Kapitel 15

„Die meisten Reichen sind sadistische Mistschweine.“

„Shht, die Kinder, Harry!“

„Ist doch wahr! Können ruhig schon früh mitkriegen, wie das läuft.“

Ray stand mitten zwischen ihnen. Eine kleine Gruppe von Rebellen in warmen Jacken und mit Protestschildern in den Händen. Er hatte keines. Er war nur zur Verstärkung hier. Es ist wichtig, dass sie sehen, wie viele es betrifft, und dass es uns ernst ist.

Seine Mutter hatte Recht.

Sie mussten dafür kämpfen.

Die Horde versammelte sich auf dem Platz vor dem Gebäudekomplex. Es waren nicht nur die Verkäufer aus den Geschäften, sondern auch viele ihrer Kunden. Ray erkannte Freddy und Fran, zwei der Stammkunden seiner Mutter, und Lissy mit ihren zwei Töchtern.

Es war ein lautes Gedränge und obwohl er schon recht groß war, musste Ray sich auf die Zehenspitzen stellen, um zu erkennen, ob sich um sie herum etwas tat. Ein bisschen kam er sich vor wie im Auge eines menschlichen Wirbelsturmes. Dutzende Stimmen riefen durcheinander, bis eine von ihnen einen Vers begann, in den die anderen einstimmten.

„Ladendiebe raus“, schallte es von überall. Ray musste immer noch ein wenig über die Bezeichnung schmunzeln. Giselle vom Friseursalon hatte sich das ausgedacht. Die Firmenleute waren vielleicht keine Verbrecher, die in Geschäfte gingen und dort etwas mitgehen ließen – aber sie wollten ihnen ihre Läden klauen. Die Verträge sollten einfach aufgehoben werden. Es war schwer zu verstehen, wenn man an Recht und Gesetz glaubte. Aber wie so viele hier sagten: Geld und Macht standen über dem Recht, und wer beides hatte, konnte auch jemanden dazu überreden, beschriebenes Papier zu übergehen.

Sein Gesicht verfinsterte sich, als die Eingangstüren aufgingen und mehrere Personen in dunklen Mänteln preisgaben.

Der Chor wurde lauter und einige Stimmen lösten sich daraus und schrien eigene Parolen. Für einen Moment fürchtete Ray, sie würden sich wie eine Herde in Gang setzen und hinüberstürmen, aber die Leute hielten an sich.

Eine kleine Gruppe Reporter näherte sich dem Pulk und hielt einem von ihren Leuten das Mikrofon vors Gesicht. „Er soll seine Büros woanders bauen!“, hörte er den Mann rufen. „Das hier ist unsere Lebensgrundlage!“

Ray merkte, wie seine Mutter nach außen strebte und folgte ihr. Es war schwierig, sich durch die vielen Körper zu schieben, ohne jemanden dabei zu stoßen oder einen Ellenbogen ins Gesicht zu bekommen. Aber er war wegen ihr hier, also wollte er auch an ihrer Seite sein.

Bestimmt hatte seine Mutter auch mit der Presse sprechen wollen. Sie war gut darin, mit anderen zu reden. Eine Diplomatin. Aber sie bekam die Chance nicht, denn das Kamerateam hatte sich schon ihren Feinden zugewandt.

„Es ist alles mit der Stadt geklärt. Es gibt hier gar nichts zu verhandeln“, erklärte der hochgewachsene Caldon mit hochgezogenen Brauen. Kein Funke Verständnis in seinem Gesicht. Ein Schulterzucken war alles, was er für sie übrig hatte.

Statt vorbeizugehen, kam er jedoch näher. Es wirkte wie die pure Provokation und so fassten es die Leute auch auf. Es wurde heißer um ihn herum. Die Wut und die Frustration der Menschen knisterten in der kühlen Frühlingsluft.

Die Leute vom Fernsehen filmten die Szene von Weitem. Ob sie wohl auf Handgreiflichkeiten hofften? Ray musste einen Mann beiseiteschieben, um die Lücke zu seiner Mutter zu schließen.

„Mister Caldon, versetzen Sie sich einmal in unsere Lage. Viele hier haben ihre Reputation und ihre Kundschaft über Jahrzehnte aufgebaut. Unsere Geschäftige sind nicht nur unsere Lebensgrundlage, sondern auch soziale Treffpunkte. Wichtige Knotenpunkte für die Gemeinschaft des Viertels. Wenn Sie das auseinanderreißen ...“

Der Firmenchef war bei seiner Mutter stehengeblieben und musterte sie abschätzend. Für eine Sekunde sah es wirklich so aus, als hätte sie mit ihren Worten etwas bewegt und ein leises Gefühl von Stolz erfüllte Rays Brust.

Die ernsten, dunklen Augen des Mannes wanderten an ihr auf und ab.

„Ich bin mir sicher, dass Sie mit oder ohne Geschäft einen sozialen Treffpunkt für das Viertel bilden können, Misses.“ Das winzige Heben seines rechten Mundwinkels verlieh seinem Gesicht einen arroganten und zugleich anzüglichen Anstrich. Hatte er gerade angedeutet, dass seine Mutter ...? Dieser Bastard!

