Kapitel 9
DJ
DJ saß in einem weichen Ledersessel gegenüber von Jim Rutherford, dem Generaldirektor und Präsidenten, von LightPulse Productions. Das Privatbüro verfügte über eine Glaswand, die einen Blick auf die Innenausstattung des Unternehmens bot. Eine andere war mit Werbeplakaten von alten Computer Spiele bestückt und hinter der Wand befanden sich mehrere Auszeichnungen und Familienfotos. Die Jalousien an den Fenstern rechts von ihm waren fast zugezogen, sodass nur schmale, parallele Sonnenstrahlen den Raum erhellten. Die Deckenlampen waren aus und er hatte keine Schreibtischlampe, um ein angenehmeres, gedämpftes Licht zu verbreiten.
Die höhlenartige Atmosphäre erinnerte DJ an das geheime Versteck eines Superbösewichts.
Der Schreibtisch war so groß wie eine Matratze und, bis auf einen Notizblock, einen Stift und einen Laptop, seltsamerweise leer. DJ hatte Berge von Papierkram erwartet und ein ständig klingelndes Telefon. Oder wenigstens ein Namensschild und kitschigen Schnickschnack; einen Kugelstoßpendel vielleicht. Stattdessen erweckte die Kargheit des Schreibtisches den Eindruck, dass dies ein Mann ist, der wenig Zeit für Ablenkungen hat. Oder ein Mann, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die nahezu ständigen Ablenkungen zu beseitigen, die mit der Führung eines wachsenden Unternehmens wie LightPulse einhergingen. Es war eine bewundernswerte Qualität - eine, von der DJ wünschte, er hätte sie auch.
Jim war nicht wie ein durchschnittlicher Firmenpräsident gekleidet. Zumindest nicht wie die, mit denen DJ zuvor zu tun hatte. Sein kurz rasiertes graues Haar passte zu dem schlichten schwarzen T-Shirt, das er trug, und zu den Jeans und Turnschuhen, die andeuteten, dass er ein Mann war, der sich anzog, wie er wollte, weil er das Sagen hatte.
DJ dachte, der Typ sieht aus wie eine schlechte Kopie von Steve Jobs.
Jim sagte: »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, im Dunkeln zu sitzen, Detective. Es ist besser für meine Augen. Ich habe zu viele Jahre unter diesen verdammten Büroleuchten gearbeitet. Sie bereiten mir Kopfschmerzen.«
»Seit wann beschäftigen Sie sich mit Videospielen, Mr. Rutherford? Ich war damals ein großer Fan vom Shotgun Shooter Spiel .« DJ wusste, dass er mit seinen Fragen nicht gleich zur Sache kommen sollte. Er verlor zwar immer mehr Zeit, aber dem Mann mit seinem Miniatur-Ego zu schmeicheln, konnte nicht schaden. Wie Barker sagte: »Bienen mit Honig, DJ. Mehr Bienen mit mehr Honig.«
»Ungefähr dreißig Jahre. Ich war in einem der ursprünglichen Atari-Teams, wenn Sie es glauben können. Sie mochten also Shooter? Oh, die Erinnerungen. Das war damals, als diese Firma noch ein winziger Laden war und ich immer noch an der Programmierung beteiligt war. Blockpixel, Scrollen von links nach rechts, 2D-Welten. Ich vermisse diese Zeiten. Jetzt haben wir diese 3D-Meisterwerke, in denen unsere Spieler herumlaufen können und die so groß sind wie Portland. Aber, zum Teufel, das ist genau das, was die Spieler wollen.« Jim schlug die Beine übereinander. »Ich habe mit der Idee einer Rückkehr zu 2D gespielt, um der alten Zeiten willen, aber nachdem Sara schon die Lunte unter der Juggernaut -Serie gezündet hatte, hätten uns die Medien für einen solchen Gag aufgefressen.«
Hört sich nach Bedauern an, ist aber kein ausreichendes Motiv für eine Entführung. »Haben Sie heute mit ihr gesprochen?«
»Kein Wort. Seit sie heute Morgen weggegangen ist, versuche ich, mit ihr in Kontakt zu treten, aber sie geht nicht ans Telefon.«
»Und Sie wissen, dass ihre Kinder vermisst werden?«
»Ihre Assistentin Shelley berichtete mir davon. So eine Schande. Sie hat süße Kinder und ich hoffe, ich kann helfen. Haben Sie schon irgendwelche Hinweise?«
»Wir arbeiten daran. Wie gut kennen Sie Sara - ich meine, Mrs. Winthrop?«
»Wir stehen uns nah. Sie ist manchmal wie ein Bulldozer, aber sie ist eine meiner Favoriten. Ich bin mir sicher, dass Sie verstehen, dass ich verdammt beschäftigt bin, diese Firma zu leiten, aber ich versuche alle hier persönlich zu kennen, wissen Sie. Ich gebe mein Bestes, um mit meinen Leuten an vorderster Front zu arbeiten, damit sie nicht glauben, ich sei eine Möwe.«
»Möwe?«
»Fliegt rein, scheißt auf alles und fliegt wieder raus.«
DJ kicherte. »Ich glaube, ich kenne ein paar von der Sorte.« Er mochte den Mann, hatte das starke Gefühl, dass er nicht in Verdacht kam und bereute es, seine nächste Frage stellen zu müssen. »Sind Sie in irgendeiner Weise am Verschwinden von Sara Winthrops Kindern beteiligt?« Eine so gezielte Frage würde offensichtlich keine positive Antwort erhalten, aber sie sollte Rutherford überraschen, um seine unmittelbare Reaktion sehen zu lassen.
