»MRS. WINTHROP...«
»Sara reicht«, sagte sie, »Zwei Silben weniger.« Sie kicherte nervös und bereute den Kommentar sofort. Es blieb keine Zeit für bedeutungslose Kommentare, die einer Erklärung bedurften. Sie benutzte diese Bemerkung jahrelang, um auf Formalitäten zu verzichten und als Gesprächseinstieg, und es war schwer, mit dieser Gewohnheit zu brechen.
Frag nicht, was es bedeutet... komm einfach zur Sache.
Es war ein Scherz zwischen ihr und Brian. Eines Nachts, ungefähr eine Woche nach ihrer Hochzeit, hatten sie einen lautstarken Streit über die effizienteste Art, den Geschirrspüler zu laden. Brian sagte, »Effizienz ist die Seele der Intelligenz, Sara« und sie antwortete, »Es ist die Kürze, du Blödmann. Kürze ist die Seele der Intelligenz und sie ist effizienter, weil sie weniger Silben hat.«
Von diesem Tag an, wenn eine bevorstehende Meinungsverschiedenheit drohte, außer Kontrolle zu geraten, sagte einer von ihnen: »Zwei Silben weniger«, und das beschwichtigte die Situation.
Detective Jonathan Johnson grinste sie an und schrieb etwas in seinen Notizblock. »Ich weiß, wir haben es eilig, aber wenn Sie wollen, können Sie mich gerne ‘DJ’ nennen. Detective Johnson. Oder JonJon, wenn Sie ein vierjähriger Junge sind, wie mein Neffe.«
»Das hilft«, log sie.
»Ich weiß nicht, warum ich es Leuten erzähle ...«
Sara unterbrach ihn. »Können wir anfangen? Tut mir leid, ich bin sicher, es ist ... die Zeit ist irgendwie ...« besorgt rieb sie ihre feuchten Handflächen an ihrer Hose trocken.
Seine Wangen wurden rot. »Natürlich, natürlich.«
Sie saßen sich gegenüber auf den unbequemen Stühlen mit den geraden Rückenlehnen in Mrs. Bennetts Büro, auf denen oft Eltern saßen, oder unbändige Schüler, wenn sie auf ihre Strafe warteten.
Detective Johnson, DJ
, war jünger als erwartet. Jünger als erhofft und sie fragte sich, wie neu er in seiner Position war. Da ihre Kinder verschwunden waren und ihre Welt um sie herum explodierte, wollte sie den Besten. Jemanden mit Erfahrung. Jemanden mit mehr erfolgreichen Fällen, die den Stempel ‘Gelöst’ trugen, als denjenigen, dessen Fälle ungeklärt blieben. Sie wollte ihr eigenes Traum-Team wie Michael Jordan und Magic Johnson.
Stattdessen saß ihr ein Mittdreißiger gegenüber, der aussah, als wäre er es gerade in den letzten sechs Monaten zum Detektiv befördert worden.
Oh, lieber Gott, die haben einen Anfänger geschickt, um nach meinen Kindern zu suchen. Unglaublich.
DJ beugte sich nach vorn. »Wie heißen Ihre Kinder?«
»Lacey und Callie. Die Zwillinge. 10 Jahre alt. Und dann Jacob. Er ist fünf.«
»Okay«, sagte er und machte sich Notizen. »Wann sind Ihre Kinder, Ihrer besten Schätzung nach, verschwunden Sara?«
»Ich schätze, heute Morgen gegen neun Uhr, basierend auf dem, was die Rektoren mir erzählten. Sie haben auch jemanden zu Whitetree geschickt, oder?« Sie rutschte auf ihrem Platz hin und her und fühlte sich schuldig, weil sie nicht gleichzeitig an beiden Orten sein konnte.
Der junge Mann schrieb noch einmal in sein Notizbuch. »Schon gemacht. Und bei Detective Barker sind sie in guten Händen. Er macht das schon länger als ...«
»Und Sie machen es schon – wie lange?« Ihr Herzschlag verlangsamte sich etwas bei dem Gedanken an jemanden mit Erfahrung, aber sie konnte nicht widerstehen zu fragen.
