Kapitel 12

Schon als er seinen Vater zur Tür hereinkommen sah, wusste er, dass etwas passiert war. Die Art, wie sich die unteren Augenlider anspannten, als sein Blick ihn streifte, und der harte Zug um seinen Mundwinkel ... das roch nach Ärger.

Seine Mutter musste es auch spüren. Sie saß kerzengerade auf ihrem Platz und vermied den Augenkontakt. Stattdessen beschäftigte sie sich damit, den Verschluss ihrer Halskette wieder nach hinten zu schieben.

Statt etwas zu sagen, setzte sich sein Vater einfach nur an den Tisch, griff nach dem Besteck, und begann mit dem Essen. Shane tauschte einen Blick mit Ray, weil er der einzige war, den er gerade überhaupt anschauen konnte. Er saß links von ihm auf dem leeren Platz und sah ihnen wie immer beim Essen zu.

„Heute scheint kein guter Moment für die Begegnung zu sein“, sagte Ray und musterte ebenfalls seinen Dad. „Oder besser gesagt: Ich glaube, sie ist jetzt unausweichlich, aber der Zeitpunkt ist schlecht.“

Shane hätte gerne etwas darauf erwidert, aber es war unmöglich, wenn seine Eltern mit am Tisch saßen, und die Stimmung so angespannt und still war, dass man es wohl sogar gehört hätte, wenn ihm ein Reiskorn von der Gabel gefallen wäre.

Also machte er es wie der Rest seiner Familie und aß.

Jedes Kratzen von Messer oder Gabelzinken kam ihm unheimlich laut vor. Selbst sein eigenes Kauen und Schlucken ... Als wäre die Stille nur ein dünnes Tuch, das von jedem noch so kleinen Laut beschwert wurde, und irgendwann reißen musste.

Niemand wollte schuld daran sein, aber Shane spürte, dass bereits feststand, dass er es war. Bestimmt hatte es was mit Vincent zu tun. Oder die Professorin, mit der er über seine Wechsel-Absichten gesprochen hatte, hatte ihn darüber informiert.

Shane hatte genug Zeit, um sich alle möglichen Szenarien auszumalen. Trotzdem fühlte er sich nicht wirklich bereit, als sein Vater das Besteck weglegte, und ihn direkt anschaute.

„Ich wollte uns das Essen nicht mit dem verderben, was es zu besprechen gibt“, setzte er an. „Mir hat sich nämlich durchaus ein bisschen der Magen verdreht, als ich von Vincent hören musste, dass du den Unterricht schwänzt, um dich mit Männern zu vergnügen.“

Shanes Mund war schneller als seine Gedanken. „Er hat gekündigt!“

„Verständlich. Ich hätte ihm am liebsten noch Schmerzensgeld dafür gegeben, dass er sich das antun musste. Du hast seinen Unterricht ja nie besonders gewürdigt, aber dass du dann auch noch direkt vor dem Haus solchen Unzüchtigkeiten nachgehst ... Bist du ein kleines Kind, das unbedingt provozieren muss?“

Wie bitte? „Was denn für Unzüchtigkeiten?“ Was hatte Vincent ihm denn erzählt? Offenbar nicht die Wahrheit. Er war sich zwar nicht sicher, ob das besser gewesen wäre ... aber er hätte auch einfach den Mund halten und es auf sein mangelndes Talent oder seinetwegen seine Faulheit schieben können. Das hier war definitiv eine Racheaktion.

„Du weißt genau, wovon wir sprechen. Ich habe dich schon öfter mit dem Kerl gesehen, aber bisher dachte ich, dass er dir nur dieses Gift verkauft. Und ich wollte dir wirklich glauben, dass du die Finger davon lässt.“

Dieser Kerl ... Shane runzelte die Stirn. Der Dealer. Richtig, sie hatten sich ein paar Mal getroffen. Aber nicht rumgemacht. Oder? Er konnte sich ja nicht mal an seinen Namen erinnern oder wie er aussah.

„Das ist nicht die Wahrheit“, sagte Shane. Eigentlich hätte er bessere Worte dafür gehabt. Bullshit zum Beispiel. Aber er wollte seinen Vater nicht noch mehr reizen. „Vincent hat sich in letzter Zeit öfter darüber beschwert, dass ich seinen Ansprüchen nicht genüge und gesagt, er würde kündigen ... ich habe keine Stunden ausgelassen. Und ich habe auch keine ‚Unzüchtigkeiten‘ betrieben.“

„Wenn das stimmt, warum habe ich dann bisher noch kein Wort davon gehört? Wir fragen dich doch regelmäßig nach deinen Fortschritten.“ Er stieß den Atem aus. „Du hast uns in letzter Zeit so vieles vorenthalten, dass ich deinen Worten keinen Glauben mehr schenken kann, Shane. Professor Hallow sagt,...“

„Ich will mein Studium abbrechen“, fuhr Shane dazwischen. Er hatte seinen Vater noch nie unterbrochen, seit er sich erinnern konnte. Wahrscheinlich war das auch der einzige Grund dafür, warum es überhaupt klappte. Der Überraschungseffekt. „Ich habe wirklich versucht, mich damit anzufreunden. Ich habe wirklich versucht , zu verstehen und zu lernen, aber es bringt nichts. Es langweilt mich, es liegt mir nicht, und es wird mich nicht weiterbringen. Selbst wenn ich den Abschluss schaffe ... das ist einfach nicht das, was ich machen will. Mit dem Klavier ist es dasselbe. Ich habe es dir zuliebe gemacht. Aber Pflicht ist nicht die beste Motivation. Nicht über so viele Jahre hinweg. Ich bin ausgelaugt. Ich will endlich etwas tun, das mir Freude bereitet.“

Er hatte so viel und so schnell gesprochen, dass er jetzt erst mal Luft holen musste. Ray schaute ihn an und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Endlich hatte er alles Wichtige gesagt. Das fühlte sich gut an. Aber gleich würde er hören, was es ihn kostete.

