Kapitel 9

In dieser Nacht träumte er nicht von seinem Tod. Das war dann aber auch schon das einzig Positive.

Shane saß am Morgen allein am Frühstückstisch. Na ja. Nicht ganz allein. Ray war ja immer da, egal was er tat. Aber sie hatten seit gestern Abend nicht mehr gesprochen.

Die Uhr an der Wand über dem Fernseher tickte. Es war ein nervtötendes Geräusch. Eins, das ihm früher nie so laut vorgekommen war. Kaum zu glauben, wie viele Sekunden eine Minute tatsächlich hatte ... und wie viele Minuten es dauerte, eine Tasse Kaffee zu trinken und ein Stück Apfelkuchen zu essen.

Es schmeckte mehr nach Kühlschrank als nach Apfel. Aber Clara hatte ihn gebacken. Das alleine machte ihn lecker genug und vor allem zu schade, um ihn schlecht werden zu lassen.

Unzufrieden schaute Shane zu Ray. Er war gestern nicht allzu nett zu ihm gewesen, das wusste er. Aber er stand auch unter einem ganz schönen Druck. Diese Sache, die sein Vater da vorhatte ... er wollte auf keinen Fall weggeschickt werden. Auf keinen Fall.

Ihm blieb nur, sich mehr Mühe zu geben. Die Uni ernster zu nehmen. Vielleicht half es auch, wenn er dem guten Professor Hallow mal einen Besuch abstattete. Allerdings wusste er noch nicht, ob er ihn bestechen, bedrohen oder anbetteln sollte.

Mit einem Seufzen legte er den Löffel beiseite.

„Ich hab‘ nicht gemeint, dass du gar nichts mehr sagen sollst.“

Ray schaute ihn an. „Ich hab auch nicht deswegen aufgehört, zu reden.“

„Na dann ist ja gut“, grummelte er und fragte gar nicht erst nach dem angeblichen anderen Grund.

„Mit Begegnung ist wahrscheinlich ein Gespräch auf Augenhöhe gemeint. Du musst deinem Vater sagen, was Sache ist.“

„Und was ist Sache? Deiner Meinung nach?“

„Dass du alt genug bist, um selbst über dein Leben zu bestimmen. Stattdessen lässt du ihn das alles übernehmen. Wie kann er dir damit drohen, dich fortzuschicken? Du bist erwachsen. Wenn du nicht gehen willst, dann gehst du nicht.“ Ray zuckte mit den Schultern. Für ihn war die Sache ganz einfach. Aber er war im Unrecht.

„Mag sein, dass das so einfach funktioniert, wenn man in einfachen Verhältnissen lebt, in denen man auch solche Klamotten tragen kann“, sagte er und warf einen Blick auf Rays linken Ärmel, der einen Faden zog. „Aber ich habe durch meine Familie gewisse Verpflichtungen. Ich muss den Erwartungen meiner Eltern gerecht werden.“

„Bringen sie dich um, wenn du es nicht tust?“ Ray runzelte die Stirn. Er schien der Bewegung seiner Augen gefolgt zu sein, und entdeckte nun selbst den Faden. Mit einer schnellen, kräftigen Bewegung riss er ihn ab.

„Nein, aber sie schicken mich offensichtlich fort.“

Ray lehnte sich vor. „Dann geh nicht. Weigere dich. Warum wohnst du überhaupt noch hier, wenn es so viel Druck bedeutet? Vielleicht ist genau das der Punkt an dieser Aufgabe. Wenn eine Konfrontation mit deinem Vater dazu führt, dass du hier ausziehst, bringt dich das vielleicht schon aus der Gefahrenzone.“

„Ich kann nicht einfach ausziehen, ich ... habe dann nichts.“ Seine Aussage rief nur ein Stirnrunzeln bei seinem Gegenüber hervor. „Mein Vater würde mir sofort den Geldhahn zudrehen.“

„Pfft, dann nimm ein paar Sachen mit und verkauf sie. Hier ist alles voller Kram.“

Shane schnaubte und stand auf. Der Kaffee war alle und dieses Gespräch wurde immer absurder.

