Kapitel 6

Dem reichen Kind war nicht zu helfen.

Er hatte es mit Verständnis versucht, mit Geduld und mit Argumenten. Nichts davon hatte gefruchtet. Mit denen kann man nicht reden. Sie lachen über Leute wie uns.

Was auch immer diesem Shane passiert war – es würde wieder passieren.

Ray steckte beide Hände in die Bauchtasche seines Sweatshirts und spielte mit einem der losen Fäden im Inneren, während er hinter Shane her trottete.

Wohin sie gingen, wusste er nicht. Shane war wieder dazu übergegangen, ihn zu ignorieren. Wahrscheinlich würde es wieder einen Tag dauern, bis er eine neue Chance bekam. Falls er dann nicht schon tot war.

Musste er dabei dann auch zusehen? Und warum schnürte sich bei dem Gedanken seine Kehle so eng zusammen, als ginge es um jemanden, der ihm wirklich wichtig war? Er kannte Shane kaum und im Moment mochte er ihn nicht mal besonders. Er fand ihn hauptsächlich anstrengend. Aber ... da war etwas in ihm, das sie beide verband. Vielleicht diese Schutzengel-Sache? War es normal, dass er ihn manchmal am liebsten umarmen wollte, obwohl er ihn so frustrierten? Das kam ihm irgendwie schizophren vor.

Ray schickte einen Blick nach oben. Er wurde das Gefühl nicht los, dass es den Oberen Spaß machte, ihn zu quälen.

Warum sonst halfen sie ihm nicht, sondern sahen einfach dabei zu, wie er an Shane scheiterte?

Wut und Frustration ließen ihn die Hände ballen.

Er saß hier fest, lebendig genug, um sich zu ärgern, sich zu langweilen und sich den Kopf über seine Vergangenheit zu zermartern, und zu tot, um die Antworten auf seine eigenen Fragen zu finden.

Stattdessen suchte er die Antworten für jemanden, der nur über sie lachen konnte.

Ray öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber im gleichen Moment verschwand Shane hinter der Tür eines Cafés. Blinzelnd blieb Ray stehen und sah ihm durch die Glastür hinterher, ehe er darauf kam, selber nach der Klinke zu greifen.

Vergebens.

Er existierte nicht. Nicht für diese Tür jedenfalls.

Grummelnd sah er sich um. Zum Glück kam gerade noch jemand, der hineinwollte. Hastig schlüpfte Ray durch den Spalt hinein und nahm wieder die Verfolgung auf.

Shane saß in der hintersten Ecke des Raumes, halb verborgen hinter einer großblättrigen Pflanze und einem Regal.

Ray setzte sich zu ihm an den Tisch und musterte dem Umschlag der Karte, die Shane in den Händen hielt.

Essen und Trinken benötigte er scheinbar nicht. Es war ihm gestern beim Abendessen von Shanes Familie aufgefallen. Er konnte die Mahlzeiten zwar riechen, und er hatte Lust, etwas davon zu kauen ... aber sein Magen knurrte nicht und er verspürte keinen Durst, obwohl er nichts getrunken hatte, seit er zu sich gekommen war.

Es war wohl wie mit dem Schlaf – er konnte es tun, aber letztendlich waren das Dinge für Lebende. Nicht für Geister.

Ray faltete die Hände im Schoß und senkte den Blick, während er zuhörte, wie Shane irgendeinen Eisbecher bestellte.

„Ich würde gehen, wenn ich könnte“, sagte er, als die Bedienung fort war. „Oder denkst du, es hat mir Spaß gemacht, dabei zuzusehen, wie du dich von deinem Klavierlehrer vögeln lässt? Die zwingen mich dazu, dir zu folgen. Ich hab das Gefühl, ich verschwinde komplett, wenn ich dir nicht ständig an den Hacken klebe. Als ob sich meine Gedanken von diesem Körper lösen. Schwer zu erklären. Es fühlt sich auf jeden Fall ekelhaft an.“ Es war ihm inzwischen egal, ob Shane antwortete. Er wollte sich nur den Frust von der Seele reden. Seele ... die hatte er scheinbar noch, wenn schon sonst nichts. „Mir bleibt wohl nur, dir dabei zuzusehen, wie du in dein Verderben rennst.“

„Werde ich dann auch ein Geist?“

„Woher soll ich das wissen? Ich habe noch keine anderen Geister getroffen.“

„Ich glaube, ich durchschaue langsam, was mein Unterbewusstsein mir sagen will. Dass ich mein Leben von außen betrachten soll. Ich weiß nur nicht, warum du dann nicht einfach genauso aussiehst wie ich. Oder eine jüngere oder ältere Version von mir.“

Ray stützte beide Ellbogen auf den Tisch und legte die Stirn auf seine Hände.

„Glaub, was du willst.“

„Stattdessen steckt dich mein Hirn in irgendwelche Klamotten aus der Kleidersammlung. Und was sollen diese filzigen schwarzen Haare? Als wärst du von der dunklen Seite der Macht. Schon albern diese ganze Symbolik.“

„Ich bin keine Scheißsymbolik“, knurrte er. Er war sein Geisterhündchen, das artig hinter ihm herlief. Seine Mimik verhärtete sich. Sein Blick richtete sich auf die Kellnerin, die geradewegs auf sie beide zukam – das Tablett mit dem Eisbecher in der Hand.

