DETECTIVE JOHNSON, DJ, saß, über seinen Schreibtisch gebeugt und las Brian Winthrops Akte. Er versuchte, den Lärm um sich herum zu ignorieren und sich zu konzentrieren, aber die raschelnden Papiere und klingelnden Telefone und der nahezu ständige Verkehr zwischen den Schreibtischen, behinderten seine Bemühungen. Er hob seine Kaffeetasse und schluckte den letzten Rest des Kaffees, der nach Ölraffinerie-Resten schmeckte.
Barker, alias der Bluthund
, starrte ihn durch seine Bifokalbrille an. »Mit dem Zeug könntest du Farbe von der Wand schälen, JonJon. Stell dir vor, was es mit deinem Magen macht.«
DJ schaute von der Akte auf. »Schon wieder?«
»Schon wieder was?«
»Schon wieder der Spitzname - JonJon.«
»Es ist deine Schuld, Cowboy. Ich weiß nicht, wie das Leben da drüben in Texas aussieht, aber hier bietet man einem Mann keine Schlinge an, mit der man selbst gehängt werden kann.«
»Du musst an diesem Akzent arbeiten. Ein echter Texaner würde dir in den Hintern treten, für diesen lahmen Versuch.«
»Sagst du jetzt, dass du kein echter Texaner bist?«
DJ schüttelte den Kopf und grinste. Ein ähnlicher Austausch fand mindestens einmal am Tag statt und er nahm dieses Necken als Zeichen dafür, dass Barker ihn, nach fünf Jahren, doch sympathisch fand. Bis vor ungefähr einem halben Jahr war alles, was über ihre Beziehung gesagt werden konnte, nur ‘Dasselbe Auto, derselbe Job’. Aber als DJ einen Fall löste, der selbst den großen und mächtigen Bluthund ratlos machte, öffnete sich in dem älteren Detective eine mikroskopische Naht in der Rüstung. Sie waren noch keine Freunde, aber zumindest sah DJ etwas Respekt, wenn auch nur in der Ferne, und nur mit einem Fernglas.
Und in Wahrheit war ‘Respekt’ vielleicht zu viel gesagt. Er hatte das Gefühl, als hätte er es verdient, aber die Art und Weise, wie Barker ihn behandelte, deutete darauf hin, dass das noch nicht der Fall war. Nicht von Barker, nicht von den anderen Detektiven. Aber eines Tages würden sie ihn respektieren und zu ihm aufschauen. Eines Tages.
Die drei-Stunden-Frist für Entführungen endete vor dreißig Minuten. Barker bestand darauf, ins Büro zurückzukehren und die Akte des vermissten Mannes zu überprüfen, da ihm sein Instinkt sagte, dass Brian Winthrop der Katalysator in dem Fall war. DJ willigte fraglos ein, teils aus Respekt vor dem leitenden Detektiv, teils weil er die Zuverlässigkeit von Barkers Instinkt so oft miterlebt hatte, dass er wusste, dass er so zuverlässig war, wie der Sonnenaufgang.
Das Hauptmantra von Barker – das zu so vielen gelösten Fällen führte, war einfach: Die Natur gab uns die Werkzeuge, aber nicht jeder von uns weiß, wie man sie richtig einsetzt.
Aber jetzt, mit einer kleinen Akte und keinen neuen Spuren, wünschte sich DJ, er hätte sich mehr Mühe gegeben im Außendienst tätig zu sein, zu suchen und Fragen zu stellen. Anstatt einen der verworrensten Fälle zu durchforsten, den die Abteilung in den letzten zehn Jahren gesehen hatte, sollten sie sich lieber auf die Gegenwart konzentrieren. Detective Wallace, der vor einem Jahr in den Ruhestand getreten war, war vom völligen Verschwinden von Brian Winthrop so verblüfft, dass er in seinen Unterlagen folgendes vermerkte: »Bessere Chance, Amelia Earhart zu finden.
