# 1081

Heute sah ich den Dieb, der mir die Tasche entrissen hat. Glaube ich jedenfalls. In aller Eile fuhr er den Wiesenweg hinunter. Oder ich hörte ihn, denn es war das Geräusch seines Fahrrads, das mich aufblicken ließ.

Es war am frühen Nachmittag. Ich wollte einkaufen und war eben aus dem Haus getreten, als ich dieses Klappern bemerkte, ein Fahrrad, das repariert werden musste, ein Schutzblech, das schief sitzt, oder eine Kette, die zu rosten anfängt. Der Radfahrer fuhr schnell vorbei, den ganzen Wiesenweg entlang in Richtung Rhein. Ich brauchte einen Augenblick, um das Geräusch zu lokalisieren und es mit der Gestalt auf dem Rad zu verbinden, aber in derselben Sekunde, in der mir klar wurde, woher ich das Klappern kannte, setzte ich mich in Bewegung und rannte den Wiesenweg hinunter. Ich lief, mit meiner Tasche über der Schulter, so schnell ich konnte an den geparkten Autos vorbei, ohne den Radfahrer vor mir aus den Augen zu lassen, aber es war unmöglich, ihn einzuholen, kurz darauf konnte ich nur noch eine Silhouette in der Ferne erkennen.

Völlig außer Atem hielt ich an, und gleich kamen mir Zweifel. War das wirklich mein Dieb? Ich hatte keine Vereinsfarben an ihm gesehen, vielleicht irrte ich mich. Trotzdem lief ich dann weiter. Ich rannte zum Fluss und ging mit forschenden Blicken am Wasser entlang, aber natürlich, der Radfahrer war weg.

Immer noch atemlos ließ ich mich auf einer Bank am Fluss nieder, nun plötzlich mit einem Gefühl der Trauer, eines Verlustes, eines Mangels. Zunächst schien mich das Verschwinden des Diebs traurig zu machen. Die entgangene Möglichkeit, ihn zu sprechen. Aber ich weiß gar nicht, über was ich mit ihm sprechen soll. Warum er mir meine Tasche gestohlen hatte, vielleicht. Aber ich hatte sie ja längst zurückerhalten. Ich hatte sie dabei. Es war egal.

Und dann dachte ich plötzlich an das verschwundene Buch mit all meinen Jahreszeiten. Dieb auf dem Fahrrad, gib mir meine Jahreszeiten wieder, hatte ich Lust zu schreien. Als gäbe es in einem Buch, das mit Wintern und Sommern und Herbsten gefüllt war, etwas zu holen. Ich will meine Jahreszeiten nicht wiederhaben. Was soll ich mit Jahreszeiten, die sich aus lauter Novemberfragmenten zusammensetzen?

Ich dachte an Thomas, der mich gebeten hatte, allein nach Paris zu reisen, und an Philip und Marie, die mich mit einer römischen Münze weggeschickt hatten. Ich dachte an meine Eltern und das Versprechen, das ich meiner Mutter gegeben hatte: Ich würde einen Weg finden, ich würde mich voranlauschen. Ich dachte an die Fahrgäste in den Zügen, an die kleinen Passagen, die ich aus ihren Gesprächen gestohlen hatte, aber ich weiß schon, es hilft nicht zu lauschen.

Etwas später erhob ich mich von der Bank und ging zu meiner Wohnung zurück. Unterwegs kaufte ich in einem kleinen Supermarkt ein, und als ich an der Kühlvitrine stand, legte ich zwei Dosen Bier in meinen Korb. Ich hatte plötzlich Lust, zum Stadion zu gehen und das Fußballspiel zu sehen, aber kaum war ich aus dem Geschäft, verlor ich den Mut oder das Interesse oder was auch immer. Ich kenne das Ergebnis. Ich weiß, wer gewinnt und wer verliert, und wenn das Spiel zu Ende war, würde ich wieder dastehen. In einem Gefäß mit Aussicht auf Himmel und Wolken.

Als ich kurz darauf in meine Wohnung kam, schlug mir die stickige Luft entgegen. Im Flur lagen Abfalltüten. Auf dem Küchentisch stapelten sich Teller und Tassen mit Kaffeeringen. Gebrauchte Teebeutel lagen herum, Behälter mit Salatresten. Ein paar Schalen mit eingetrocknetem Joghurt standen da, überall flogen Bücher und Zettel und leere Tintenpatronen herum, und in der Mitte des Tisches lag der römische Sesterz.

Ich nahm ihn vom Tisch, drehte ihn und spürte sein Gewicht in der Hand, ein Rest meiner römischen Suche, Hinterlassenschaft zwischen Tintenpatronen und schmutzigen Tassen, Abfall von Tara Selter, nach wie vor am Leben und nach wie vor gefangen im achtzehnten November.

Ich schlängelte mich durch den Raum und öffnete die Tür zu meinem Hof mit dem Mispelbaum. Ich zog einen Stuhl hinaus und nahm ein kühles Bier mit, und plötzlich musste ich einfach lachen, erst zögernd, doch bald darauf so laut, dass ich sicher war, mein Lachen war im ganzen Hof und auf allen Balkonen ringsum zu hören, aber egal. Man hat das Recht zu lachen, wenn man sich am Grund eines Gefäßes mit Aussicht auf den Himmel befindet und weiß, dass man niemals eine Antwort darauf erhält, wieso man da gelandet ist.