Wie nennt man eine Leere, die etwas in Bewegung setzt? Wie nennt man einen Eifer, den man nicht überhören kann? Wie nennt man eine Suche, die nie stillsteht? Ich gebe ihnen Namen. Einen Drang, einen Hunger, eine Sehnsucht, einen Wunsch, einen Trieb. Ich nenne es Interesse, Wissensdurst, ich denke Geschichtshunger und Vergangenheitsverlangen, aber das ist nicht präzise. Es ist eine offene Unruhe, eine Leere ohne Ziel. Ich ziehe meinen Stuhl in den Hof. Ich lausche dem Mispelbaum. Er steht da, als wäre nichts geschehen, ruhig in leichtem Wind.
Ich will mehr wissen. Es ist eine Maschine, eine in Gang gesetzte Dreschmaschine. Ich will voran. Ich belade meine Packtiere, ich spanne meine Pferde an, ich will weiter, ich spähe nach allen Seiten. Ich bewaffne mich mit Geduld, ich suche und sammle.
Ich folge den Bewegungen der Römer. Ich folge ihnen nach, wenn sie Straßen in der Landschaft anlegen. Ich folge ihnen zu den Grenzen, die sich Jahr um Jahr verschieben. Ich trete die Reise an, wir expandieren, wir wollen voran. Ich setze dem Heer nach, wenn es marschiert. Ich wandere mit den Legionen in alle Richtungen, mit Gepäck und Waffen, mit Rinder- und Schafherden. Ich bin dabei, wenn sie Lager aufschlagen und sich Schlachten liefern, wenn sie stehlen und plündern und Handel treiben.
Ich folge ihren Feinden und ihren Verbündeten. Ich betrachte sie auf Abstand. Ich stelle mich auf einen Hügel, ich verfolge die Kämpfe und sammle etwas Kriegsbeute von einem Schlachtfeld. Ich leihe mir ein Pferd, einen Streitwagen, ich binde mir Sandalen an die Füße. Ich reise mit Elefanten, eine schwerfällige Wanderung, im Schnee, übers Gebirge. Ich sitze an der Küste, fast unsichtbar, wenn die Ruderer ein Kriegsschiff hinter einer Landspitze in den Hinterhalt manövrieren, ich folge erst dem einen, dann dem anderen, danach ziehe ich mich zurück und gehe an einer friedlichen Küste an Land.
Ich will vorwärts, ich will pflügen und ernten, ich will sammeln, ich will finden, ich will weiter. Eine Tür ist aufgegangen. Es zieht. Der Wind weht durch den Raum. Der Wind in den Segeln. Ein Schiff auf der Fahrt übers Meer. Die Rufe des Steuermanns. Wir reisen mit Korn beladen, eine Schiffsflotte auf dem Weg. Ich denke an Ratten und Ungeziefer, an Piraten und Stürme. Ich klettere auf den Mast und sehe Häfen und Leuchttürme. Ich bin dabei, wenn die Getreidemesser Getreide messen und die Sackträger Säcke tragen. Ich fahre mit den Prahmen auf dem Fluss, und jetzt höre ich den Lärm aus der Stadt. Gebäude schießen in der Landschaft empor. Da sind Kräne und Mischmaschinen und Hebewerke. Der Zement, der alles zusammenhält.
Ich laufe an den Aquädukten entlang, den demonstrativen, hoch aufragenden. Ich höre das Wasser, das über mir fließt, und ich folge ihm, wie es in die Städte strömt zu den Zisternen und Brunnen und Häusern. Ich blicke in die Abflüsse der Römer, die Kanalisationsrohre unter den Straßen. Ich will mehr wissen. Wie wurden sie gebaut und wie kamen sie darauf? Nein, es war nicht ihre Erfindung. Sie hatten es von den Etruskern, auch die Aquädukte.
Ich sehe etliche Städte, die in der Landschaft wuchern, Villen an der Küste und weitere Straßen. Ich folge den Versorgungslinien, ständig neue Lieferungen, die kreuz und quer durchs Reich transportiert werden. Salz aus Kleinasien und Olivenöl aus Spanien. Wein aus den südlichen Gebieten, Fruchtsirup und Fischsoße in großen Behältern. Und regelmäßig Getreide aus Ägypten, aus Sizilien und Sardinien und von der gesamten nordafrikanischen Küste, alle liefern Korn, nun kommt es von den Feldern Britanniens, sogar aus Mösien am Schwarzen Meer wird Korn nach Rom verschifft.