„Ich kann nicht meine eigenen Eltern beklauen.“ Vielleicht machte man das ja da, wo Ray herkam. Aber bei ihm sicherlich nicht. Und das konnte auch nicht der Weg sein, der sein Leben rettete, oder? Man sollte doch meinen, dass Götter, oder was auch immer diese sogenannten „Oberen“ waren, einen nicht zu solchen Aktionen verleiten würden.

Er ließ alles stehen. Jemand anders würde aufräumen. Er musste sich für die Uni fertigmachen. Ray sagte nichts mehr, verfolgte aber dennoch jeden seiner Schritte. Er stand mit im Aufzug und ging mit ihm zum Wagen. Wollte er dieses Mal etwa mitfahren?

Kaum dass Shane die Tür geöffnet hatte, stieg Ray auch schon ein, drückte sich einfach an ihm vorbei. Irritiert starrte er ihn an. Sagen konnte er nichts ... wie sollte er das dem Fahrer erklären? Also versuchte er, die Botschaft mit seinen Augen zu senden, während er selbst auf die Rückbank kletterte und dann die Tür zuzog.

Er wollte Ray fragen, was das sollte. Warum er ihm nicht mal diese zehn Minuten Ruhe gönnen konnte. Aber wahrscheinlich würde er nur wieder mit den Oberen argumentieren. Hatte er nicht gesagt, dass sie ihm Schmerzen zufügten? Vielleicht auch nur eine Lüge. Wer vorschlug, die eigenen Eltern zu bestehlen, der benutzte auch Unwahrheiten, um andere weichzuklopfen.

So oder so ... sie fuhren gemeinsam zur Uni, gingen gemeinsam über den Platz mit dem Brunnen, stiegen gemeinsam die Treppen hoch.

In der Masse der jungen Leute kam er sich weniger verfolgt vor, konnte sich einbilden, dass Ray auch nur einer seiner Kommilitonen war. Solange er nicht zusah, wie er durch alle anderen hindurchlief.

An der Tür des Vorlesungssaals klebte eine Notiz. Sein Kurs war spontan in einen anderen Raum verlegt worden. „Na wundervoll“, murmelte Shane und sah sich nach bekannten Gesichtern um. Er hasste das Universitätsgebäude und seine vielen Gänge und Treppen.

Zum Glück erblickte er Madeleines blonde Hochsteckfrisur inmitten des Trubels und folgte ihr einfach den Flur entlang. Sie hatte fast denselben Plan wie er, nahm nur montags und freitags andere Kurse, weil sie da irgendeinem Job nachging. Sie hatte es ihm bestimmt erzählt, aber es war nicht wichtig genug gewesen, um sich auf Dauer in seinem Kopf festzusetzen.

Der neue Raum war zum Glück nicht weit entfernt. Madeleine schlüpfte in einen großen Saal hinein und blieb zwei Schritte von der Tür entfernt kurz stehen, wohl um sich zu orientieren. Shane stellte sich neben sie.

Sie lächelte ihn an. Ihr Blick streifte nicht nur sein Gesicht, sondern glitt über seine gesamte Erscheinung. „Hi, Shane.“

„Hi“, murmelte er.

„Bist du auch schon so gespannt auf den Vortrag von Mister Graham?“

Graham? Vortrag? Shane verbarg seine Verwirrung und nickte einfach nur. Wer sollte das sein? Zumindest keiner ihrer Professoren. Madeleine wirkte hibbelig, als sie ihn angrinste und mit dem Kopf unauffällig nach vorn deutete. Der Mann, der neben Hallow stand, war schon älter. Bart und Haupthaar waren weiß. Dennoch wirkte er nicht gebrechlich. Im Gegenteil. Er strahlte eine Energie aus, die ihn an seinen Vater erinnerte. Kraft, Stärke und Erfahrung, verpackt in einen perfekt sitzenden Anzug mit passender Krawatte.

„Ich setze mich nach vorne. Kommst du mit?“

„Nein, danke. Ich suche mir hier hinten was Gemütliches.“

Ihre Wege trennten sich und Shane stieg noch ein paar der Stufen hinauf. Oben war alles frei, unten drängten sich die Leute. Shane stapfte in die viertletzte Reihe und klappte irgendwo in der Mitte einen der Sitze herunter. Ray blieben neben ihm stehen und Shane wandte neugierig den Kopf.

