Kapitel 20

In Lund hatte man sie anscheinend am Springbrunnen erwartet. Auf Thorke trat die größte und eleganteste Dame zu und reichte ihr die Hand mit sorgfältig schwarz lackierten Fingernägeln. Ihre Frisur bestand aus blonden Locken, die kürzlich geschnitten waren und ihr schlankes Gesicht gefällig umrahmten. Dazu trug sie das Gewand, fast durchsichtig, wie Kjell es beschrieben hatte. Eine Dame von Kopf bis Fuß. Thorke war beeindruckt. Das hatte sie nicht von einer Waldfee erwartet.

»Willkommen, Thorke«, sagte die Waldfee mit einer angenehm warmen Stimme. »Guten Tag, Stigandr. Schön, dich wiederzusehen.«

»Woher wisst Ihr …?«, begann Thorke und wurde unterbrochen.

»Sag gerne Syra zu mir, so nennen mich Freunde. Und wir wissen natürlich, wer zu uns in freundlicher Absicht kommt.«

Den Empfang hatte sich Thorke auch ganz anders vorgestellt, ganz abgesehen davon, dass sie auf die Tomtar gehofft hatte. Dabei klang Syra so ehrlich. Auch Stigandr enthielt sich jedes warnenden Geräusches. Konnten Waldfeen wirklich so gefährlich sein, wie ihnen zugeschrieben wurde? Oder war Syra einfach nur raffiniert? Sicherer, lieber dies vorauszusetzen und nicht herzlich zu erwidern. »Was habt ihr mit unseren Tomtar gemacht?«, fragte sie in unbeirrt strengem Ton.

»Nichts. Als wir kamen, sind sie Hals über Kopf geflohen.«

»Kein Wunder, oder?«

»Du meinst, weil uns der Ruf vorausgeht, dass wir Tomtekinder stehlen und essen?«

»Ja.« Dass Syra diesen Vorwurf direkt ansprach, nahm Thorke den Wind aus den Segeln.

»Davon ist nichts wahr, Thorke. Wir stehlen und essen Tomtarna nicht. Gar kein Fleisch. Wir hassen auch kein Troll.«

Stigandr, der sich im Hintergrund hielt, schien noch ungläubig.

»Diese Gerüchte sind entstanden, weil sich häufig ungehorsame Kinder gegen den Rat ihrer Eltern in den Wäldern verirren und dann uns die Schuld geben. Es ist im Gegenteil so, dass wir ihnen, wenn wir es bemerken, ein Reh oder einen Auerhahn schicken, mit dem Auftrag, ihnen den Weg aus dem Wald zu zeigen. Wenn Kinder in einen Sumpf geraten und verschwinden, sind natürlich auch wir machtlos.«

»Wirklich?« Thorke schüttelte vor Erstaunen den Kopf. »Ihr versucht aber auch gar nicht, den Gerüchten entgegenzutreten.«

»Das ist richtig. Wir bestärken sie. Wir hoffen, die Menschen damit vom Jagen in den Wäldern abzuhalten.«

»Die Tomtar jagen nicht, haben aber auch Angst. Weißt du, wo sie sind?«

Syra winkte hin zum großen Universitätsgebäude. »Sie verstecken sich in den Buchsbaumbüschen davor.«

Eine rote Zipfelmütze tauchte in einem Busch auf und darunter ein Kopf, der bestätigend nickte.

Thorke wunderte sich jetzt noch mehr. Nichts stimmte, was sie über Huldren gehört hatte. »Dies ist aber kein Wald, sondern ein Hain mitten in einer Innenstadt. Die Stadt ist Tomteland. Was macht ihr hier?«

»Wir möchten mit den Tomtar sprechen.«

»Warum?

»Um sie um Erlaubnis zu bitten.«

Thorke ging die Geduld aus. »Syra, sprich doch bitte klar heraus, was ihr wollt.«

»Hafergrütze!«, sagte Syra bescheiden. »Wir möchten so gerne mit allen anderen zusammen die Grütze deines Vaters kosten dürfen. Nicht nur, weil Weihnachten ist. Wir fühlen uns vom übrigen Kleinvolk ausgeschlossen und möchten das gerne beenden.«

Thorke staunte.