Wenn er ein Geist war, dann konnte er vielleicht wenigstens ein bisschen spuken!

Er schlug auf die Tischplatte. So fest, dass der Ständer mit der Speisekarte umkippte und der Kerzenhalter einen Hüpfer machte.

Die junge Frau japste erschrocken und griff nach der langstieligen Kerze. Genau wie Shane. Beide sahen sich mit großen Augen an.

„E-Entschuldigung. Das war ich. Ich bin gegen den Tisch gestoßen.“

Sie nickte hastig und lachte. „Ist ja nochmal gut gegangen. Ich bin nur froh, dass mir das Tablett nicht runtergefallen ist.“ Sie stellte den Eisbecher vor ihm ab und schien bereits wieder ihre Ruhe zurückgewonnen zu haben. „Guten Appetit.“

Shanes Finger hingegen zitterten sichtbar, als er nach dem Löffel griff. „Danke!“

Mit starrem Blick schaufelte er eine Portion Schokoladeneis mit Sahne und Schokosoße in sich hinein.

Ray sah ihm dabei zu. Jetzt fühlte er sich ein bisschen besser. Mochte sein, dass die Frau ihn nicht sehen konnte und Shane sein Dasein verneinte ... aber er war da. Er hatte etwas bewegt.

Sie schwiegen eine Weile, während das Kunstwerk aus Eiscreme, Waffeln und Streuseln langsam schrumpfte. Die Stille klang noch genauso wie zuvor, aber sie fühlte sich anders an. Die Blicke, die Shane ihm zuwarf, waren anders.

„Ich werde also sterben“, sagte er nach einer Weile, und es klang weder belustigt noch ungläubig. „Wenn ich nicht diese Dinge erledige, die du mir gesagt hast.“

Ray nickte langsam. „Begegne deinem Vater, finde dich selbst und umarme das Leben.“

Er konnte das ironische Zucken an Shanes Mundwinkel sehen, als er die Aufgaben aussprach. „Genauere Infos gibt es nicht?“

„Vielleicht kommen noch welche. Ich hab das Gefühl, sie enthüllen mir den ganzen Umfang des Auftrags erst nach und nach. Wenn wir ... Fortschritte machen.“

Shane rührte mit dem Löffel am Grund des Eisbechers herum, wo sich inzwischen ein kleiner See aus geschmolzener Eiscreme gesammelt hatte.

„Willst du auch einen?“

„Einen was?“

Er tippte mit dem Zeigefinger gegen das Glas.

Ray hob die Brauen, erwiderte aber nichts.

„Magst du kein Eis?“

„Ähm, doch. Ich glaube schon.“

„Gut. Vermutlich wäre Alkohol besser in unserer Situation, aber ich mag ihn nicht besonders.“ Er winkte der Kellnerin und sie kam den leeren Becher abholen. „Nochmal genau so einen, bitte.“

Sie nickte und verschwand.

„Ich bin nicht sicher, ob ich den einfach so essen kann. Ich meine ... der Löffel wird wahrscheinlich in der Luft schweben und jeder Happen im Nichts verschwinden oder so.“ Er warf einen Blick hinüber zu den anderen Gästen. Zwar schirmte die Pflanze sie ein bisschen ab, aber wer richtig hinsah, würde es bestimmt trotzdem sehen, wenn hier geisterhafte Dinge vorgingen.

„Tja, nun ist er schon bestellt und ich schaffe sicher keinen Zweiten. Auch wenn es wirklich vorzüglich war. Ich dachte, ich kann meine Nerven mit ein bisschen Schokolade beruhigen ... Hat aber nicht gut funktioniert.“

Nach ein paar Minuten kam die junge Frau wieder und servierte Shane die zweite Portion. Sah das Eis jetzt noch besser aus als vorhin, oder bildete er sich das nur ein?

Ray versuchte, sich an den Geschmack von Eiscreme zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Nur wie es sich anhörte, das war ihm im Sinn. Das Knacken der Waffel, das Klicken des Löffels am Glas, das schaumige Geräusch der Sahne ...

„Vielleicht geht es, wenn du ... ist wahrscheinlich eine blöde Idee, aber ... ich könnte mich dicht zu dir setzen und mich an dich anlehnen. Wir nehmen den Löffel beide zusammen in die Hand. Dann sieht es beinahe so aus, als würdest du es essen. Was dann noch an Geisterhaftigkeit übrig bleibt, kann man auf ein Blinzeln schieben.“

Shane runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war ihm sein Vorschlag zu aufwendig, zu kindisch, oder sonst irgendwas. So viel Aufwand für einen Typen in abgewetzten Klamotten und mit verfilzten Haaren ...

„Gut. Dann komm her.“

Ehrlich?