DJ lächelte, als hätte er gewusst, dass die Frage kommen würde. Zweifellos wurde er schon öfter gefragt. »Ich weiß, ich sehe so aus, als sei ich noch grün hinter den Ohren«, sagte er, »aber ich bin seit fünf Jahren bei der Vermisstenstelle, wo ich sehr eng mit Detective Barker zusammenarbeite. Die Leute nennen ihn Bluthund, also können Sie mir vertrauen ...«
»Hätten Sie noch weitere Fragen, Detective? Sara rutschte an den Rand ihres Stuhles. »Ich will Sie nicht unterbrechen, aber meine Kinder ... Ihre Fragen?«
»Sicher. Ich habe es genauso eilig wie Sie, also werden wir alles so schnell wie möglich durcharbeiten, okay?«
»Ja, tut mir leid, fahren Sie fort.«
DJ ging die Standardfragen durch, um herauszufinden, wie die Kinder verschwanden, ob sie jemals zuvor weggelaufen waren, ob es sich um Freunde oder unmittelbare Familienangehörige, Babysitter mit einer besonderen Vergangenheit handeln könnte, ob sie Feinde hätten oder ob sie in der Nachbarschaft fremde Fahrzeuge bemerkt hatte. Sie beantwortete alle so detailliert wie möglich und bevor sie die rätselhafte Nachricht erwähnen konnte, traf sie die nächste Frage mit voller Wucht.
»Und der Vater der Kinder? Wo ist er?«
»Weg«, war alles, was sie sagen konnte.
»Weg? Wie? Vorläufig weg, geschieden weg – verstorben weg?« Er fügte das Letzte mit ein wenig Besorgnis hinzu.
»Müssen wir darüber reden?«
»Wenn Sie glauben, dass er eine Person von Interesse sein könnte, brauchen wir diese Details, damit wir jede mögliche Alternative untersuchen können.«
Bevor ihr klar wurde, wie lächerlich diese Vorstellung war, tauchte die Möglichkeit auf, dass Brian daran beteiligt sein könnte.
Brian? Auf keinen Fall ... Brian?
»Das würde er nicht«, sagte sie.
»Wie bitte?«
Sie hörte die verwirrte Frage nicht. Was ist, wenn es Brian ist? Sie hatten nie eine Leiche gefunden und ein paar Leute dachten sogar, sie hätten ihn gesehen – Könnte er daran beteiligt sein? Könnte er zurückgekommen sein, um die Kinder abzuholen? Ist er gerade auf dem Weg zum Haus und hofft, mich zu überraschen? Gott, das wäre eine grausame Art wieder zurückzukommen. Und nach so langer Zeit. Ich würde ihm dermaßen in den Arsch treten, damit er genau dahin zurückfliegt, wo er herkam, wenn das der Fall ist.
»Sara?«
»Ja bitte?« Sie kam zur Gegenwart zurück und konzentrierte sich wieder.
»Alles in Ordnung?«
»Was – wie war die Frage?«
»Ihr Ehemann?«
»Richtig, richtig. Brian«, sagte sie und nahm sich ein paar Sekunden Zeit sich zu sammeln. Dann fügte sie hinzu: »Er hat nichts damit zu tun, Detective. Er wird seit zwei Jahren vermisst.«
»Vermisst? Haben wir eine Akte von dem Fall?«
»Vor zwei Jahren ging er eines Morgens ins Fitnessstudio und kam nie wieder zurück. Die Polizei hat damals sein Auto auf dem Parkplatz eines Lebensmittelgeschäfts gegenüber von Hollywood Bowl
gefunden. Im Bericht stand, es gäbe keine Anzeichen für ein Verbrechen, kein Blut, keine fremde DNA. Keine Hinweise. Er ist einfach verschwunden.«
»Ich erinnere mich an diesen Fall. Das war Ihr Ehemann?«
»Leider.«
»Ich habe das Gefühl, dass ich mich dauernd nur entschuldige, aber es tut mir leid, das zu hören.« DJ nutzte die Gelegenheit, um erneut in sein Notizbuch zu schreiben. Er räusperte sich. »Ich werde später einen Blick auf die Akten werfen, aber jetzt müssen wir uns wirklich konzentrieren ...«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. »Herein!«
Die Tür öffnete sich gerade weit genug, dass Dave seinen Kopf hereinstecken konnte. »Da ist ein Telef – «
Sara platzte heraus: »Habt ihr ihn gefunden?«
Dave schüttelte den Kopf. »Ein Telefonanruf für Sie auf der zweiten Leitung, Mrs. Winthrop.«
»Für mich? Wer ist es?«
»Stellte sich nicht vor. Eine Frau. Sie sagte, sie müsse mit Ihnen sprechen. Sie können es dort an Mrs. Bennetts Schreibtisch annehmen.«
Sara tauschte verwirrte Blicke mit dem Detective aus. »Soll ich rangehen?«
»Ja, natürlich. Es könnte eine gute Nachricht sein.«
»Ich hoffe, Sie haben recht.« Sie stand auf und eilte zum Schreibtisch. »Hallo, Sara Winthrop am Apparat.«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung war nicht weiblich. Sie war tief. Elektronisch. Synthetisiert.