Im nächsten Augenblick flogen einige Zipfelmützen aus den Büschen in die Höhe. Sie wurden begeistert geschwenkt. »Ja«, riefen einige zaghaft, aber die Mehrheit brüllte »Nein«.

»Hier stimmt etwas nicht«, stellte Thorke fest. »Was das Problem ist, muss geklärt werden.«

* * *

In diesem Durcheinander von Meinungen piepste ein Tomtekind: »Da ist ja auch Stigandr!«

Und schon stürzte eine Kinderschar auf den Troll, zog ihm die Beine weg und setzte sich rittlings auf ihn. Es dauerte nicht lange, und er wand sich wie ein Aal und kichernd unter ihnen. »Hört auf«, rief er kläglich und feuerte sie damit noch mehr an, ihn an seinen empfindlichen Stellen zu kitzeln.

Thorke war sich im Klaren, dass Stigandr sich absichtlich hingeworfen hatte, um den Kindern Spaß zu bereiten. Die Huldren lachten auch und klatschten in die Hände vor Freude. Erst geraume Zeit später ließen die Tomtar von ihm ab, und schließlich stand er mit einer Armvoll Kleiner da, einige saßen triumphierend auf seinen Schultern.

* * *

Nach dieser stürmischen Begrüßung zog Thorke einen Zettel aus der Tasche. »Ich habe eine Namensliste mit, um alle Tomtar aufzurufen, damit wir keinen vergessen.«

»Nur zu«, bot Syra an.

»Langsam«, mahnte ein Tomte, der mit einer Abordnung seiner Leute zu Thorke kam. »Wir vermissen einen Zweijährigen. Er muss gefunden werden. Wir haben die Huldren in Verdacht.«

Die übrigen erwachsenen Tomtar kletterten vorsichtig und argwöhnisch aus dem Buchsgebüsch heraus und stellten sich im Kreis auf. Thorke rief jeden Einzelnen auf und hakte ihn ab. Nis blieb verschwunden.

Seit einigen Stunden hatte ihn anscheinend keiner gesehen, selbst seine Mutter nicht. Alle nahmen an, dass er mit den Größeren im Gebüsch Verstecken spielte.

Die Huldren lächelten verschmitzt. Thorke merkte es und hatte plötzlich Angst, dass sie wider Erwarten einem heimtückischen Spiel erlegen war.

»Wir wollen die Mutter nicht auf die Folter spannen. Ich vermute, dass er bei mir ist«, sagte Syra lächelnd und drehte sich um.

Und tatsächlich. In Syras hohlem Rücken war eine kleine Hängematte gespannt. Darin lag ein Winzling von Tomte und schlief mit dem Daumen im Mund. Er schnorchelte und sabberte zufrieden vor sich hin.

»Wir haben ihn inmitten einer Besuchergruppe entdeckt, die gerade den Dom besichtigen wollte«, erklärte Syra, »und haben ihn herausgeholt. Er wäre in dem Riesengebäude verloren gegangen.«

Seine Mutter erbleichte vor Schreck und wollte ihn gleich an sich nehmen.

»Lass nur«, sagte Syra beschwichtigend. »Wir begleiten euch nach Nordfriesland, wenn wir dürfen, in Käuzchengeschwindigkeit. Und ich fliege ganz vorsichtig. Keine Freudenvolten. Nis wird von der Reise gar nichts merken und kommt ausgeschlafen an.«

»Seid ihr jetzt alle einverstanden«, fragte Thorke in die Runde, und ein vielstimmiges »Jaaa«, bestätigte sie.

Mutter Ylva vergewisserte sich mit einem Blick zu Thorke, die nickte. »Ja, wenn du ihr traust, tue ich das auch. Dann vertraue ich dir Nis an, Syra.«

* * *

Die Huldren rafften ihre durchsichtigen Gewänder an sich und lüfteten bereits ihre spinnwebleichten Flügel zum Losfliegen, als es eine unerwartete Unterbrechung gab.