Ray preschte vor. Arme hielten ihn fest. „Nicht, Junge. Das bringt dich nur in Schwierigkeiten.“

Caldon ging weiter und Ray stierte ihm hinterher. Jetzt war er wirklich zu weit gegangen.

 

*

 

Wenn er es ihr gesagt hätte, hätte sie es ihm trotz allem ausgeredet.

Manchmal war es besser, Entscheidungen für sich zu behalten. Manchmal war es besser, Fairness und Freundlichkeit abzulegen. Manchmal war es besser, nicht nach den Regeln zu spielen.

Ray spürte die Hitze noch immer. Sein Herzschlag trug sie in sich wie einen glühenden Funken, der durch die Bewegung in seiner Brust am Leben gehalten wurde. So wie er selbst.

Er war noch nie in seinem Leben so wütend gewesen. Nicht auf diese Art.

Sicher, er war auf den Wichser Clark wütend gewesen, als der versucht hatte, ihm sein Geld zu klauen. Das hatte sich mit einer Prügelei regeln lassen. Er war wütend über sich selbst gewesen und vorher noch auf die Leute, die ihn zur Rede gestellt hatten.

Aber Caldon war anders. Und er würde sich niemals auf eine Ebene begeben, auf der ein fairer Kampf – egal ob mit Argumenten oder mit Fäusten – möglich war. Es gab Menschen, die waren einfach schlecht. Die anderen hatten wohl Recht, auch wenn er sich lange geweigert hatte, das einzusehen: Meistens waren es diejenigen, die das Geld hatten. Reiche Menschen wussten nichts vom Leben. Sie lebten in einer anderen Welt wie die Götter im Olymp. Für die waren sie doch nur Fliegen und ihre Demonstrationen ein nerviges Summen.

Rays Schritte griffen weit, als er das Industriegelände erreichte. Die riesigen Krananlagen in der Ferne setzen sich nur schwach vom Blauschwarz des Nachthimmels ab. Kaum sichtbare Monster, die in die Höhe ragten.

Das Licht der letzten Laternen verlor ihn aus den Augen, als er auf einen der halb abgerissenen Bunker zustrebte. Nur noch ein Schatten in der Nacht. Nicht mehr als eine Katze. Oder eine Fliege.

Der Geruch von Nachtkälte, Staub und Pisse stieg ihm in die Nase, als er durch das große Fensterloch in die Ruine einstieg.

Nun selbst zum Dieb zu werden, missfiel ihm. Das alles hier war scheiße. Aber es war der einzige Weg. Ray atmete tief durch und ging langsam auf den kleinen Schutthaufen in der Ecke zu. Er hatte mit Finsternis gerechnet, aber der Mond stand genau so, dass sein Licht wie ein Scheinwerfer durch das kleine Loch in der Decke strahlte. Als ob jemand von oben ihm sagen wollte, dass er hier richtig war.

Ray hockte sich vor das Geröll und schob Stein für Stein mit bloßen Händen zur Seite. Silbrige Staubwölkchen stiegen auf. Eine Kellerassel flüchtete vor ihm in den Schatten.

Mit angespanntem Blick grub Ray weiter.

Hoffentlich war sie noch hier. Hoffentlich hatte Clarence sie nicht ausgerechnet heute mitgenommen. Morgen war seine beste Chance, er konnte auf die Schnelle keine ...

Da!

Seine Finger berührten die glatte Oberfläche der Tüte.

Er zog sie behutsam aus ihrem steinigen Grab. Der Metallmantel der Pistole schimmerte im Mondlicht. Rays Hände schlossen sich fester darum. Kalt. Was für ein heftiger Kontrast zu dem Schlagen in seinem Inneren.

Gesehen hatte er die Waffe schon oft, aber noch nie so nahe. Sie in den Händen zu halten war seltsam. Er hatte nicht erwartet, dass sie so schwer war. Aber wahrscheinlich durfte etwas, das einen Menschen töten sollte, auch nicht zu leicht sein.

Töten.

Ray hockte bewegungslos da und starrte auf die Schusswaffe hinab, die in seinen Händen lag. Bis eben war der Gedanke daran, Caldon zu töten, noch einfach und klar gewesen. Jetzt fühlte er sein wahres Gewicht auf seiner Seele.

Er würde ein Leben nehmen. Das eines beschissenen Bastards. Aber ein Leben. Immerhin war sogar dieser Kerl ein Mensch, hatte eine Familie, Freunde ... wahrscheinlich. Ray kniff die Augen zusammen.

So durfte er das nicht sehen.

Caldon scherte sich einen Scheißdreck darum, dass sie Menschen waren. Dass sie Familie hatten, Mäuler zu stopfen, Schulbücher zu kaufen, kleine Mädchen mit großen Wünschen großzuziehen.

„Lucy...“

Ray nahm die Waffe aus der Tüte, vergewisserte sich, dass sie gesichert war, und steckte sie in seinen Hosenbund. Dann schüttete er das Geröllversteck wieder zu.