Tangermünde, den 12. Mai 1807
Liebste Schwester,
bitte verzeih, dass Du so lange Zeit ohne Nachricht von mir geblieben bist. Doch die letzten Monate hielten manche Turbulenz für mich bereit. Wodurch jene geschätzten Momente der Muße, in welchen ich durch meine Briefe an Dich meine Gedanken und Erlebnisse ordnen kann, mir leider nicht erlaubt waren.
Wo nun beginnen, da so vieles geschehen ist seit meinen letzten Zeilen? Vom Wichtigsten dürftest Du ohnehin längst unterrichtet sein. Der Krieg ist gewonnen. Jedoch waren die Opfer enorm. Mit höchster Bestürzung habe ich vom Tode Deines allgemein verehrten Gemahls, des Oberst Concourt, unserem Wohltäter, erfahren. Wer weiß, welches Schicksal uns ereilt hätte, wenn er sich nicht unserer armen Seelen angenommen hätte, nachdem die lieben Eltern der Revolution zum Opfer gefallen waren. Indem er Dich, geliebte Schwester, ganz offiziell zur Frau nahm. Obwohl Du erst fünfzehn Jahre alt warst und der Ruf Deiner Familie ruiniert, wusch er schließlich auch meinen Namen rein und ermöglichte mir diesen ehrenvollen Weg beim Militär, der mich nun zu einer beachtlichen Karriere in der Armee Napoleon Bonapartes befähigt hat. Auch wenn nicht alle Umstände seines Todes bekannt sind, herrscht allgemeine Einigkeit darüber, dass Oberst Concourt als Held gestorben ist. Ein hinterhältiger Überfall von Meuchelmördern. Sie wollten unsere Armee eines ihrer brillantesten Köpfe berauben und zugleich Informationen hinsichtlich unserer Pläne erbeuten. Der Oberst erlag seinen Verletzungen. Allerdings hat er wohl lieber den Tod gewählt, als dem Feind auch nur ein Detail der Strategie zu verraten. Vielleicht gelang es ihm sogar, seine Mörder gezielt in die Irre zu führen. Zumindest deutete der spätere Schlachtverlauf darauf hin. Du darfst also getrost mit Stolz Deines Gemahls gedenken. Die Nation wird seine Taten und sein Wirken nie vergessen. Genauso wenig wie wir. Sei gewiss, in meinen Gedanken bin ich Dir in dem, was Du nun empfindest, so nah, wie ich es immer war.
Nun zu dem Ungeheuerlichen, was mir seither widerfahren ist. Stell Dir vor, man hat mich zum Hauptmann befördert. Und nicht nur das, auch zum Kommandanten wurde ich ernannt. Du kannst Dir sicher meine freudige Aufregung vorstellen. Tangermünde heißt der Ort, den der Kaiser mir anvertraute, eine kleine Stadt in der Altmark. Tangermünde und seine Umgebung sollen Teil des Königreichs Westphalen werden, wie Napoleon den neuen Staat der ehemals deutschen, nun aber unter französischer Administration stehenden Gebiete zu nennen gedenkt. Glaube es oder nicht: Bonaparte höchstpersönlich bestimmte mich zum Kommandanten von Tangermünde. Vermutlich hat er erfahren, dass ich durch unsere selige Frau Mutter des Deutschen mächtig bin. Eine noch größere Ehre als die Beförderung ist der Geheimauftrag, mit dem er mich betraute. Von diesem darf ich allerdings aus naheliegenden Gründen nicht einmal Dir berichten.
Doch keineswegs verschweigen will ich Dir, dass ich ihn selbst getroffen habe. Unseren Kaiser. Ich war in einem Raum mit ihm. Es besteht kein Zweifel, dass ich von diesem kurzen Moment mein gesamtes Leben lang zehren werde. Es mag sein, dass er, wie allgemein bekannt, rein körperlich nicht sehr imposant erscheint. Dennoch konnte niemand auch nur den geringsten Zweifel hegen, dass er jeden anderen im Saal wie in ganz Europa an wahrer Größe bei Weitem überragt. Dabei wirkte er keinesfalls überheblich, sondern kam dem Herzen eines jeden Anwesenden beglückend nah. Er versteht sich auf fröhlich-volkstümliche, zuweilen recht derbe Scherze, die ich einer jungen Dame wie Dir aber lieber nicht zumuten möchte. Daher spare ich hier das wörtliche Zitat.