Ein Hund verirrte sich in ihre Reihen. Mit schwarzem zottigen Fell und runder Schnauze war er das Gegenteil von furchterregend trotz seiner Größe, die einem frischgeborenen Kalb nahekam. Thorke drängte sich sofort zu ihm durch, sprach mit ihm und kraulte ihn hinter den Ohren. Als er genug von ihren überschwänglichen Liebkosungen hatte, schnüffelte er sich schweifwedelnd durch die Scharen von Huldren und Tomtar durch und bekam überall freundliche Aufmerksamkeit. Eine Huldra holte sogar ihren Kamm heraus und begann, sein struppiges Haar zu glätten.

Ein Gedanke wie eine vergessene Erinnerung stob durch Thorkes Kopf, und dann war er schon wieder verschwunden. Aber der Hund warf sich hin und gab beim Kämmen Laute des Wohlbefindens von sich.

Thorke schmunzelte, und Stigandr lachte laut.

Schließlich traf der Hund auf die letzte Huldra in der hintersten Reihe, die ihn noch nicht begrüßt hatte. Diese streckte ihm abwehrend die Hände entgegen und wich zurück.

Syra wurde aufmerksam und musterte Bergit scharf. »Warum hast du Angst?«

Der Hund knurrte laut und aggressiv. Seine Nackenhaare sträubten sich.

»Haltet ihn fest!«, schrie Bergit in Panik. »Er will mich beißen.«

»Hast du das tatsächlich vor, Hund?«, fragte Syra.

Der Hund drehte sich zu ihr um und gab ein besänftigendes »Wuff« von sich.

»Er meint dich persönlich, Bergit. Wo bist du zu Hause?«, fragte Syra.

»Bei Kiruna. Da, wo in den Bergwerken gearbeitet wird. Und bevor du noch weiter fragst: Ich halte dein Anschmiegen an Tomtar und Menschen für falsch. Ich bleibe Anhänger unserer alten Kultur. Wir sind Feinde eurer schwächlichen Kobolde. Auch mit Menschen wollen wir nichts zu tun haben. Jetzt, wo immer mehr abgeholzt wird, bedrängen sie uns tagtäglich.«

»Weshalb wolltest du denn mit uns nach Nordfriesland reisen?«

»Ein Anlass hätte sich gewiss geboten, euch zu überzeugen, dass ihr nicht zu denen gehört«, antwortete Bergit gehässig. »Eine perfekte Möglichkeit zur Umkehr wäre ja schon gewesen, die kleine Missgeburt in deinem Rücken unterwegs rauszuschmeißen.«

»Du Verräterin an allen Huldren, die sich um Verständigung mit dem Kleinvolk und den Menschen bemühen«, rief Stigandr empört.

Bergit streckte die Brust aufreizend vor. »Du kannst mir mal die Stalagtitten kraulen!«

Die Huldren versteinerten vor Schreck. »Was für eine vulgäre Sprache sprichst du denn?«, rief Syra entgeistert.

»Die ehrliche Sprache der Bergwerke und des Waldes in Lappland, wo ich hingehöre«, antwortete Bergit und hob mit sirrenden Flügeln ab, um hinter den Baumwipfeln nach Norden zu verschwinden.

Stigandr aber klatschte sich auf die Oberschenkel vor Vergnügen und lachte ein brüllendes Troll-Lachen. »Ich hätt’s gemacht«, rief er. »So ein Angebot bekommt man nicht alle Tage.«

Syra sah ihn streng an, und da lachte er noch mehr. »So ganz habt ihr den Übergang in die moderne Welt noch nicht geschafft, auch wenn ihr euch jetzt darum bemüht.«

»Und wo bleibt dein Kulturbewusstsein, Stigandr?«, tadelte Thorke ihn.

Er hörte gar nicht auf zu grinsen. Dann sah er Thorke treuherzig an. »Das Wort habe ich in der Schule nie gehört. Ich lerne dazu, Thorke. Ist das nicht gut?«