»Definitiv nicht.«
Die klare, endgültige Antwort, die, zusammen mit der Körpersprache eines grundehrlichen Mannes, genau die Antwort war, die DJ suchte, stand im Gegensatz zu den ausweichenden Antworten und nervösen Ticks einer Person, die sich am Anfang einer Lüge befand. Er fragte: »Und haben Sie eine Idee, wer es sein könnte?«
»Nicht im Geringsten. Wie ich schon sagte, sie ist eine beinharte Frau, aber hier in der Firma«, sagte er und deutete auf die Glaswand und das offene Büro auf der anderen Seite, »ist sie sehr beliebt. Respektiert. Einige der jüngeren Kids haben eine gesunde Dosis Angst vor ihr, aber ich mag das an Sara. Um ehrlich zu sein, erschreckt sie meinen Sohn Teddy, was belustigend ist und offen gesagt denke ich, dass er deswegen bessere Arbeit leistet. Aber draußen in ihrem Privatleben, muss ich leider sagen, dass ich nicht weiß, was die Leute von ihr denken. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es viel anders ist. Hier im Büro ist sie großartig, Detective Johnson, und ohne sie wären wir verloren.«
»Und Sie glauben nicht, dass dieses Verhalten ausreichen würde, um eine gewisse Feindseligkeit zu erzeugen?«
»Feindseligkeit? Das ist natürlich möglich, aber wenn jeder arme Trottel der sauer ist die Kinder seines Chefs entführte, gäbe es keine Kinder mehr.«
»Stimmt, Mr. Rutherford, aber ich versuche, ein Motiv zu finden. Es muss von irgendwoher kommen und ein wütender Angestellter ist ein guter Anfang.«
»Nicht mit den Kids, die wir hier haben. Sie wollen einfach nur Videospiele spielen und Spaß haben. Sara ist wie die – zum Teufel, wie nennt man die ältere Frau, die in einer Schwesternschaft wohnt?«
»Die Hausmutter«, antwortete DJ, da er den Begriff kannte, weil seine Frau Jessica Mitglied einer Schwesternschaft an der Universität von Oregon war. Ihr Zögern, ihren Heimatstaat zu verlassen, war der Grund, warum er sich von Texas verabschiedet hatte. Aber für sie hätte er alles getan.
»Das ist es, die Hausmutter«, sagte Jim. »Sie ist entweder die Hausmutter oder der Drill Sergeant, den man irgendwann doch mag und respektiert, obwohl er einem mehrfach mit seinen großen Knobelbechern in den Arsch getreten hat.«
DJ wusste, was er meinte. Vier Jahre in der Armee, zwei davon als Militärpolizist, hatten lebhafte Erinnerungen an Arschtritte hinterlassen. Er sagte: »Ich hatte auch so einen. Ob Sie es glauben oder nicht, jetzt schicken wir uns gegenseitig Weihnachtskarten. War Sara jemals beim Militär?«
»Nein, es sei denn, sie war in einem Trainingsprogramm für Reserveoffiziere, als sie noch an der Uni war, aber ich erinnere mich nicht so etwas in ihrem Lebenslauf gelesen zu haben. Sie hat hier gleich nach dem Abschluss angefangen zu arbeiten und war, vom ersten Tag an, ein Star. Was Sara hat«, sagte Jim, »ist eine innere Stärke.« Er stöhnte, als er aufstand und massierte sich den Rücken. Er ging mit einem leichten Hinken zum Fenster, zog zwei Jalousien auf und warf einen langen Blick auf die Welt draußen.
