

Ob er sich wohl irgendwann ganz an sein Leben erinnern würde? Wer er gewesen war? Was passiert war? Und ... war es überhaupt schon passiert? Er und sein Schützling mussten sich ja ein Stück in der Zeit zurückbewegt haben, um die Möglichkeit zu haben, seinen Tod zu verhindern. Das hieß, dass er selbst auch noch am Leben sein könnte. Andererseits ... nein, wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich war er schon länger tot. Das machte mehr Sinn. Ansonsten hätte es doch passieren können, dass er während seines Auftrages seinem eigenen Ich über den Weg lief. Das hätte bestimmt für Chaos gesorgt. Kannte man ja aus einschlägigen Filmen.

Ray hielt sich an einer der Stangen fest und ließ sich vom Holpern und Rattern der Bahn ein bisschen herumschütteln. Es fühlte sich gut an. Als wüsste wenigstens die U-Bahn, dass er hier war. Für eine Weile schloss er die Augen und lauschte dem Gemurmel der Leute. Wenn er nicht sah, dass er mitten in ihnen drin stand, ohne sie zu fühlen, dann konnte er sich einbilden, einfach nur eine der leereren Bahnen erwischt zu haben, und deswegen freier stehen zu können.

Egal, wie lange sein Tod letztendlich her sein mochte. Er vermisste das echte Leben.

„Nächste Station: Hussel-Klinikum. Sie haben Anschluss an ...“

Ray öffnete die Augen und sah zu, wie draußen der Bahnsteig auftauchte. Sein Blick flog über die riesigen Werbeplakate, über Snackautomaten und dutzende wartende Menschen.

Die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Dann stiegen Leute aus und Ray schloss sich ihnen an. Hoffentlich war das die richtige Klinik. Vom Gefühl her konnte es stimmen.

Über die Schulter warf er noch einen Blick auf die Bahn, die gerade wieder ihre Türen schloss und zur Weiterfahrt anrollte. Dann stieg er die Treppen hinauf ans Tageslicht.

 

*

 

Ungesehen durch die Flure und Zimmer eines Krankenhauses huschen zu können, war einerseits ganz schön ungewohnt, andererseits auch ziemlich interessant. Was hätte er als Geist nicht alles tun können? Er hätte einen Arzt verfolgen und seinen Arbeitstag nachvollziehen können. Er hätte sich das Hinterzimmer der Apotheke anschauen können oder die Hektik in der Notaufnahme. Er hätte bei Therapiesitzungen zuhören können, oder beim Reha-Sport zuschauen. An diesem einen Ort passierte so vieles zur gleichen Zeit ... Aber Ray konnte keine dieser Gelegenheiten wahrnehmen, denn er war ja wegen seiner Aufgabe hier und die Oberen hätten es bestimmt bestraft, wenn er nun einfach vom Weg abwich.

Also marschierte er durch die Gänge, stets geleitet von dem Gefühl, das ihn an seinen Schützling band. Schließlich landete er in einem der Sprechstundenzimmer und schlüpfte unauffällig mit einer Schwester zusammen hinein.

Natürlich hätte er die Tür auch alleine öffnen können, aber er war sich nicht sicher, wie das für Außenstehende aussah, wenn sich die Tür von selbst bewegte ...

Blondie saß auf einer Liege und der Doktor an seinem PC. Ray schielte ihm über die Schulter und betrachtete die Krankenakte, die in einem Programm geöffnet war.

Shane Abraham Caldon. Blutgruppe AB negativ.

Shane ... Ray runzelte die Stirn.

„Also, Mister Caldon, weswegen sind Sie hier?“

Sein Schützling schaute zu dem Arzt, aber sein Blick zuckte sofort hinüber zu ihm und er wirkte für einen Moment wie versteinert. Es war nicht schwer, seine Gedanken zu lesen: Da war sie wieder, die wandelnde Halluzination. Ray hob die Hand zum Gruß. Ein bisschen tat ihm Blondie zwar leid, aber dann wiederum auch nicht. Er sollte endlich einsehen, dass er vor dieser Sache nicht weglaufen konnte. Konnte er schließlich auch nicht. Nein, im Gegensatz zu ihm hatte Shane eine Chance . Er wurde nicht einfach vor vollendete Tatsachen gestellt.