«
Barker sagte mit der Toleranz eines gutmütigen Großvaters: »Hör auf, auf die Uhr zu schauen, DJ. Ich weiß, wie spät es ist. Hättest du Mrs. Winthrop nicht gehen lassen, hätten wir jetzt wenigstens eine Spur.«
»Ich habe es dir schon gesagt, sie gab mir den Zettel und rannte hinaus. Was sollte ich tun, sie auf dem Parkplatz festnehmen?«
»Du hättest sie verfolgen können. Weniger auffällig.«
Das war jetzt schon das dritte Mal, dass sie das diskutierten. »Wie ich schon sagte, sie bat mich, ihr nicht zu folgen.« Er erwähnte nicht, dass sie ihm befahl
, ihr nicht zu folgen.
»Seit wann hörst du auf jemanden der ein Verdächtiger sein könnte?«
»Seit du
mir beigebracht hast, meinen Instinkten zu vertrauen. Und sie ist nicht verdächtig.«
»Leute lügen, DJ ...«
»…selbst, wenn sie glauben, die Wahrheit zu sagen.«
Ich weiß, Barker, aber was auch immer es war, es hatte mit diesem Zettel und ihren Kindern zu tun. Zweifellos.«
»Sie könnte inzwischen tot sein.«
DJ hatte keine Antwort darauf, aber er hoffte, dass das nicht der Fall war. Er sah auf seinen Schreibtisch, auf die Nachricht, die Sara auf ihrer Windschutzscheibe gefunden hatte und die jetzt als Beweisstück in einer Asservatentüte lag.
Bist du bereit, das Spiel zu spielen?
Er hielt es hoch und fragte: »Also, was haben wir hier? Was ist das?«
Barker nahm die Brille ab und kaute am Bügel. »Rätsel«, sagte er. »Es ist ein Zeichen dafür, dass wir es mit etwas anderem zu tun haben als einem gewöhnlichen Entführer, der nach Lösegeld trachtet. Was wir hier haben, ist ein Soziopath, der mit dieser Frau spielen will. Er spielt ein Spiel – aus Mangel an einem besseren Wort – und wenn es das bedeutet, was ich denke, ist er schlauer als ein durchschnittlicher Möchtegern, der Fehler machen würde.«
»Was glaubst du, was das bedeutet?«
»Er hat das Spiel erfunden, er kann die Regeln ändern«, sagte er. »Das, Cowboy, ist weder für uns, und noch für Mrs. Winthrop, ein gutes Zeichen, fürchte ich.«
»Denkst du, es ist der Ehemann? Ist er der Grund, warum wir hier sitzen und diesen nutzlosen Bericht durchgehen?«
»Geduld. Was ich weiß
ist, dass, wenn es um Fälle wie diese geht ...«
»Zufälle bringen Täter hinter Gitter und garantieren unser Gehalt.
« DJ schnaubte und legte den Zettel wieder auf den Schreibtisch. Er starrte ihn an und dachte an das Interview mit Sara und den Anruf, der für sie kam. »Eine Frage.«
»Eine Antwort.«
»Du sagst immer wieder er
, aber woher wissen wir, dass es keine sie
ist? Der Sekretär der Schule sagte, dass eine Frau Sara anrief.«
»Mrs. Winthrop
. Unterschätze sie nicht. Es hätte eine Komplizin sein können am Telefon. Das solltest du immer in Erwägung ziehen. Außerdem besagt die Statistik, dass das Verhältnis etwa acht zu eins beträgt, männlich zu weiblich. Zahlen lügen nicht...«
Zahlen lügen nicht, Leute lügen.
»Und je früher du das lernst, desto einfacher wird meine Arbeit. Lies die Winthrop Akte nochmal durch. Wir müssen etwas übersehen haben.« Er lehnte sich zurück, setzte seine Brille wieder auf und las weiter. Nur mit einer Pfeife, einem Smoking Jackett, und ein paar teuren Hausschuhen, hätte er noch entspannter aussehen können. Vielleicht noch mit einem Kamin und einem Bücherregal aus Mahagoni ...
Du bist auf der falschen Spur, Bluthund. Wir verschwenden Zeit.
Aber er sagte nichts mehr. Mit null festen Anhaltspunkten und einer Mutter, von der sie nicht wussten wo sie ist und die nicht ans Telefon ging, hatten sie keine handfesten Spuren. Er und Barker beklagten sich darüber, wie wenig hilfreich die Aussagen der Mitarbeiter beider Schulen waren. Und die Babysitterin, Willow Bluesong, nahm seine Anrufe nicht an und war nicht zu Hause, als sie auf dem Rückweg zum Revier bei ihr vorbeigingen.
