Kapitel 11

„Um die Zukunft des Kiosks steht es eher schlecht. Sag Lucy noch nichts davon. Wir kämpfen mit allen Mitteln dagegen.“

Zukunft. Das war ein gutes Wort. Ein wichtiges Wort.

In der Grundschule hatte er geglaubt, für ihn würde das irgendwas Tolles, Spaßiges bedeuten. Wenn er erwachsen war ... was genau hatte er sich da ausgemalt? Lehrer werden?

Ray schloss die Wohnungstür leise hinter sich und zog sich die Kapuze seiner Sweatjacke über den Kopf. Jetzt am Abend wehte ein kühler Wind. Eigentlich war die Jacke zu dünn, aber das größere Problem waren die kaputten Schuhe. Die Sohle löste sich vorn an der Spitze ab. Er musste echt aufpassen, nicht in eine Pfütze zu treten, wenn er sich nasse Füße ersparen wollte.

Zukunft. Ein gutes Wort, aber nichts, das einem garantiert wurde. Zukunft kaufte man entweder, oder man erarbeitete sie sich.

Seitenstraßen und Gassen führten ihn ganz automatisch an den Ort, zu dem er wollte. Ein paar Jugendliche saßen auf den Treppen vor dem alten Fabrikgebäude. Die rote Backsteinfassade sah sogar im Dunkeln noch aus, als würde das Sonnenlicht auf ihr glühen. Aber deswegen war keiner von ihnen hier.

Ein paar Tüten wechselten die Besitzer, wanderten eilig von Hand zu Hand. Ray steckte das Geld ein. Ein bisschen raschelnde, zerknickte Zukunft in seiner Hosentasche.

„Ich muss weiter“, sagte er und joggte die Stufen hinab. Es war noch nicht genug. Es war eigentlich nie genug.

Seine Hände vergrub er in den Taschen seiner ausgeleierten Jeans. Second Hand. Ein cooles Teil eigentlich. Er hätte nicht gegen eine Markenjeans tauschen wollen. Höchstens, um sie zu verkaufen.

Er hob das Kinn und schaute rüber zu den schicken Wolkenkratzern in der Ferne, weit hinter dem Industriegebiet. Von hier wirkte es ein bisschen, als hätte jemand einen überdimensional großen Staubwedel genommen und den ganzen Dreck von dort drüben hierher gewirbelt. Die Fassaden glänzten im Licht von Laternen, Scheinwerfern und Werbeleuchten. Selbst von so weit weg, konnte man die bunten Reflexionen an den Wänden schimmern sehen.

Hier drüben schimmerte höchstens das Mondlicht in den Pfützen.

Aber es ging eigentlich auch gar nicht um das Licht, oder um die hübschen Fassaden. Es ging um Platz, um Freiheit, und um Möglichkeiten. Um Zukunft.

Wenn seine Mutter den Kiosk verlor, ... was würde dann werden? Dass sie ihm die Antwort vorenthalten hatte, hieß wohl, dass es keine gab.

Er musste die Sache in die Hand nehmen. Er war alt genug. Er wünschte nur manchmal, er hätte ein paar seiner Entscheidungen anders getroffen. Nach seinem Abgang von der Schule einer normalen Arbeit nachgehen. Jobben. Es wäre sicher nicht viel dabei herumgekommen, aber vielleicht hätte er sich in den Jahren langsam voranarbeiten können. Mit seinen Eintragungen im Strafregister war es bedeutend schwieriger, mal eben eine Arbeit zu bekommen. Keiner wollte einen potenziellen Langfinger in sein Geschäft stellen. Ihm blieben nur Hilfsarbeiten auf dem Bau ... langsam und anstrengend – oder das hier.

Harold starrte ihn die ganze Zeit über an, als er näher kam. Immer noch ein bisschen gruselig der Typ. Seine Augen wirkten groß, lagen aber so tief in den Höhlen, dass er was von einem Ghul hatte. Entweder furchtbar miese Veranlagung oder Harold hielt sich nicht an die Regeln, die er ihm selbst immer wieder eintrichterte: Nicht das eigene Produkt konsumieren.

„Du bist ja überpünktlich, Kätzchen.“

„Ich muss n‘ bisschen mehr Geld verdienen“, sagte Ray. „Hast du was Besseres für mich?“ Er zog den Zettel hervor, auf dem stand, wie viel er letztes Mal von Harold bekommen hatte, und wie viel von seinem Anteil ihm gehörte. Dann holte er das Geld raus.

„Die Jungs da drüben suchen einen Wachhund. Aber vielleicht geht auch ein Wachkätzchen.“ Harold deutete mit einem Kopfnicken auf ein paar Leute, die etwas abseits standen.

Ray gab ihm ein paar von seinen Scheinen und verstaute den Rest wieder. Harold riss ihm das Geld aus Hand, zählte es und steckte es ein.

„Für was genau?“

„Paar Beutezüge. Tankstellen, glaub ich.“

„Sowas mach ich nicht mehr“, murmelte er. „Gib mir einfach ein bisschen Crystal oder H. Ich bring das unter.“

„Sorry, Kätzchen, das Risiko ist mir echt zu groß. Du bist vielleicht niedlich, aber leider nicht genauso flink und gewitzt wie ne echte Katze. Du verlierst den Kram und ich bin vielleicht sogar noch mit am Arsch, weil du alles auf dumme, kleine Zettel schreibst.“

„Dann ohne Zettel ... Ich versprech dir, dass ich ...“

„Keine Versprechen. Du kriegst weiter deine Smarties und bist fleißig.“

Ray gab ein unzufriedenes Brummen von sich. Sein Blick zuckte nochmal zu den Fremden. Raubüberfälle waren was ganz anderes, als ein paar Tabletten in der Gegend herumzuschieben. Das Risiko war größer, der Gewinn aber auch. Der bloße Gedanke an so einen Coup, ließ das Blut in seinen Adern kribbeln und sein Herz lauter schlagen.

Nein, das konnte er definitiv nicht mehr machen. Er hatte es nicht nur seiner Mutter, sondern auch sich selbst versprochen. Beim nächsten Mal landete er im Gefängnis. Das konnte er ihr und Lucy nicht antun.

„’S Leben ist kein Zuckerschlecken“, sagte Harold. Wohl eine Reaktion auf die unzufriedene Grimasse, die er gerade schnitt. „Entweder du spielst safe, oder du gehst Risiken ein. Ist wie im Casino.“

Ray hob die Hand zum Gruß und wandte sich dann ab. Er konnte dieses Spiel nicht spielen, wenn sein Einsatz das kleine Bisschen Zukunft war, an dem er seit diesem glimpflichen Urteil vor zwei Jahren so hart arbeitete.