„I-ich glaube, ich halluziniere. Ich sehe Personen, die nicht da sind. Höre eine Stimme. U-und ich bin ständig müde. Erschöpft.“

„Wie lange geht das schon?“

„Die Müdigkeit, ähm, ungefähr eine Woche. Die Halluzination seit heute.“

Der Arzt stand auf und ging um den Tisch herum. „Sind Sie im Alltag besonderen Stresssituationen ausgesetzt?“

„Ja, schon. Ich bin Student. Ich nehme Klavierunterricht und gehe regelmäßig zum Tennis. Mein Vater hat hohe Erwartungen an mich. Er will mich demnächst in seine Firma einführen.“

„Haben die Belastungen in letzter Zeit zugenommen?“

„Na ja, ich hatte jetzt Geburtstag. Ansonsten ... ist es eigentlich wie immer.“

„Ihr Blutdruck war bei der Messung deutlich erhöht. Wie ist Ihr Schlaf?“

„Eigentlich ... ganz okay. Ich brauche eine Weile, um einzuschlafen, aber dann schlafe ich auch bis zum Morgen durch.“

„Und tagsüber sind Sie trotzdem müde?“

„Na ja ... ja ... irgendwie schon. Nicht so, dass ich dauernd gähne oder mir die Augen zufallen, aber auf eine gewisse Art ... das ist schwer zu erklären. Als ob mich alles irgendwie langweilen würde.“

„Das klingt nach einer depressiven Verstimmung. Nehmen Sie irgendwelche Medikamente ein?“

Shane schüttelte den Kopf.

Dann traf sein Blick ihn. „Ist das normal? Diese Halluzinationen... ich sehe jemanden, der mich verfolgt und mit mir spricht.“

„Ich bin keine Halluzination“, murmelte Ray.

„Ich kann Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel geben und ein paar Tabletten zur Stimmungsaufhellung. Es ist heutzutage leider relativ häufig, dass junge Menschen unter dem Druck solche Symptome entwickeln. Ich rate Ihnen, sich eine Ruhe-Insel aufzubauen. Innerhalb der Familie oder im Freundeskreis. Entspannen Sie sich gemeinsam bei Aktivitäten, die Ihnen leicht fallen und Freude bereiten. Sprechen Sie über das, was Ihnen Druck macht. Das befreit.“

„Ruhe-Insel?“, wiederholte Shane und es klang, als hätte der Doktor ihm etwas völlig Absurdes vorgeschlagen.

„Zum Beispiel ein Ritual am Abend oder Morgen. Meditation, Musikhören, ein gemeinsamer Spaziergang, ein Spiel, ein entspanntes Gespräch, ... irgendetwas in dieser Art.“

Blondie antwortete nicht auf die Aufzählung der Beispiele und knetete seine Hände. „Also wenn ich zur Ruhe komme, hört das auf, ja?“

„Davon ist auszugehen.“

„Gut, dann geben Sie mir die Medis.“

Der Arzt räusperte sich. „Die Medikamente bieten nur eine vorübergehende Linderung der Symptome. Die Ursache müssen Sie mit den Mitteln bekämpfen, die ich Ihnen genannt habe.“

„Ja ja. Ruhe-Insel.“

Obwohl der ältere Mann im weißen Kittel so seine Zweifel zu haben schien, gab er ihm eine Spritze und ein Rezept.

Ray folgte ihm aus dem Untersuchungszimmer und hinüber zum Tresen der Apotheke, wo er das Papier gegen eine Schachtel Pillen eintauschte. Den ganzen Weg über würdigte Shane ihn keines Blickes. Und auch danach nicht, als er wieder Richtung Ausgang marschierte.

„Ich würde ja gehen und dich in Ruhe lassen, wenn ich könnte, Shane. Aber die da oben zwingen mich. Wir müssen deine zweite Chance anpacken, rausfinden, was dazu geführt hat, dass du gestorben bist – und dann Maßnahmen ergreifen, um das zu verhindern.“

Shane blieb kurz stehen. „Wahrscheinlich bin ich an diesem Wahnsinn gestorben. Schreiend aus dem Fenster des Vorlesungssaals gesprungen oder so.“ Er schüttelt den Kopf. „Du bist nicht real. Hör auf, mit mir zu sprechen, wenn du schon der Meinung bist, mich verfolgen zu müssen. Das war jetzt das letzte Mal, dass ich mit dir rede. Mit Halluzinationen zu reden, ist sicher nicht gesund ... und es sieht für andere nachvollziehbarerweise seltsam aus.“

Er wandte sich von ihm ab und lief weiter.

Ray unterdrückte ein Knurren, rang die Hände und setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung. Was sollte er denn noch machen, damit der Kerl glaubte, dass er wirklich da war? Und dass er die Wahrheit sagte? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich das beide nur einbildeten? Konnten die da oben nicht irgendwie eingreifen und dafür sorgen, dass sein Schützling kooperierte?

 

*

 

Hilfe von oben gab es nicht.

Am Ende des Tages fand Ray sich in Shanes Zimmer wieder. Er war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, hatte ihm beim Abendessen zugesehen, beim Zähneputzen und nun ... nun saß er auf dem Sofa, den Kopf auf die Hände gestützt und fragte sich, was das alles eigentlich sollte.