Genug der Schwärmerei! Napoleon schickte mich also nach Tangermünde. Mit einer Ernennungsurkunde und nur zwei Männern zur Unterstützung. Zwar ist das Königreich Westphalen noch nicht offiziell gegründet, doch sollte ich mein Amt bereits antreten. Um die französischen Interessen zu wahren und vor Ort den code civil , unsere Vision einer modernen Gesellschaft, zu erklären. Kannst Du Dir meine Aufregung vorstellen, als ich Tangermünde zum ersten Mal erblickte? Seinen für französische Zungen eher ungelenken Namen trägt die Stadt, weil dort der Tanger in die Elbe mündet. Umgeben von Wasser erhebt sich ein imposantes Schloss auf einem Berg. Ein liebliches Bild, ganz besonders am Tag unserer Ankunft, dem 15. April dieses Jahres, an dem die natürliche Schönheit noch durch ein sanftes Frühlingslicht unterstrichen wurde.
Das Verhalten der Menschen stand hingegen in scharfem Kontrast zur äußeren Freundlichkeit ihres Ortes. Höflichkeit ist ihnen fremd und Takt regelrecht verhasst. Sie wirkten nicht wenig stolz darauf, mir ihre Verachtung bei jeder Gelegenheit zeigen zu können. Sei es durch einen grimmigen Blick oder gar ein beherztes Ausspucken. Doch sei gewiss, ich habe stets zurückgespuckt. Auf den Boden natürlich. Es ist also ein fortwährend fideles Gerotze, wenn ich durchs Städtchen flaniere. Dennoch ist’s mir lieber, als wenn sie gar nicht auf mich reagieren.
Die Furcht, meine Sprachkenntnisse könnten für diesen Auftrag vielleicht nicht ausreichen, erwies sich als gänzlich unbegründet. Obgleich außer Übung, musste ich feststellen, dass meine Kenntnisse der deutschen Sprache sehr viel umfangreicher sind als die der allermeisten Einheimischen. Selbst der frühere Bürgermeister und jetzige Ortsvorsteher, der uns nur äußerst widerwillig drei Zimmer im Rathaus und den Versammlungssaal überließ, ist da keine Ausnahme. Sieht man einmal von Schimpfwörtern und Obszönitäten ab, dürfte sein Wortschatz wohl auf einem herkömmlichen Bogen Briefpapier Platz finden. Er besteht darauf, mit Magistrat Kunboldt angesprochen zu werden. Woher dieser Titel rührt, weiß mutmaßlich nicht einmal er selbst. Wahrscheinlich gefällt ihm das Wort.
Nur meine glaubwürdige und im Dokument bekräftigte Ankündigung, dass im Laufe des Sommers gleich mehrere größere Delegationen der Armee des französischen Kaisers nach Tangermünde kommen würden, verschafft mir etwas Respekt bei diesen Leuten. Womöglich ist es sogar das Einzige, was unsere Unversehrtheit garantiert. Es möchte gewiss niemand hier den französischen Soldaten erklären müssen, warum ihr eingesetzter Kommandant eines gewaltsamen Todes starb.