DJ wartete. Laut Barker würden Personen, wenn Sie lange genug geschwiegen hätten, in der Regel mehr Informationen anbieten, als wenn Sie sie direkt nach etwas gefragt würden. Die Leute wollen reden, DJ. Hören ist Wissenschaft – aber Zuhören ist eine Kunst.
Jim sah immer noch aus dem Fenster und sagte: »Detective?«
»Ja?«
»Was ich Ihnen jetzt erzählen werd...« Die Jalousien wurden mit einem metallischen Klirren zugezogen. »... sollte mit etwas Diskretion behandelt werden«, sagte Jim. Er lehnte sich an seinen riesigen Schreibtisch und verschränkte die Arme. »Tun Sie, was Sie wollen, und ich verstehe vollkommen, dass Sie eine Untersuchung durchführen müssen, aber ich bitte Sie, diese unter Kontrolle zu halten. Ich fühle mich schuldig, wenn ich das sage, aber ich habe ein Geschäft im Wert von mehreren Millionen Dollar zu führen, und ich kann nicht riskieren, dass Saras Autorität untergraben wird, falls — nicht falls, — wenn, Sie ihre Kinder finden und sie wieder im Büro ist.«
Da ist es. Da ist der skrupellose Geschäftsmann. Ihr seid alle gleich. Zumindest hast du es bis hierhingeschafft.
Er sagte: »Ich werde mein Bestes tun, Mr. Rutherford. Sie haben ein Geschäft zu führen, aber ich muss drei vermisste Kinder finden.«
»Ist mir klar«, sagte Jim und hielt inne. Er wippte mit dem Fuß. »Ich war mir nicht sicher, ob ich das erwähnen sollte, weil ich immer nur schwarz-weiß denke. Einsen und Nullen. Etwas ist oder es ist nicht. Diese Information ist reine Spekulation, verstehen Sie?«
»Ja sicher.«
»Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle.« Jim rutschte auf dem Stuhl hin und her. Er warf einen Blick an die Decke und dann auf den Boden. Sein Fuß wippte schneller. »Ah, verdammt, was ich zu sagen versuche ... bevor Saras Ehemann verschwunden ist, hatte ich das Gefühl, dass er sie betrügt.«
DJ verdrehte die Augen. Nicht du auch noch. Der Ehemann, der Ehemann. Ich suche die Kinder, verdammt noch mal.
»Auf der Weihnachtsfeier - warum ist es immer die Weihnachtsfeier? – wie dem auch sei, unterhielt sich Sara mit einigen Programmierern im ‘Belly’ und hinten im Raum sah ich, wie Brian hereinkam und aussah, als sei er außer Atem und ungefähr dreißig Sekunden später kam eine der Kellnerinnen hinter ihm herein und setzte frischen Lippenstift auf.«
DJ sagte: »Nicht gerade ein Beweis dafür. Und ich verstehe nicht, wie das damit zu tun hat, dass die Kinder vermisst werden.«
»Nein, wahrscheinlich nichts. Wie ich schon sagte, reine Spekulation, aber was wollte ich damit sagen – meine Gedanken wandern, Detective. Ich habe mir diese verrückten Ideen ausgedacht. Handlungsstränge, verstehen Sie? Ich meine, das ist es, was ich beruflich mache. Ich möchte Sie nicht mit daher fantasierten Szenarien ablenken, aber was ist, wenn es Brian ist? Was, wenn er wegen der Kinder zurückkam?«
»Das werden wir in Erwägung ziehen.«
»Sie denken nicht, dass da was dran ist, oder?«
»Es steht nicht ganz oben auf meiner Liste, Mr. Rutherford«, sagte er. Dann tauchte wieder ein Barkerismus in seinem Kopf auf: »Zunächst alle Möglichkeiten einräumen, aber später nur den Fakten vertrauen. « DJ rückte seine Krawatte zurecht, zappelte auf seinem Stuhl hin und her, frustriert von der Tatsache, dass Barker selten falsch lag und sich der Theorie vom Ehemann als Täter Gewicht gab. Und jetzt spielte Rutherford auf dasselbe an. »Nehmen wir an, es ist der Ehemann, Brian Winthrop, und er ist von den Toten auferstanden, oder wo immer er war, warum dann jetzt? Warum glauben Sie, er würde zwei Jahre später zurückkommen und seine eigenen Kinder entführen?«
Jim zuckte die Achseln. »Es ist ein plausibles Szenario. Wenn wir hier Spiele entwerfen, wägen wir das Mögliche gegen das Skurrile ab und wenn sich die beiden in der Mitte treffen, wissen wir, dass wir den Nagel auf den Kopf getroffen haben. In Saras Fall ist das alles, was mir einfällt.«
DJ stand da und war einer Spur kein bisschen näher. Egal, was der Instinkt des Bluthundes ihm sagte, wollte er nicht länger bleiben und sich verworrene Pläne mit einem alten Spieler ausdenken, der in einer Fantasiewelt lebte, in der ein Haufen von eindringenden Außerirdischen als mögliche Täter betrachtet werden konnten.
