Meine Kreise werden größer. Ich bin in Museen und auf Vorträgen gewesen. Ich strebe in die Landschaft. Ich habe den Aquädukt besucht, der das Wasser der Römer nach Köln führte. Ich bin in Osnabrück und in Kalkriese gewesen, wo Quinctilius Varus dreißigtausend Soldaten verlor. Ich habe den Limes germanicus besucht und Teile der Grenzmauern betrachtet. Ich fahre im frühen Morgenlicht los, aber am Ende des Tages bin ich immer zurück. Ich mache es mir in meinem Sessel bequem, ich lese Artikel über das Haltmachen der Römer und finde neue Theorien und Untersuchungen und Erweiterungen alter Erklärungen.
Ich lese über Varus, der seine Legionen portionsweise durch den Teutoburger Wald marschieren lässt, aber von Arminius, dem Führer der Cherusker, in einen Hinterhalt gelockt wird. Drei Legionen werden vernichtet und nie wieder aufgestellt, Legion 17, 18 und 19 steht da, und ich rutsche ein wenig auf meinem Sessel hin und her. Die Reihen hatten empfindliche Verluste erlitten, und Kaiser Augustus, lese ich, schlägt seinen Kopf an eine Mauer und ruft aus: Quintili Vare, legiones redde. Gib mir meine Legionen wieder. Aber Augustus bekam sie nicht zurück, und das Reich der Römer kommt zum Stehen, denn in Arminius haben sie ihren Meister gefunden, und einige Jahrhunderte später heißt er plötzlich Hermann und ist Deutscher. Ein Volksheld, Liberator Germaniae, König des Teutoburger Waldes. Man baut ein Denkmal für seine Heldentaten, einen römischen Tempel ohne obere Öffnung, denn dort thront Hermann, auf dem Dach, wo das Auge zum Himmel sein sollte.
Aber kommt eine Weltmacht zum Stillstand, weil ein Heerführer in einen Hinterhalt gelockt wird? Ein Imperium, das sich gegen zerstreute Stämme, die miteinander im Streit liegen, nicht verteidigen kann? Es hat immer Grenzkämpfe und Niederlagen und verlorene Legionen gegeben. Das hat die Römer nie daran gehindert zu expandieren. Ich zögere und suche andere Erklärungen. Ich lese über Bündnisse und Handel, über Kämpfe und Migrationen, ich höre von inneren Konflikten, von Krankheit und Tod, von Epidemien und Lebensmittelknappheit. Ich lese von Raubbau an der Natur, ausgemergelten Böden, Verfall der Sitten, angegriffenen Institutionen. Ich denke an Monster in Gefäßen, die ihre Welt auffressen.
Ein Historiker meint, Rom verwittere von innen, es sei ein Koloss auf tönernen Füßen, der Mauern errichten muss, um sich zu schützen. Ein anderer entstaubt den Mythos von Arminius und den starken Germanen, denn während das Römische Reich wächst und gedeiht, nähren sich die Barbaren am römischen Feuer und werden groß und stark. Es ist kein bröckelndes Reich, sondern ein mächtiges Imperium, das sich gegen starke Barbaren, einfallende Horden verteidigt. Die Römer werden von Norden bedrängt, die Ausdehnung kommt zum Stillstand. Ein Wirtschaftswissenschaftler schlägt vor, die Mauer der Römer nicht als Verteidigungsanlage zu verstehen, sondern als Schwelle, als Eingangstor. Die Römer fühlten sich gar nicht bedroht. Sie hätten Profit gerochen. Die nördlichen Völkerschaften wünschten, am römischen Handel und Reichtum teilzuhaben, und Rom baute Mauern, um die Kontrolle zu erhöhen. Damit hätten die Römer Handel treiben und Menschenströme regulieren und alles besteuern können, was die Grenze passierte. Eine Grenze sei eine Art der Wachstumsförderung, das Reich wachse hinter den Mauern weiter, es gehe auf wie ein frisch gebackenes Brot aus Pompeji und werde groß und knusprig. Ein Archäobotaniker berichtet von Kornhandel und Klimawechsel, von neu entdeckten Backöfen und Pollenspuren, und auf einmal ist es der Roggen, der die Vorwärtsbewegung der Römer bremst. Ich höre von Anbaumethoden und Wachstumsbedingungen, und die Antwort ist klar: Die Römer trafen auf die Roggenbrotgrenze. Die nördlichen Landschaften waren zu kalt, der Anbau von Weizen ist zu beschwerlich, die Ausbeute unsicher, hier will nur der Roggen wachsen.
Ich sitze in meinem Sessel und lese, dass die Römer von selbst stehen geblieben seien. Sie hätten expandieren können, es hätte nicht viel Kraft gekostet. Sie hätten die Legionen neu aufstellen und ganz Germanien erobern können, aber sie taten es nicht, weil es nichts zu erobern gab. Kein Weizen – keine Römer. Arminius hätte sich die Mühe sparen können, die Römer wären eh nicht weitermarschiert, denn nicht die Varusschlacht, nicht die Aussicht auf Steuern und Abgaben und nicht die angriffslustigen Barbaren oder die innere Verwitterung brachte die Römer zum Halten. Es war der Geruch in der Backstube, denn Roggen kann man nur essen, wenn eine Hungersnot droht. Das bittere Getreide bereitet Bauchschmerzen, selbst wenn man es mit Dinkel mischt, behauptet Plinius, und der Leibarzt Galen spricht vom dunklen Brot, das aus Roggen gebacken wird: Es sei übelriechend und schlecht für die Gesundheit.
Antoninus ist zum Stehen gekommen, und Annona steht da mit ihrem Modius, doch ihr Gefäß ist leer, sie ist zu weit nach Norden geraten. Ich erhebe mich aus meinem Sessel, und nach wie vor fehlt mir eine Erklärung, denn hielten die Römer wirklich deswegen an, weil Plinius von Roggen Bauchschmerzen bekam?
Ich weiß schon, ich werde keine Antwort finden. Das Römische Reich ist mein Spiegel geworden, und jetzt bin ich in den Spiegel hineingegangen und komme nicht wieder heraus. Ich weiß nicht, warum die Römer anhielten. Vielleicht wollten sie einfach nicht mehr weiter. Sie hielten an und bauten eine Mauer. Weil sie nicht weiterwollten. Vielleicht wollten sie einfach nur in einem Gefäß wohnen, mit Blick auf Himmel und Wolken.