„Klappst du mir auch einen runter? Dass er dann so bleibt, kann man sich leichter erklären, als dass er sich von Geisterhand bewegt.“

Shane zuckte mit den Schultern und tat ihm den Gefallen. Er wurde Ray ja so oder so nicht los.

„Danke.“ Er ließ sich neben ihm nieder und sah sich um. „Ich glaube, ich war früher nicht regelmäßig in einer Uni. Es kommt mir nicht vertraut vor. Diese großen Säle, die vielen Plätze und Leute.“

„Wundert mich nicht“, murmelte Shane so leise, dass es im allgemeinen Gebrabbel untergehen musste. Ray schien ihn aber gehört zu haben.

„Du hast wahrscheinlich Recht damit, dass ich aus einfacheren Verhältnissen komme“, sagte er. „Aber das heißt nicht, dass ich dir nicht helfen kann. Die Oberen müssen mein altes Leben kennen, und sie kennen deins. Ich nehme an, dass sie uns absichtlich so zusammengeführt haben. Weil wir Gegensätze sind.“

„Ah ja?“ Er legte seinen Notizblock auf den kleinen Tisch und zückte seinen Füllfederhalter. „Also soll ich mehr wie du werden?“

Ray stellte die Beine auseinander und legte die Arme lässig auf den Oberschenkeln ab. Ein warmes Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus, als er ihn so betrachtete. Etwas an Ray war verdammt sexy. Doch er sah ihn nicht an, sondern schaute nach vorne. „Du sollst mehr wie du werden.“

„Haben sie dir das gerade gesagt?“

„Finde dich selbst.“

Shane ließ die Schultern sinken und verzog das Gesicht.

Die Türen an beiden Enden des Saales schlossen sich dröhnend und jemand spielte am Lichtschalter herum. Vorne räusperte sich Hallow in seiner typischen Art. Es klang immer ein bisschen, als würde er gleich ersticken und nach gestern war Shane geneigt, es ihm sogar zu wünschen. Aber natürlich ging es nicht so aus. Er begrüßte die Studenten und stellte den anderen Mann vor. Jasper Graham. Ein Industriemagnat, der ihnen einen exklusiven Einblick in seinen Erfahrungsschatz gewähren wollte. Eine große Ehre. Ein paar der Leute in den vorderen Reihen applaudierten sogar zwischendurch. Echte Fans.

Shane stützte den Kopf auf die Hände. Genauso gut hätten sie seinen Vater da vorne hinstellen können.

„Du siehst nicht aus, als würde dich das wahnsinnig interessieren.“

„Es interessiert mich kein bisschen.“

„Warum bist du dann hier?“

Shane schüttelte den Kopf. „Weil ich es muss.“

„Ich habe wohl den Kerl übersehen, der dich hergeprügelt hat.“

„Wenn du das Konzept von Verpflichtungen nicht verstehst, dann hat es keinen Sinn, dass wir darüber reden, Ray. Man kann im Leben nicht immer nur das machen, was einem gefällt.“

„Okay. Und wann genau machst du etwas, das dir gefällt?“

 

*

 

Ein paar Stunden später saß er erneut am Klavier. Immer, wenn er sich auf die kleine Bank hinter dem Flügel setzte, und die Finger auf die Tasten legte, fühlte es sich an, als wäre er zwischendurch gar nicht aufgestanden. Als hätte man ihn hier mit Vincent eingesperrt, auf dass sie bis in alle Ewigkeit übten und zwischendurch Sex hatten.

Mit einem stummen Seufzen begann er das Stück vom letzten Mal. Seine Finger kannten die Abläufe inzwischen so gut, dass er die Noten längst nicht mehr gebraucht hätte. Wie üblich, versuchte er, seinen Blick stur geradeaus zu richten, aber es gelang ihm nicht.

Ray lief schon wieder durch den Raum. Er spazierte langsam auf den Flügel zu und beugte sich dann über den hinteren Teil, um dem Innenleben zuzusehen. Shane wusste, wie das aussah. Wie sein Spiel die Klöppel zum Tanzen brachte.

