Kapitel 21

Es dauerte einige Wochen, das Gewirr aus magischen Erinnerungen irgendwie zu sortieren. Und auch, nachdem sie ihre gemeinsame Geschichte mit all den kleinen Abzweigungen weitestgehend erkundet, alle Orte besucht und alle Dinge nochmal getan hatten, an die sie sich erinnerten, blieb die Vergangenheit ein Rätsel.

Ein Rätsel, dass ihm nachts verrückte Träume bescherte. Wenn er dann morgens in seinem Bett aufwachte und sein eigenes Herz schlagen fühlte, sank er mit einem erleichterten Seufzen zurück in die Kissen, blickte aus dem Fenster zum Himmel und bat die Oberen, ihn nie wieder auf so einen Auftrag zu schicken.

Nach und nach verblassten die Erinnerungen zwar, aber sie verschwanden nicht. Wenn er in der U-Bahn saß und die anderen Menschen musterte, die in ihre Handys oder Zeitschriften vertieft waren oder einfach nur in Gedanken versunken geradeaus starrten, beschlich ihn manchmal noch die Angst, er sei wieder unsichtbar geworden. Aber spätestens beim Aussteigen rempelte ihn dann jemand an und alles war wieder gut.

Das Zischen der sich schließenden Türen noch im Ohr marschierte er über den U-Bahn-Steig. Es war noch früh am Morgen, aber er hatte einiges zu tun. Besonders ein großes Ziel stand auf seinem Plan: Eine neue berufliche Perspektive finden.

Um ihn herum fingen alle von vorn an. Seine Mutter, die den Kiosk verloren hatte, und Shane, der sich aus den Fesseln seines alten Lebens befreit hatte. Da war es höchste Zeit, dass auch er neue Wege ging.

Er konnte nicht mit dem weitermachen, wie es bisher gelaufen war. Keine Drogen mehr. Und erst recht keine anderen krummen Geschäfte. Aber was sollte er tun?

Er joggte die Treppen hinauf, die ihn zurück ans Tageslicht führten, und blieb dann auf dem großen Platz mitten in der Stadt stehen. Umringt von geschäftigen Menschen und Werbeplakaten.

Tief sog er die Großstadtluft ein, spürte seinen Herzschlag ... und noch etwas anderes. Er hatte Angst. Ein bisschen jedenfalls. Das hier war neu. Seine Zukunft. Bis hierher hatte sein Leben noch nie geführt. Er hatte sich nie diese Gedanken machen müssen. Aber jetzt lebte er. Und es gab so viele Tage, die er gestalten konnte. Mit etwas Neuem.

Er drehte sich langsam im Kreis und ließ die bunten Farben der Stadt auf sich wirken. Irgendwo gab es einen Weg. Nein, mehr als einen. Darauf vertraute er, auch ohne die Oberen, die ihn leiteten.

Sein Blick blieb an einem blau-weißen Plakat hängen. Schutzengel gesucht.

Ray konnte nicht anders, als zu grinsen, und ging näher heran. Gutes tun mit sozialer Arbeit , stand etwas kleiner am Rand. Dann eine Adresse und eine Telefonnummer.

 

*

 

„Wie lief es heute bei dir, Schatz?“, fragte ihn seine Mutter beim Abendessen. Ray hielt sich einen Löffel voll Nudelsuppe vor den Mund und pustete vorsichtig.

„Du zuerst“, sagte er und steckte ihn sich in den Mund.

Seine Mutter neigte den Kopf. „Wenn es klappt, kann ich die Schwangerschaftsvertretung für jemanden aus der Buchhandlung an der Kirche übernehmen.“

„Bringst du mir dann Bücher mit?“, fragte Lucy euphorisch.

„Wir müssen sie trotzdem kaufen, fürchte ich.“ Mutter lachte, und es bewegte Ray, sie so zu sehen. Sie war so stark. Der Kiosk war immer ihr Traum gewesen, auch wenn es harte Arbeit war.

„Ich werde mir auch wieder was Festes suchen. Keine unzuverlässigen Nebenjobs mehr.“ Er wusste nicht, ob seine Mutter ahnte, dass er die ganze Zeit gedealt hatte, aber ihr Lächeln wirkte erleichtert. „Ich würde gerne was Soziales machen. Hab da heute mit jemandem gesprochen. Die arbeiten mit Obdachlosen und alleingelassenen Jugendlichen und so.“ Er ließ den Löffel kurz sinken. „Aber das wird schwierig. Die hätten am liebsten ein Studium als Voraussetzung ... und meine Vorstrafe ist auch nicht gerade ein Pluspunkt.“

Seine Mutter und berührte ihn am Arm. „Gibt es denn trotzdem eine Möglichkeit?“

Er nickte. „Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, mochte mich. Ich kann erst mal im Jugendzentrum putzen und in der Küche aushelfen. Er will sehen, dass ich Einsatz zeige und ehrlich bin. Vielleicht sehen sie dann über meine Vorstrafe hinweg.“

„Ich werde dich bei allem unterstützen, was du dir vornimmst, Schatz.“

Lucy lehnte sich zu ihm herüber. „Ich auch, großer Bruder!“

 

*

 

„Ich finde das echt großartig und es passt so gut zu dir“, sagte Shane und gab ihm einen Kuss. „Das mit dem Studium kriegen wir schon irgendwie hin.“ Noch ein Kuss. „Ich könnte den blöden Flügel verkaufen. Spielt sowieso keiner mehr drauf.“ Noch ein Kuss.