DJ gab sich damit ab, die Akte noch einmal zu lesen und entschied, dass er, wenn er fertig war, zu LightPulse gehen würde. Mit oder ohne Barker.
BRIAN JACOB WINTHROP war gerade 38 Jahre alt geworden, als er an einem Freitagmorgen im Mai verschwand. Er war zwei Jahre älter als seine Frau Sara und Vater von Zwillingsmädchen und einem Jungen. Er arbeitete als Finanzanalytiker für eine kleine Investmentgesellschaft und führte ein eigenes Geschäft im Ostteil von Portland, das jeden Wochentag von 8 bis 17 Uhr geöffnet war. Er aß im Sandwich-Shop nebenan zu Mittag und spielte an den Wochenenden Softball, wenn er keine familiären Verpflichtungen hatte. Die Aufzeichnungen des Sportzentrums zeigten, dass er jeden Montag, Mittwoch und Freitag eine Stunde schwamm und an den Tagen, seit fünf Monaten kein Training verpasste. In der Woche zuvor, in der er sie verpasste, war er laut seiner Frau auf einer Konferenz in San Diego.
Er war nicht vorbestraft, außer zwei Strafzetteln. Er hatte keine ausstehenden Schulden, keine Hypothek und sie standen in mancher Hinsicht finanziell recht gut, sogar ziemlich gut da. In der Rezession kämpfte er darum neue Kunden zu gewinnen, aber er investierte das Geld seiner bestehenden Kunden mit Bedacht. Kein verlorenes Geld, auch kein böses Blut.
Keine Spielsucht, keine fragwürdigen Transaktionen, keine Strip Clubs. Kein Grund, sich auf dubiose Geschäfte einzulassen. Seine Frau, Sara, gab zu, dass sie auf ihrer Hochzeitsreise einmal Marihuana geraucht hatten, aber das sei das letzte Mal gewesen. Drogen waren kein Faktor und sie tranken selten, sodass Alkoholismus und seine destruktiven Nebenwirkungen wahrscheinlich auch keine Faktoren waren. Sie hatten, wie die meisten Paare, Meinungsverschiedenheiten über Finanzen und Verpflichtungen, aber es war in letzter Zeit nichts passiert, was ihn dazu gebracht haben könnte, seine Familie zu verlassen.
Von dem, was DJ so sah, war der Typ ein normaler Ehemann und Vater, und völlig sauber.
Er erinnerte sich an ein weiteres Sprichwort von Barker. »Es gibt keine perfekten Engel auf Erden.« Manchmal stand die Art wie er versuchte weise zu sein, seinen eigentlichen Botschaften im Weg.
Könnte es das sein? War er zu sauber? Ist es das, wonach Barker sucht? Ich sehe, verdammt nochmal, gar nichts auffälliges.
DJ schlug die nächste Seite auf.
Winthrop packte an diesem Morgen seine Fitness Klamotten, küsste seine Frau und ging dann ins Studio. Das war das letzte Mal, dass Sara ihn gesehen hatte, und drei Tage später wurde sein Fließheck-BMW auf dem Parkplatz eines Lebensmittelgeschäfts gefunden. Es gab keine merkwürdigen Fingerabdrücke: nur seine, die seiner Frau und die ihrer drei Kinder. Keine sekundären DNA-Spuren, kein Blut, keine ungewöhnlichen Haarproben. Keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen in das Auto. Überhaupt keine Anzeichen für ein Verbrechen.
Das einzig Merkwürdige, das Detective Wallace damals bemerkte, war die Tatsache, dass das Auto innen so sauber war und es so aussah, als wäre es erst an diesem Tag gewaschen worden. Er war der Ansicht, dass das Auto eines Vaters mit drei kleinen Kindern, voller Krümel, Pommes Frites und genug Müll sein sollte, um ein Baseballfeld damit zu abzudecken. Wallace überprüfte die Kreditkartentransaktionen, um einen Zeitrahmen für seinen Verbleib zu erstellen, aber dabei kam auch nichts heraus.