Ray lächelte und rückte zu ihm auf. Beim ersten Mal, als er ihn berührt hatte, war Shane vor ihm abgehauen. Dieses Mal zuckte er zwar, blieb aber, und schaute ihn unentwegt an. Er konnte förmlich sehen, wie die Gedanken in ihm flossen. Wie er langsam immer mehr realisierte, was das alles bedeutete.

„Wir finden schon raus, was die Glückskeks-Botschaft der Oberen bedeutet. Ich kann bestimmt besser denken, wenn ich ein bisschen Schokoladeneis gegessen habe.“

Shane nickte und griff nach dem Löffel. Ray tat es ihm gleich, fasste etwas weiter vorne an, damit er die Führung übernehmen konnte. Ein letzter Blick noch zu den nächstgelegenen Nachbarn, die zum Glück eifrig in ihr Gespräch vertieft waren. Wahrscheinlich hätten sie es gar nicht gemerkt, selbst wenn sie sich dieses Theater hier erspart hätten, aber ... es fühlte sich irgendwie gut an.

Der fremde Körper neben ihm, seine Hand, die denselben Gegenstand hielt. Das war wie eine Brücke zurück ins Leben.

Ray versenkte die Löffelspitze im Eis und achtete darauf, dass sein Kopf nahe bei Shanes war, damit es möglichst echt aussah. Zu nah heran wollte er allerdings auch nicht – er hatte ihn zwar nun schon in einem reichlich intimen Moment gesehen ... oder eher gehört, weil er die meiste Zeit darum bemüht gewesen war, woanders hinzuschauen, aber das war etwas anderes. Das, was an Distanz und Privatsphäre gewahrt bleiben konnte, sollte es besser auch.

Das Schokoladeneis war sehr gut darin, die Bilder von Vincent und Shane aus seinem Kopf verschwinden zu lassen. Es ertränkte alles in einem Nebel aus Kakao, Milch und Zucker. Die Eiscreme schmolz auf seiner Zunge und rief die Geschmackserinnerung wach. Für einen Moment glaubte Ray, dass das die einzige Erinnerung war, die er jemals brauchen konnte. Süß und kalt, cremig und leicht.

Er brauchte mehr, und er nahm sich mehr.

Jeder einzelne Löffel voll war der pure Genuss. So schmeckte Leben. Ein bisschen davon jedenfalls. Shane, seine Aufgabe, sogar sein Tod waren für mehrere Minuten völlig vergessen.

Das hier war echt. Das hier war ... verdammt lecker.

„Wenn ich die Augen zumache, klingt dein Geseufze gerade auch nicht anders, als meine Nummer mit Vince vorhin.“

Ray verschluckte beinahe den Löffel.

„Das hier ist das Beste, das ich seit ... also zumindest seit ich mich erinnern kann, gegessen habe.“

„Erinnerst du dich wirklich an gar nichts?“

Ray aß langsam weiter und bemühte sich ab jetzt, sich nicht so gehen zu lassen. Hatte er wirklich Geräusche dabei gemacht?

„An nichts. Nur an meinen Namen. Manchmal kommen mir Dinge bekannt vor. Orte. Sätze. Aber ich weiß nie, ob es wirklich etwas bedeutet.“

„Und diese Oberen, von denen du redest ... kannst du die sehen? Sind es alte Männer in Kutten, oder Engelsgestalten, oder wie soll ich mir das vorstellen?“

„Nein. Schwierig zu erklären. Es ist, als würden sie mir Gedanken übertragen. Ich sehe sie nicht, ich höre sie nicht, aber ich weiß von einem Moment auf den anderen, was sie wollen.“

„Gruselig.“

Ray nickte.

Wenn sie hier so nebeneinandersaßen, waren sie zwei alte Bekannte, zwei Freunde, aber sicher kein genervter Geist mit seinem zickigen Schützling. Er hatte Shane in den letzten Tagen nicht ein Mal richtig lachen gesehen, aber jetzt tat er es. Er machte Scherze, wirkte für ein paar Minuten kein bisschen erschöpft, sondern wach und interessiert. Für eine Weile war das die einzige Magie, an die er dachte.

„Wir würden dann gern zahlen“, rief Shane der Kellnerin zu.

Ray saß immer noch dicht neben ihm. „Wir?“

Shane schnitt eine Grimasse. „Ups. Egal ... dann hält sie mich eben für durchgeknallt.“

„Oder für besonders hochwohlgeboren. Haben Adlige nicht früher auch gerne mal in der Mehrzahl von sich gesprochen?“

„Ich glaube, du bringst da was durcheinander.“

Shane zog eine elegante, lederne Geldbörse aus seiner Jacke und öffnete sie. Es waren so viele Scheine darin, dass es raschelte, als er einen hervorzog. Ray konnte nicht anders, als hineinzustarren. Er hatte noch nie so viel Geld real vor sich gesehen ... außer vielleicht in einer Kasse.

Seine Brauen zuckten. Die Erinnerung war wie eine einzelne Schneeflocke, die unsichtbar auf ihn herabrieselte, und gerade in dem Moment, als er sie sah, auf seiner Haut schmolz. Woher war sie gekommen? Sie nachzuverfolgen, war unmöglich.