Ich muss gestehen, dass mir in der ersten Zeit nicht klar war, was eigentlich meine Aufgabe in dieser Stadt sein sollte. Viele andere Orte des neuen Königreichs Westphalen sind gänzlich ohne Kommandanten geblieben. Sie verwalten sich zunächst selbst. Mich aber schickt der Kaiser in das vergleichsweise kleine Tangermünde und erteilt mir darüber hinaus per Dekret die Verwaltungshoheit und Polizeigewalt für den Ort. Natürlich ist dies dienlich, um den Besuch der Delegationen vorzubereiten. Leider hat niemand in dieser Gemeinde den Wunsch, von mir regiert oder verwaltet zu werden. Der Ortsvorsteher besaß die Impertinenz, mir schlicht mitzuteilen, was Tangermünde dem französischen Kaiser an Steuern zu entrichten gedenke. Wörtlich sagte er: «Mehr geht nicht, machen Sie das Ihren Leuten begreiflich.» Damit hielt er die Angelegenheit für erledigt. In Abstimmung mit meinen beiden Begleitern Jean Fornet und Louis Grouillot, einfache Soldaten mit gesundem Verstand, die mir auch schon in meiner Zeit als Leutnant zugeordnet waren, entschied ich mich, dieses Thema, der Vernunft wegen, erst wieder auf die Tagesordnung zu setzen, wenn ausreichend Soldaten unserer Armee in der Stadt sind. Ansonsten war meine Betätigung in den ersten Wochen von eher repräsentativer Natur. Weshalb ich statt im Rathaus oft von meinem zweiten Büro aus arbeitete, dem Wirtshaus Wolter. Ich hoffte, durch diese Bürgernähe mit der Zeit den Respekt und das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Leider gelangt das zunächst nur sehr bedingt.
Zwar schätzte man durchaus meine Trinkfestigkeit und zeitweilige Großzügigkeit, Eigenschaften, die hier hoch angesehen sind. Doch eine wirkliche Nähe zu den Herzen der Menschen ließ sich so nicht herstellen.
Einzig die kluge und anmutige Tochter des verwitweten Wirtes, das Fräulein Juliane, ist anders. Gänzlich anders. Flink im Geiste wie in ihren Bewegungen, ist sie die größte Freude, die ich hier habe. Keine Angst, es ist zwischen uns nichts vorgefallen. Was allerdings nicht daran liegt, dass ich es mir nicht gewünscht hätte. Ja, sie ist wunderschön. Ihre wilden, lockigen, kupferroten Haare, die frechen Sommersprossen, der grazile Körperbau. Das alles gefällt mir außerordentlich, aber sie ist viel zu klug und weitsichtig, als dass sie sich einfach so einem französischen Hauptmann hingeben würde. Ich würde es nicht wagen, meinen Begierden mehr Nachdruck zu verleihen, dazu ist mir ihre Freundschaft zu kostbar. Sie ist die einzige Person in diesem Ort, mit der ich ernsthaft und unbeschwert reden kann. Beinah so wie mit Dir, meine Teuerste. Manchmal begleitet sie mich auf Ausflügen in die Umgebung. Diese Erkundungen sind notwendig für meinen Auftrag und ihre Ortskenntnis dabei schier unbezahlbar. Doch ein noch größerer Schatz ist ihre Gegenwart. Wir haben einen gemeinsamen Lieblingsplatz, eine alte Ruine, wenige Kilometer von Tangermünde entfernt. Ein magischer Ort, der eine besondere Anziehungskraft auf uns ausübt. Sollte es je zu einem ersten Kuss zwischen uns kommen, dann kann es wohl nur dort geschehen.
Die anderen Bewohner Tangermündes beäugen unsere Liaison natürlich mit höchstem Misstrauen. Insbesondere ihr Vater, der allzeit mürrische Herr Wolter, missbilligt unsere Vertrautheit. Außerdem ist da noch der im ganzen Ort gefürchtete Müllermeister Wild. Vor nicht einmal einem halben Jahr kam die Müllerin bei einem Unfall ums Leben. Er war seither mit seinen elf Kindern allein und hatte mehr als nur ein Auge auf Juliane geworfen, auch wenn diese fünfundzwanzig Jahre jünger als er ist. Er hatte dem Wirt Wolter auch eine bemerkenswerte Mitgift in Aussicht gestellt.
Wer, liebste Schwester, könnte besser als Du verstehen, was dies im Fräulein Juliane auslöste? In ihrer Not bat sie mich, Ermittlungen zum Unfalltod der Frau des Müllers anzustellen, wenigstens einmal die Kinder zum Tag des Unglücks zu befragen. Immerhin hätte ich ja nun die Polizeigewalt und damit auch eine Zuständigkeit in solchen Fragen in Tangermünde. Doch kurz darauf entschuldigte sie sich und flehte mich an, solche Befragungen zu unterlassen. Viel zu groß sei die Gefahr, denn dem Müller sei Schlimmstes zuzutrauen.