Sie sagte: »Das Spiel beginnt jetzt. Du hast zwanzig Minuten, um zum Rose Garden Park zu gelangen. Alleine. Stell das Auto ab. Lass deine Schlüssel in der Zündung stecken und lass den Motor laufen. Lass alle persönlichen Sachen drin. Du erhältst dann weitere Anweisungen. Sag der Polizei nicht, wohin du gehst. Wenn du den Beweis dafür benötigst, dass dies echt ist, höre jetzt genau hin.«
Sie wurde fast ohnmächtig, als sie den Schrei hörte.
IM AUTO spielte sie es immer und immer wieder in ihrem Kopf ab.
»Mami!
«
Die darauffolgende Stille signalisierte sowohl das Ende als auch den Anfang.
Sara erkannte Laceys Stimme. Sie und Callie klangen am Telefon sehr ähnlich, aber Laceys Stimme war eine Note höher als die ihrer Schwester. Sie hatte Angst und sie hatte Schmerzen.
Die Stimmen aller ihrer Kinder hatten einen bestimmten Ton, wenn sie verletzt waren. Als Mutter kannte sie den Unterschied zwischen dem Aufschrei ihrer Kinder, wenn der Zeh verstaucht oder der Arm gebrochenen war. Laceys Schrei lag irgendwo dazwischen.
Saras Gewissensbisse schwollen in ihr an wie bei einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
Sie fuhr schnell, nahm jede erdenkliche Abkürzung, wich dem Verkehr aus und fuhr über die Parkplätze, um Ampeln und lange Schlangen zu vermeiden. Sie nahm den Fuß vom Gas, als sie einen, in die Gegenrichtung fahrenden, Polizeiwagen sah und trat erneut kräftig aufs Pedal, als er außer Sicht war. Sie verfluchte die mangelnde Beschleunigung des Hybridautos und den Gruppenzwang ihrer Freunde, umweltbewusst zu werden.
Naturschutz hatte nichts mit ihrer Situation zu tun, sie wusste es, aber sie musste ein Ventil für ihre Wut haben, oder sie riskierte, jetzt auf ihrem Sitz zu explodieren. Da sie keine Ahnung hatte, wer hinter diesem dummen Spiel steckte, hatte sie nichts und niemanden, worauf sie die Schuld schieben konnte, also brauchte sie vorerst etwas anderes, worauf sie wütend sein konnte.
Sie wollte den Entführer erwürgen, aber bis sich diese Chance bot, konnte sie nur ihr Umweltbewusstsein verfluchen.
Sie nahm den Weg über die Burnside Brücke und warf einen Blick auf die Uhr im Minivan.
Noch zehn Minuten. Schaffe ich nie im Leben.
Sie fragte sich, was Detective Johnson wohl gedacht oder getan hat, als sie in aller Eile aus dem Büro rannte. Sie knallte den Hörer auf und die Röte in ihren Wangen und die Spannung in ihrem Gesicht zeigten, dass der Anruf nicht die gute Nachricht war, auf die sie gehofft hatte.
Bevor er sie fragen konnte, sagte sie: »Ich muss gehen. Folgen Sie mir nicht
. Aber hier ist ihr erster Hinweis.« Sie holte den Zettel aus ihrer Handtasche und drückte ihn in seine Hände. »Finden Sie heraus, woher das kommt. Ich rufe Sie an, sobald ich kann.«
Er versuchte zu protestieren, aber sie verließ das Büro viel zu schnell, um ihn noch zu hören.