Skurril – ja. Möglich – nicht wahrscheinlich. Sie hätten eine bessere Chance, die Handlung für ein neues Spiel mit diesem Unsinn zu gestalten, als die Wahrheit aufzudecken, wenn er länger hier sitzen würde und diese unplausiblen Vorstellungen in Erwägung ziehen würde. Er hatte Kinder zu finden und hatte bereits genug Zeit mit der unsinnigen Hypothese von Barker und den absurden Theorien von Rutherford verschwendet.
Er sagte: »Vielen Dank für ihre Zeit, Mr. Rutherford. Stört es Sie, wenn ich ihren Mitarbeitern ein paar Fragen stelle, wo ich jetzt schon einmal hier bin?«
»Kein Problem. Aber sie haben strikte Termine. Bitte respektieren Sie das.«
»Es wird nicht lange dauern. Irgendwelche Vorschläge, wo ich anfangen soll?«
»Shelley wäre ein guter Anfang. Sie ist erst ein paar Monate hier, aber ich würde sagen, sie kennt Sara besser als alle anderen im Büro. Außer mir.«
DJ dankte ihm noch einmal und ging zur Tür. Er öffnete sie und blieb stehen, bevor er ganz hinausging. »Eine letzte Sache, Mr. Rutherford. Ich bin mir sicher, dass Sie es aufgrund ihres Berufs tausende Male gehört haben, aber hat der Ausdruck: ‘Bist du bereit, das Spiel zu spielen?’, hier eine besondere Bedeutung?«
Rutherfords Augen öffneten sich weit. »Woher kennen Sie das?«
Seine heftige Reaktion überraschte DJ so sehr, dass er keine angemessene Antwort parat hatte. Die Frage kam mehr als ein nachträglicher Einfall und er hatte nie die Absicht, diesen speziellen Aspekt des Falls im Detail zu diskutieren. Er sagte: »Es ist eine Spur, die wir verfolgen.«
»Eine Spur? Wird Teddy verdächtigt?«
»Ihr Sohn? Nein, warum?«
»Haben Sie mit ihm gesprochen, bevor Sie zu mir gekommen sind?«
»Habe ich nicht. Mr. Rutherford, wenn Sie etwas wissen ...«
»Ich bin sicher, er hat nichts mit Saras Kindern zu tun.«
»Hat dieser Satz etwas mit ihm zu tun?«
»Er wollte es in der Titelsequenz des Juggernaut 3 Spiels haben. Die Mitarbeiter haben die Idee abgewürgt und ihm gesagt, es sei zu banal. Er hat sich an meiner Schulter ausgeweint und als ich ihnen zustimmte, bekam er einen Wutanfall.«
DJ trat einen Schritt zurück in Rutherfords Büro. Er sagte: »Wenn das der Fall ist, habe ich einige Fragen an ihn. Wo ist sein Büro?«
»Er ist heute früh gegen zehn Uhr weggegangen. Hat etwas über ein Golfturnier gesagt.«
»Welches? Haben Sie eine Ahnung?«
»Wenn ich es wüsste, Detective, wäre ich nicht sicher, ob ich bereit wäre ihnen diese Information, unter den gegebenen Umständen, zu geben.«
DJ sagte: »Und Sie wissen, dass die Behinderung einer Untersuchung schwer strafbar ist?«
»Junger Mann, es gibt eine Menge Dinge, die ich weiß und Sie nicht, dessen bin ich mir sicher. Bedauerlicherweise, für uns beide, habe ich trotzdem keine Ahnung wo Teddy sein könnte, oder ob er gerade Golf spielt, oder nicht.«
»Ich werde doch noch ein paar Leuten ein paar Fragen stellen, bevor ich gehe.«
Rutherford schickte ihn mit abweisender Hand weg. »Viel Glück.«