Es wurde nie Geld von ihren Bankkonten abgehoben und es gab keine zusätzlichen Pings bei der Kreditkartennutzung. Kein Kleidungsstück, das er besaß, fehlte in seinem Schrank. Wohin Brian auch ging, die einzigen Dinge, die er mitgenommen hatte, waren seine Schlüssel, seine Brieftasche, seine Sporttasche und den Trainingsanzug, den er an dem Tag trug.
Bis auf eine Reihe von unzuverlässigen Augenzeugenberichten hatte sich Brian Winthrop in Luft aufgelöst.
»Barker«, sagte er.
Sein Partner schaute von seiner Kopie des Berichts auf.
»Ich finde nichts. Der Typ ist ein Geist, Mann. Schwupp ... weg.«
Barker sagte: »Du hast teilweise recht.«
»Wieso?«
»Er ist weg.«
»Wohin?«
»Sieht irgendetwas in diesen Augenzeugenberichten verdächtig aus?«
»Abgesehen von der Tatsache, dass sie unzuverlässig sind?«
»Sieh sie dir nochmal an.«
DJ hasste es, wenn Barker versuchte, ihn zu testen, aber er spielte mit. Er überprüfte die Liste erneut. »Stadtrand von Portland, einen Tag nach dem sie sein Auto gefunden haben. Jemand dachte, sie hätten ihn danach in Eugene gesehen. Grants Pass. Eureka. Der letzte war in San Francisco, drei Wochen nachdem er verschwunden war. Wer würde sich drei Wochen später noch daran erinnern, was für einen Kerl er gesehen hat?«
»Und?«
»Und was, Barker? Ein Meter achtzig groß, braunes Haar, braune Augen. Na toll, wir haben unsere Möglichkeiten auf die Hälfte der männlichen Bevölkerung in den USA beschränkt. Es hätte jeder sein können. Du sagst es ja immer: Was die Leute sehen und was sie zu sehen glauben, sind zwei völlig verschiedene Dinge.«
»Wir sollten ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen, JonJon. Dafür sind wir hier, aber du musst verstehen, dass der Verstand Verbindungen herstellt«, sagte Barker und zeigte auf seine Schläfe. »Es ist ein verdammt komplexer Computer. Was mir auffällt – und was du auch sehen solltest – ist, dass er, wenn diese Berichte zuverlässig sind, vielleicht nach Süden gegangen ist. Warum ging er nach Süden
? Das bedeutet etwas.«
DJ stand vom Schreibtisch auf und griff nach seinem Abzeichen und seiner Waffe. »Das ist erbärmlich«, sagte er. »Wenn der echte Barker auftaucht, der keine Vermutungen anstellt, die auf völligem Unsinn beruhen, lass es mich wissen. Ich werde nach den Kindern dieser Frau suchen, die jetzt
vermisst werden, und nicht nach einem Mann, der vor zwei Jahren verschwunden ist.«
»Die Anzeichen sind da, DJ. Es hängt irgendwie zusammen. Warum? Welchen Grund hatte er nach Süden zu gehen?«
»Weil die Nachrichten so verbreitet wurden, Barker. Die Leute sahen sein Bild im Fernsehen, es schuf ein Bild in ihrem Gehirn und dann dachten sie, sie hätten ihn am nächsten Tag an einer Tankstelle gesehen, während es in Wirklichkeit ein zufälliger Typ auf dem Weg zur Arbeit war. Du jagst deinem eigenen Schwanz nach. Ich gehe jetzt zu LightPulse.«
Sergeant Davis trat ein und blockierte DJs dramatischen Abgang. Er sagte: »Barker, du und der Cowboy hier müssen in den Rose Garden gehen. Der Bericht über eine verrückte nackte Frau, die der Beschreibung von Sara Winthrop entspricht, kam gerade an.«
DJ dankte ihm und sagte dann zu Barker: »Nun?«
»Klingt so, als hätte das Spiel bereits begonnen. Okay, du gehst in ihr Büro, ich gehe zum Rose Garden. Das heißt aber nicht, dass ihr Mann in diesem Fall irrelevant ist, verstanden? Und bring diesen Zettel, auf dem Weg nach draußen, ins Labor damit sie ihn auf Abdrücke prüfen können.«
Er nickte und salutierte kurz.
Nackt im Rose Garden? Was für ein Spiel spielst du, Sara?