Sein Blick verfing sich in dem faszinierten Leuchten, das von Rays dunklen Augen ausging. Unwillkürlich hoben sich seine Mundwinkel ein wenig. Er merkte gar nicht, dass er die schwierige Stelle längst passiert hatte. Das Stück endete so fast unerwartet für ihn. Als der letzte Akkord verklang, schwebten seine Hände noch einen Moment über der Klaviatur, ehe er sie herunternahm und auf seinen Oberschenkeln ablegte.

„Gut gemacht.“ Vincents lobende Worte drangen an seine Ohren, aber viel präsenter noch war seine Berührung. Er stand dicht hinter ihm und tätschelte mit einer Hand seinen Kopf. „Wie wäre es mit einer kleinen Pause, bevor wir uns dem nächsten Stück widmen?“

Grundsätzlich war dagegen nichts einzuwenden. Wenn eine Pause bedeutet hätte, dass er sich kurz die Beine vertreten und einen Schluck trinken konnte. So wie Vince es sagte, klang es aber nach etwas anderem.

Trotzdem gab er ein zustimmendes Brummen von sich.

„Dann dreh dich um.“

Die Worte setzten einen neuen Film in Gang, der sofort vor seinem inneren Auge zu laufen begann. Er wusste, was passieren würde, wenn er sich auf der Bank umdrehte. Vincent würde dort stehenbleiben, wo er war. Er würde ihm nicht die Hand zum Aufstehen reichen, sondern die Finger in seinem Haar vergraben und seinen Kopf gegen seinen Schritt drücken. Shane atmete kontrolliert ein und aus. Er konnte ihn riechen, den Stoff an seinem Gesicht fühlen, obwohl er es noch gar nicht getan hatte. Obwohl das noch gar nicht passiert war.

Oder war es andersherum? Hatte er sich schon umgedreht, und waren seine Gedanken zu langsam, um hinterherzukommen?

Nein, als er sich aufs Hier und Jetzt konzentrierte, sah er Ray hinter dem Flügel stehen. Es musste ein Tagtraum gewesen sein. War das so verwunderlich? Dass zwischen Vincent und ihm diese Dinge passierten, war nichts Neues. Auf die eine oder andere Art hatten sie dieses Spiel schon dutzende Male gespielt.

Langsam drehte er sich auf der Bank um. Ein Prickeln lief über seinen Nacken und seine Wirbelsäule entlang, als Vincent tatsächlich fester in seine Haare griff und das mit ihm machte, was er sich gerade noch vorgestellt hatte.

Shane atmete aus, spürte, wie sein eigener Atem den Stoff erhitzte, unter dem sich bereits etwas abzeichnete. Er schloss die Augen, aber hinter seinen Lidern fand er nicht die wohlige Schwärze, in die er sich sonst so gern fallen ließ, wenn Vincent die Kontrolle übernahm.

Wann genau machst du etwas, das dir gefällt?

Er war sich sicher, dass er Rays Stimme nicht gehört hatte. Das war nur in seinem Kopf.

Seine Hände lagen auf seinen Beinen, die Finger umschlossen locker seine Kniescheiben. Vor ihm raschelte der Stoff. Vincent zog den Gürtel auf, öffnete die Hose.

Das hier. Das gefiel ihm. Oder nicht?

Die nächsten Berührungen verfolgte er mit einer neuerlichen Aufmerksamkeit. Als hätte es bis eben noch versucht einzuschlafen, und würde jetzt nach seltsamen Geräuschen im Hausflur lauschen.

Vincent streifte sich die Hose ab. Unterwäsche trug er gar nicht erst. Eine Hand pflügte durch sein Haar, während die andere den Schaft umfasste. Keinen Atemzug später presste sich die warme Spitze gegen seine Lippen. Nur im ersten Moment sanft, dann mit mehr Nachdruck.

Vincents Geruch drang in seine Nase. Waschmittel und Schweiß, würziges Parfüm und herber Männerduft. Die Mischung funktionierte nicht. Hatte er schon immer so gerochen? Shane runzelte die Stirn und zögerte.

„Na los, Shy. Mach den Mund auf.“

Er drehte den Kopf ein Stück zur Seite, sodass die Eichel feucht und ein wenig schmerzhaft seine Wange streifte. Für Vincent schien vollkommen klar zu sein, wie es laufen würde. Weil es ... immer so gelaufen war.