Warum war es nicht umgekehrt? Warum war er in dieser Lage? Warum war Shanes Leben so wichtig, dass er eine zweite Chance bekam? Oder hatte er auch eine bekommen und konnte sich – wie an alles andere – nicht daran erinnern? Was passierte, wenn man scheiterte? Gab es einen dritten Versuch? Einen Vierten?

Hieß das, dass er seinen eigenen versemmelt hatte? War er genauso begriffsstutzig gewesen wie Blondie?

Ray massierte sich die Kopfhaut. Nein, wahrscheinlich bekam nicht jeder eine zweite Chance. Das funktionierte ja schon rein logisch nicht. Jedes Mal, wenn jemand überlebte, der eigentlich gestorben war, änderte sich ja auch für viele andere Menschen deren Realität. Es wäre ein heilloses Chaos, wenn jeder einzelne Mensch so etwas auslösen könnte. Wie viele verschiedene Zeitlinien und Realitäten musste es dann geben? Das sprengte ja jetzt schon fast seinen Kopf.

Mit einem Schnaufen legte er sich der Länge nach auf das Sofa. Wenigstens war es einigermaßen bequem, und die Sitzkissen taugten auch als Unterlage für seinen Kopf. Eine Decke fehlte aber. Wie sollte man ohne das Gefühl des Zugedecktseins einschlafen?

Konnte er als Geist überhaupt schlafen? Oder musste er es?

Schulterzuckend drehte er sich auf die andere Seite und schaute rüber zu dem riesigen Bett, in dem Shane lag. Jedes Möbelstück in diesem Raum sah aus wie ein Kunstwerk. Nicht wie aus einem Werbeprospekt. Es gab zwar keine kitschigen Schnörkel oder Schnitzereien oder Prunk, aber die Formen allein wirkten so erhaben und teuer, dass Ray einfach spürte, dass er sich in einer fremden Sphäre befand.

Klavierunterricht und Tennis. Firma des Vaters.

Am wahrscheinlichsten war wohl, dass man Blondie entführt hatte oder dass er bei einem Unfall starb.

Während Ray sich in Mutmaßungen verlor, regte sich in dem Bett etwas. Shane schien einen unruhigen Schlaf zu haben. Das Bettzeug raschelte. Er warf sich hin und her. Gemurmel und Wimmern brachen die Stille des Raumes.

Zögerlich stand Ray auf und schlich zu ihm hinüber. Er kniete sich vor das Bett. Falls Shane aufwachte, würde er nur vor Panik schreien, wenn er jemanden über sich gebeugt stehen sah, und das wäre nicht mal übertrieben.

Er wusste ja nicht mal, warum er überhaupt vom Sofa aufgestanden war. Irgendwas zog ihn her. Vielleicht war es doch Mitleid, obwohl es eigentlich nicht viel zu bemitleiden gab: Shane war reich und besaß alle Möglichkeiten, die man sich wünschen konnte. Er war am Leben. Man versuchte, ihn zu warnen. Sein einziges Problem war, dass er nicht an Geister glaubte.

Ray beobachtete, wie er das Gesicht verzog. Angstvoll, dann schmerzhaft. Seine Finger krallten sich in den Saum der Decke. Ein Zittern lief durch Shanes Körper. Definitiv Albträume. Ein seltsames Bedürfnis drängte an die Oberfläche. Er wollte ihn anfassen. Shane halten. Diesen fremden Kerl ... Er schüttelte den Kopf.

Aber wenn er ihn weckte ... würde es das besser machen?

Sicher nicht. Die Träume würden vorbeigehen. Die Realität – so seltsam sie nun mal im Moment war – nicht.

Also blieb er, wo er war. Kniete auf dem Boden, auf einem ganz sicher furchtbar teuren Teppich, statt einfach wieder zu seinem Schlafplatz zu gehen und es nochmal zu versuchen.

Seine Fingerspitzen berührten den weichen Untergrund, zeichneten verschlungene Bahnen hinein. Er hätte auch hier schlafen können. Wenn er eine Decke gehabt hätte. Kein Vergleich mit kalten Fliesen, Beton oder abgenutztem Holz, aus dem Nägel herausstanden und wo man sich Haut und Kleidung aufreißen konnte, wenn man nur darauf saß und spielte. Kein guter Ort, um zu schlafen.

Teppiche sind Staubwälder.

Staubwälder. Seltsam. Das Wort hallte in seinem Kopf und entfernte sich mit jedem neuen Echo ein wenig von ihm. Wer hatte das gesagt?

Ray blinzelte, und merkte, dass er halb zusammengerollt auf dem Boden vor dem Bett lag. Es herrschte wieder Ruhe im Raum. Gleichmäßige Atemzüge.

Zumindest eine Frage hatte sich beantwortet: Er konnte schlafen.

Leise stand er auf und schlich zurück zu dem Sofa.