Und jetzt, als sie über die Brücke fuhr, wünschte sie sich, sie hätte Zeit gehabt, ihm mehr Informationen zu geben; ihm zu erzählen, was die Stimme am Telefon gesagt hatte, und um einen Plan auszuarbeiten, damit sie nicht so ganz ohne Unterstützung in das hineineilen würde, was sie im Rose Garden erwartete.
Dieses sogenannte Spiel alleine zu spielen.
Sara überlegte, Miss Willow anzurufen, nur um eine beruhigende Stimme zu hören, aber es ergab keinen Sinn der Frau auch einen Schrecken einzujagen und zu riskieren, zu viel Information weiterzugeben. Aber die Stimme sagte nur: »Kein Wort zur Polizei.«
Sollte sie das Risiko eingehen, mit noch jemandem zu reden?
Nein, noch nicht. Wer weiß, was sie den Kindern antun würden, wenn sie es herausfänden.
Sie.
Plural. Definitiv mehr als nur die Person am Telefon angesichts der zeitlichen Koordination. Was bedeutete, dass sie es mit einer Gruppe
von Leuten zu tun hatte. Sie könnte eine Person bewältigen, wenn sie die Chance dazu hätte. Möglicherweise.
Sara spielte es in ihren Gedanken ab: Ein gut platzierter Tritt in die Eier oder mit der Stirn gegen die Nase knallen, dann mit dem Knie auf den Kehlkopf, wobei sie ihn mit dem gesamten Gewicht herunterdrückt. Es wäre machbar. Aber mehr als einer? Auf keinen Fall. Sie stellte sich vor, umzingelt zu sein und in der Mitte des Kreises zu stehen. Sie prügelt einen und wird dann selbst von einem Haufen bösartig-grinsender Verbrecher verprügelt.
Sie nahm die Ausfahrt und kam an einer jungen Frau vorbei, die langsam vorbeirannte.
Eine Frau.
Warum drang die Tatsache, dass es um eine Frau handelte, aus ihrem Unterbewusstsein hervor? Was war der Auslöser und warum schien es wichtig zu sein?
Dave sagte
, eine Frau sei für mich am Telefon
.
Eine Frau.
In ihrer Eile hatte sie dieses besondere Detail vergessen. Aber war es ein Lockvogel? Verwendeten sie den Sprachsynthesizer, um die wahre Stimme der Person als die einer Frau zu maskieren? Wenn es eine Frau wäre
, würde das die Liste der Möglichkeiten um die Hälfte einschränken.
In der Schulbroschüre stand, dass es sich bei den Entführern meist um Männer, Freunde oder Familienmitglieder handelte, und sie kannte definitiv keine Frauen, die dazu fähig wären.
Sie hatte keine Familie in der Gegend. Alle wohnten in Virginia. Brian kam aus einer kleinen Familie von Winthrops im US Staat Washington. Seine Eltern waren verstorben. Seine Schwester lebte in Des Moines. Die übrigen Tanten (und Onkel und Cousinen) waren, im fast ewig regnerischen Seattle, geblieben. Ihre Freunde mochten ihre Kinder. Ihre Assistentin Shelley, ihre Mitarbeiter und alle anderen Frauen bei LightPulse waren gutmütig und freundlich. Sogar die Kollegen, die schon länger da waren als sie, zeigten keinerlei Verbitterung als sie zur Vizepräsidentin befördert wurde. Warum auch?
Es konnte einfach niemand sein, den sie kannte, oder?
Hinter verschlossenen Türen sind Leute ...
Nein, das war nicht möglich. Keine nahestehende Person. Es musste eine Fremde sein. Musste.
Aber was wäre, wenn es nicht so ist?
Sie fuhr Nob Hill hinauf in Richtung Rose Garden, kam immer näher, checkte alle Möglichkeiten ab, überprüfte jede Frau, die sie kannte und verwarf jede einzelne Idee, jede aus verschiedenen Gründen. Die meisten hatten Jobs und ihr Leben war busy. Einige waren Hausfrauen und Mütter, die nur darauf aus waren, das Chaos zu beherrschen, das ihre kleinen Kinder tagtäglich verursachten. Die hatten keine Zeit eine organisierte Entführung zu planen.
Das aber würde keine von ihnen davon abhalten, einen Anruf zu tätigen, aber keine von ihnen hat ein Motiv dafür. Keine einzige von ihnen hätte einen guten Grund – oder?