Shane spürte in sich hinein, fühlte jeden einzelnen angespannten Muskel, fühlte seine Atemzüge. War das Erregung? War das Lust? Oder war es einfach nur eine andere Sorte von Pflicht? Eine andere Sorte von Stress und Druck und Erwartungen?

„Mir ist nicht danach“, murmelte er, legte seine Hand an Vincents Hüfte und schob ihn ein Stück von sich weg. Dann wollte er aufstehen, aber sein Lehrer drückte ihn zurück auf die Bank.

„Ich sorge schon dafür, dass du danach auch auf deine Kosten kommst.“

„Darum geht’s nicht.“

Ein neuer Versuch, sich zu erheben. Dieses Mal mit mehr Elan. Mochte sein, dass ihr Sex nie zimperlich gewesen war ... aber das bedeutete nicht, dass er sich zwingen lassen würde.

Vincents Blick bohrte sich in ihn hinein, als sie sich auf Augenhöhe gegenüberstanden. Zuerst irritiert, dann verständnislos.

„Ich frage mich, warum ich überhaupt noch herkomme“, murmelte Vincent und sein Blick wechselte von heiß auf eiskalt. Er ließ von ihm ab, zog seine Hose wieder hoch und verschloss sie. „Richte deinem Vater aus, dass ich kündigen werde.“

Shane schnaubte abfällig, sagte aber nichts weiter dazu. Er war sich nicht sicher, wie sich das auswirken würde und wie ernst Vincent es meinte. Würde er den Job wirklich sausen lassen? Weil er ihm einmal einen Blowjob verweigert hatte? Würde er seinem Vater was erzählen? Nein ... das war extrem unwahrscheinlich. Mehr als ein formales Kündigungsschreiben, in dem er nochmal betonte, wie faul sein Schüler leider gewesen war, war nicht zu erwarten.

Eine Minute später verschwand Vincent und Shane ließ sich wieder auf die Bank sinken.

„Du hättest ruhig ... ich meine, ...“ Rays Schuhe tauchten in seinem Sichtfeld auf. Diese abgewetzten Sneaker passten kein bisschen zu dem teuren, polierten Echtholzparkett. Ein absurdes Bild. Shane hob den Kopf.

„Vielleicht hast du Recht mit dem, was du gesagt hast“, sagte er. „Ich mag das Klavierspielen nicht. Ich mag Vincent nicht. Nicht so richtig jedenfalls. Und der Sex ... na ja.“ Er seufzte.

„Du musst mir das nicht erzählen.“

„Ich weiß. Ich will aber. Ist vielleicht die beste Gelegenheit überhaupt, denkst du nicht? Wem sollte ich das erzählen? Und du kannst es nicht weitersagen. Du kannst mir nur zuhören. Ist doch ideal.“

Ray schnaufte. Es klang amüsiert. „Gut, dann lass mal hören, deine Sex-Beichten.“

„Es ist nur die eine. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich schwul bin, oder ob ich nur mitgemacht habe, weil es spannend war und weil ich wusste, dass mein Vater es hassen würde. Dabei will ich andererseits auf keinen Fall Ärger mit ihm.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie gestört ist das?“

„Du musst nicht schwul sein, um Sex mit Männern zu haben. Vielleicht bist du Bi, oder Pan oder irgendwas anderes“, erwiderte Ray. „Und es kann ... viele Beweggründe dafür geben. Dampf ablassen. Zuneigung. Ablenkung. Ich finde das nicht gestört.“

„Nicht allzu tröstlich, wenn das jemand sagt, der es auch okay findet, die eigenen Eltern zu bestehlen.“

„Meine Fresse, wie oft willst du das noch wiederholen?“

„So oft, wie du mir Gelegenheiten bietest, es anzubringen.“

„Du könntest ja auch leihen, statt zu stehlen.“

„Nur weil man es anders nennt, wird es nicht zu etwas anderem.“

„Darf ich?“, fragte Ray und deutete auf die Bank.

Shane rutschte ein Stück, damit er sich niederlassen konnte. Eine Weile saßen sie still und nachdenklich nebeneinander. Termine standen heute immerhin keine mehr an. Abgesehen davon, dass er eigentlich in jeder freien Sekunde lernen müsste.