Sie saßen in Shanes kleinem WG-Zimmer auf dem Bett.

„Hat dein Vater sich wieder eingekriegt?“

Shane machte eine abfällige Handbewegung. „Das dauert. Da liegt einiges im Argen. Und solange er so abfällig von dir spricht, will ich auch gar nicht mit ihm reden. Es gibt einiges, was er erst mal akzeptieren muss. Aber meine Mutter wirkt auf ihn ein und ich glaube, sie ist ziemlich begeistert davon, dass ich jetzt Medizin studiere.“ Ray lachte. „Oh, und Clara. Unsere Köchin. Die auch. Also sie ist sowieso von allem begeistert, was ich tue.“ Er schnaufte amüsiert. „Und sie will dich kennenlernen. Ich hab versprechen müssen, dass ich sie mit dir gemeinsam besuche, wenn Zeit ist. Du wirst sie lieben.“

Shanes Augen leuchteten immer, wenn er von Clara sprach. Ray kannte sie noch nicht, aber für ihn fühlte sie sich jetzt schon an wie Rays Familie. Einfach nur, weil er mit so viel Liebe von ihr sprach.

„Da bin ich mir sicher.“ Er neigte den Kopf. „Aber du solltest deine Eltern nicht bestehlen, um jemanden zu unterstützen, der am Rand der Gesellschaft lebt. Das hatten wir doch schon.“

„Der Flügel ist sowas von besudelt, dass mein Vater den nie mehr anrühren würde, wenn er es wüsste.“

Nun musste Ray doch lachen. „Mag sein, aber ich will nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, mich finanziell zu unterstützen. Ich habe mich selbst in diese Lage gebracht, weil ich ein dummer Teenager war. Und ich finde auch selbst einen Weg hinaus.“

„Ich weiß, dass du das schaffst“, sagte Shane und sah ihn ernst an. „Aber bevor irgendwas an dem blöden Geld scheitert denken wir uns was aus. Versprochen. Und für alles andere ...“ Shane griff in seine Hosentasche und zog etwas heraus, das er vorerst noch in seiner Faust verbarg.

Neugierig blickte Ray zwischen der Hand und Shanes Gesicht hin und her.

„Mir hat er Glück gebracht. Mehr Glück als irgendjemand haben kann“, sagte er, griff nach seiner Hand, öffnete sie, und legte den Gegenstand hinein. „Ich denke, das beweist seine Wirksamkeit. Ich habe ihn einen Tag, bevor du mir als Geist erschienen bist, bekommen.“

Ray musterte das kleine Ding in seiner Hand. Es war eine Figur. „Ein Frosch?“

Shanes Wangen nahmen einen dunkleren Ton an. „Der Froschkönig war als Kind mein Lieblingsmärchen. Clara hat es mir bestimmt dreihundertmal vorgelesen, wenn das reicht ... ‚In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat‘, so fängt es an, ich kann es bestimmt noch komplett auswendig, wenn ich mir Mühe gebe.“ Er lachte ein wenig peinlich berührt. „Sie hat mir den an meinem letzten Geburtstag geschenkt. Ich schätze, sie hat schon lange geahnt, dass ich Wünsche habe, und dass ich ein bisschen Glück brauchen könnte. Jetzt bist du dran.“

Ray besah sich den kleinen Frosch noch ein wenig, eher er die Finger darum schloss. Das war ein verdammt süßes Geschenk. Ihre Blicke trafen sich und hielten sich für einen langen Moment aneinander fest.

„Ich liebe dich“, flüsterte Shane.

Sie hatten in den letzten Wochen so viele ihrer Erinnerungen nachvollzogen, doch diese Worten waren immer nur in ihren Köpfen gewesen. Sie jetzt zu hören - wirklich zu hören –, fühlte sich an, als wäre endlich alles vollständig.

Ray lehnte sich vor und legte seine Lippen auf Shanes. Die kleine Angst vor der Zukunft, für die sie nun nur noch einen Versuch haben würden, war noch da, aber sie fühlte sich nicht bedrohlich an, sondern fügte sich in das Gefühl von Lebendigkeit und Freiheit ein, das er jetzt verspürte.