Ich höre die Mühlen, die klappern, von Eseln gezogen, mit Wasser betrieben, und dann die Sklaven, immer die Sklaven, und das Brot, das geknetet und geformt und in den Öfen der Bäckereien gebacken wird. Ich sehe, wie sie mit dem Holz alter Weinstöcke das Feuer anmachen, und jetzt durchstreife ich die Weinberge, die Kleinbetriebe und die riesigen Produktionsstätten, wo die Sklaven ernten und pflanzen und säen. Einer von ihnen wirft mir einen Blick zu. Das lässt mich innehalten. Dass ich hier herumlaufe, ist monströs. Ich bin ein Monster, das mehr wissen will. Ich plündere ihre Geschichte mit zweitausend Jahren Verspätung, und nun kann ich nicht genug kriegen.
Ich bin dabei, wenn wilde Tiere aus den fernen Teilen des Reiches ankommen: Elefanten, Giraffen, Krokodile und Tiger. Ich sehe Pferde auf den Rennbahnen dahinfliegen, ich sehe das Publikum zu den Gladiatorenkämpfen oder Komödien strömen, aber ich muss weiter, denn jetzt folge ich der Post, versiegelten Briefen, die von Stadt zu Stadt, von Lager zu Lager geschickt werden. Ich höre das Schnauben der Pferde und Maultiere. Ich folge den Straßen nach Rom und an die Küste und bis an die Grenzen des Reiches, und dann geht’s in die Berge und zu den Minen, denn die Römer brauchen Metall. Es muss Zinn verfrachtet, es müssen Kupfer und Blei herangeschafft, Silber und Gold gewonnen werden. Ich sehe die Römer mit Bauunternehmern und Transporteuren verhandeln, während sie neues Land erobern und die Vorräte befördern. Spaniens Berge werden unterminiert, es wird Gold in rauen Mengen abgebaut, die Zinnminen sind schon nahezu leer, dann muss es eben Zinn aus Britannien sein, überall wird die Landschaft durchlöchert. Für den Zement brauchen wir Vulkanerde aus Puteoli. Überall schießen Häfen und Amphitheater und Thermen aus dem Boden. Der Zement ist ewig, Rom besteht für immer, und das Reich ist ohne Grenzen.
Ich suche und finde den ganzen Tag. Ich dringe in die Häuser ein, ich stehle mich in Schlafzimmer und Küchen. Ich ziehe den Duft der Gerichte ein, die aus der Küche kommen, und verzehre die Reste, falls etwas übrig geblieben ist, wenn die Schalen wieder in die Küche getragen werden.
Ich will mich nicht mit Überbleibseln zufriedengeben, ich lauere dem Koch die Geheimnisse, dem Bäcker die Techniken ab. Ich mache Mispeln in Honig, ich koche Fruchtsoße aus überreifen Weinbeeren und backe ein Brot, ein sogenanntes panis quadratus, das rund ist und mit Sauerteig aufgeht und geknetet und geformt und viermal eingeschnitten wird. Ich binde eine Schnur um das Brot, denn so haben sie es damals wohl getan, und stelle es in meinen Ofen.
Ich finde Fässer und Krüge, ich folge den Töpfern und nun auch den Glasbläsern. Das Gießen von Glas haben sie von den Griechen gelernt, aber jetzt reisen Glasmacher aus den südlichen Provinzen an, sie bringen Natronsalz aus dem Natruntal, und bald wird überall Glas geblasen, ein Glasbecher für einen Sesterz, einer von den billigen, aber man kriegt sie in allen Farben und Formen, und sie verbreiten sich über das ganze Reich, das sich weitet wie ein Glas, das geblasen wird, eine Schale, ein Becken, ein Reich, das größer wird. Ich ziehe mit, wenn sie nach Norden expandieren, und jetzt betreten wir die Wälder. Wir brauchen Holz für die Öfen, und ich folge ihnen unter die Bäume, dann sind die Wälder gefällt und zu Holzkohle verschwelt, die auf den Straßen verfrachtet wird, und dann ist wieder Abend.
Ich laufe den ganzen Tag herum, mir geht der Atem aus, und am Abend bin ich müde davon, den Römern nachgelaufen zu sein. Ich halte inne, lege mich ins Bett und finde Ruhe, und ehe ich mich’s versehe, ist die Nacht vorbei, und meine Suche beginnt von Neuem.