„Ich weiß nicht, ob ich in meinem alten Leben etwas geklaut habe, ... aber Fakt ist, dass ich es machen würde, wenn ich an deiner Stelle wäre. Ich meine, was sind das für Eltern, die dich fallen lassen würden, wenn du deinen eigenen Plan machen willst?“

„Ich habe ja nicht mal einen eigenen Plan. Ich weiß gar nicht, was ich will.“

„Aber du weißt immerhin schon ein paar Dinge, die du nicht willst. Das ist ein guter Anfang.“ Ray stieß ihn sachte mit der Schulter an.

Shane hob die Mundwinkel. Ja, irgendwie hatte er damit Recht. Er wusste, dass er dieses Studium nicht wollte. Es war nur eine Last. Die Zahlen, Strategien und Statistiken interessierten ihn nicht.

„Also sollte ich das Studium schmeißen, den Klavierunterricht streichen, die Tennisstunden ...“

„Alles, was du nicht machen willst.“

Shane nickte. „Und dann?“

„Dann füllst du die Lücken mit den Sachen, die du dir selbst aussuchen würdest. Hast du nie einen Berufswunsch gehabt? Als Kind oder so?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und ich dachte, das wäre meine Antwort auf alle schwierigen Fragen.“

„Ich glaube ich wollte früher mal Krankenwagenfahrer werden. Ich habe diese Autos gesammelt. Müllwagen, Polizeiauto, Krankentransport. Das war immer mein liebstes. Bis mir mein Vater erzählt hat, dass es den Beruf gar nicht gibt, und dass es besser wäre, wenn ich das mache, was er macht. Ich hab damals noch gar keine Vorstellung davon gehabt, was das bedeutet. Ist ja klar ... für mich war Arbeit einfach nur die Zeit, in der meine Eltern nicht zu Hause waren.“

Der Gedanke entfaltete sich ganz von alleine. Auf einmal erinnerte Shane sich an Dinge, die er vergessen geglaubt hatte. An Clara, die die Krankenwagensirene für ihn imitierte, wenn sie zusammen spielten. Daran, wie er durch die ganze Wohnung lief und die Autos auf jeder kleinen Fläche fahren ließ ... auf Schränken, Kommoden, Stühlen, Tischen, Theken, sogar auf der Tagesdecke, die auf dem Elternbett lag. Der Krankenwagen musste manchmal besondere Wege nehmen. Abkürzungen. Da waren schließlich Menschen in Not. Die musste er retten.

„Vielleicht in der medizinischen Richtung. Das könnte ich mir vorstellen“, sagte er irgendwann und es fühlte sich an, wie das Auftauchen nach einer längeren Zeit Unterwasser. Shane wusste nicht, wie lange er seinen Erinnerungen nachgehangen hatte, aber Ray saß immer noch neben ihm, schaute auf seine Turnschuhe und wackelte mit den Füßen.

„Ist jetzt nicht das Schlimmste, was ich mir als Elternteil für mein Kind vorstellen könnte. Medizin statt ... was studierst du jetzt? Irgendwas mit Wirtschaft? Ich meine, das ist doch auch anspruchsvoll und wichtig und passt zu reichen Söhnen.“

Passt zu reichen Söhnen. Damit meinte Ray wohl den Prestige-Faktor. So wie er es sagte, klang es aber irgendwie abfällig.

„Ja, irgendwas mit Wirtschaft.“ Shane lachte. Genau so hätte er es auch bezeichnet. Weil es sich genau so anfühlte. Undefiniert, schwammig. Nicht als würde er sich auf ein Ziel zubewegen. Es hatte keine Bedeutung für ihn. Nur für seinen Vater.

„Siehst du ... vielleicht ist das der richtige Weg. Ist doch viel wahrscheinlicher, dass du am Leben bleibst, wenn du dich in einer Krankenhausumgebung befindest. Da kann man dir sofort helfen, wenn was passiert.“

„Oder ich fange mir da erst den Keim ein, der mich später dahinrafft.“

Ray grinste ihn an. „Tja, man findet wohl immer eine Möglichkeit, zu sterben. Das Leben ist ganz schön tödlich.“