„Es macht dir also keine Freude, deine Familie stolz zu machen? Deinen Platz einzunehmen? Wolltest du nicht immer eines Tages die Firma leiten? Das alles hier höre ich zum ersten Mal.“

„Genau deswegen“, erwiderte Shane. „Natürlich will ich, dass ihr stolz auf mich seid und euch über meine Erfolge freut. Aber das klappt so nicht. Seien wir ehrlich: Ich bin in allen Bereichen eine Enttäuschung.“

Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Mutter sich auf ihrem Platz regte, aber sie griff dennoch nicht in das Gespräch ein.

„Und was dann?“, fragte sein Vater betont ruhig und langsam.

Die Frage stand groß und gewichtig im Raum und Shane war so unendlich froh, dass er darauf eine Antwort hatte.

„Ich möchte Medizin studieren. Ich habe bereits mit jemandem von der Universität gesprochen. Ich müsste ein Semester warten, wegen des Numerus Clausus, aber ich würde die Wartezeit gut nutzen. Ich könnte sie in verschiedene Praktika investieren, um für mich selbst herauszufinden, in welchen Bereich ich später gehen möchte.“

Sein Vater hörte ihm zu und seine Pupillen bewegten sich dabei, als würde er sein Gesicht genauer studieren, während er sprach. Ihn auf Lügen abscannen.

„Du hast Recht. Du bist eine Enttäuschung.“ Er verschränkte die Arme. „Ich muss mich wohl glücklich schätzen, dass du nicht Influencer werden willst, aber ich kann keinen Arzt an die Spitze meiner Firma stellen, der keine Ahnung vom Geschäft hat.“

„Dann bau jemand anderen auf.“

„Ich setze keinen Fremden auf diesen Stuhl. Die Firma ist seit drei Generationen in unserer Familie und da bleibt sie auch.“

Ray musste irgendwann zwischendurch aufgestanden sein, denn auf einmal spürte er fremde Hände auf seinen Schultern. Die Berührung ließ ihn beinahe zusammenzucken, aber zugleich spürte er auch, dass sie ihn stärkte.

„Gibt es niemand anderen aus eurer Familie, der geeignet wäre? Hat dein Vater keine Geschwister? Ich glaube, du bist ganz nah dran, ihn zu überzeugen“, sagte Ray.

„Was ist mit Preston?“ Sein Cousin studierte seit zwei Semestern Wirtschaftsingenieurwesen und war darin deutlich erfolgreicher als er, wenn er so an ihr letztes Gespräch zurückdachte. Damit war er sogar noch besser für die Stelle geeignet, wenn sein Vater ehrlich war.

„Der Junge ist...“

„Eine Überlegung wert, nicht wahr?“ Die Stimme seiner Mutter passte überhaupt nicht in die Melodie dieses Gespräches. Wie Vogelzwitschern in einem ernsten Meeting.

Sein Vater wandte den Kopf und die Härte in seiner Mimik nahm ab.

„Ich weiß, er ist nicht dein Idealbild von einem Nachfolger, aber ... ich weiß von Abraham, dass er sehr zu dir aufsieht. Das könnte eine gute Lösung sein.“

„Eine gute Lösung ... was haben wir denn all die Jahre hier herangezogen?“

Shane spürte Rays Atem in seinem Nacken, als er die Luft hörbar ausstieß.

„Offenbar einen jungen Mann, der Arzt werden möchte. Ich finde, das ist nicht das Schlechteste.“

Ob sie wohl immer noch so auf seiner Seite wäre, wenn sie wüsste, dass er das Tennis-Training eigentlich auch nicht mehr fortführen wollte? Shane blickte zwischen seinen Eltern hin und her. Hoffnung keimte auf. Vielleicht würde er ihn am Ende doch nicht rauswerfen und enterben.

„Ich glaube, der junge Mann weiß selbst nicht, was er möchte. Das Wirtschaftsstudium ist dir zu schwer, also suchst du dir etwas anderes. Du wirst auch bei der Medizin lernen müssen. Denkst du, man kann das, was wir aufgebaut haben, ohne Mühe erreichen? Denkst du, ich drehe auf der Arbeit Däumchen und kritzele Bildchen auf Notizzettel? Das Leben ist manchmal anstrengend. Da muss man durch und kann nicht jedes Mal den Kurs ändern.“

„Ich habe ihn jetzt zum ersten Mal geändert.“

„Du hast jetzt zum ersten Mal den Mut, es auszusprechen. Lange auf einer Linie geblieben bist du doch nie. Allein das mit diesen Pillen, Shane ...“

„Dann lass mich dir beweisen, dass ich es schaffe, auf meiner eigenen Linie zu bleiben. Eure lagen mir offenbar nicht.“

„Gut. Probier deine eigene Linie aus. In einem Monat ist die Eröffnung. Genug Zeit für etwas Selbsterkenntnis, und um schätzen zu lernen, was wir dir geben. Morgen verlässt du unsere Wohnung.“