Ach, liebste Amelie, es gibt so viel von diesem wundersamen Ort zu berichten, aber ich muss enden, die Pflicht ruft.
Meine teuerste Amelie, von Herzen wünsche ich auch Dir Momente leichter Heiterkeit, wie ich sie hier genießen darf.
Dein Philippe Robert, Hauptmann von Tangermünde
Tangermünde, den 15. Mai 1807
Ach, liebste Schwester,
nur drei Tage nach meinem letzten Brief verfasse ich schon den nächsten. Ich weiß mir nicht anders zu helfen, um meinen Geist zu ordnen. Furchtbares ist geschehen, und ich muss es mir von der Seele schreiben, da es mich sonst unweigerlich zerreißt.
Weder Fornet und Grouillot noch dem Fräulein Juliane kann ich mich anvertrauen, denn sie sind alle auf die eine oder andere Weise in die Ereignisse verwickelt.
Aber der Reihe nach. Ein Mord ist geschehen. Ein echter Mord. Und ich habe zu ermitteln! Jedoch macht man es mir nicht leicht. Zu groß ist bei den Menschen hier das Misstrauen gegen uns Franzosen. Zudem wurde das grausame Verbrechen ausgerechnet mit meiner Offizierswaffe verübt, wie es hier durch alle Gassen zischelt. Ein äußerst misslicher Umstand! Natürlich war es nicht meine Hand, die die Klinge im Todesstoß führte. Doch wie kann ich die Menschen von Tangermünde von meiner Unschuld überzeugen? Selbst der brave Fornet, mein Vertrauter und Freund, scheint mir gegenüber eine gewisse Skepsis zu hegen. Immerhin war es nicht irgendwer, der da im Morgengrauen auf dem Marktplatz von Tangermünde erstochen aufgefunden wurde. Es traf den Müllermeister Wild, mit dem ich just in jener Nacht aufs Heftigste aneinandergeraten war.
Trunken und streitlustig wie an jedem Abend, war er an meinen Tisch im Wirtshaus Wolter getreten und hatte mich frech bedroht. Mir werde ein furchtbares Unglück widerfahren, wenn ich nicht endlich meine dreckigen Franzosenhände von dem Fräulein Juliane ließe. Nun hatte auch ich zu dieser Stunde zwecks Demonstration von Volksnähe bereits mit dem formlosen Biertrinken begonnen und reagierte daher nicht ganz so besonnen, wie es meinem Amte angemessen gewesen wäre. Ich antwortete laut und für alle Umstehenden vernehmbar: «Aha, womöglich so ein Unglück, wie es auch Eurer bedauernswerten Frau Gemahlin widerfahren ist.»
Diesen Satz nahm der Müller leider nicht gut auf. Eins führte zum anderen, und die Geschichte endete in einer wilden Rauferei. Fornet und Grouillot versicherten mir später, ich hätte Frankreich in dieser Auseinandersetzung außerordentlich gut vertreten. Nicht nur dem Meister Wild, sondern auch zweien seiner Kumpane, dem Tischler Voss und dem Bäcker Nolde, bot ich mit meinen Fäusten Paroli, was mir bei den anderen Gästen des Wirtshauses einigen Respekt einbrachte. Diesen Umstand feierten wir selbstredend ausgiebig, und auch wenn sich mein Geist hierbei zunehmend in die vorgezogene Nachtruhe verabschiedete, spürte ich ganz deutlich, wie ein Eis zwischen mir und den Menschen des Ortes gebrochen war. Endlich hatte ich einen Zugang zu ihnen gefunden. Doch am nächsten Morgen schon wurde der Müller Wild mit meinem Degen in der Brust aufgefunden. Beim ersten Hahnenschrei. Mitten auf dem Marktplatz. Das brachte die Herzen der Menschen leider unverzüglich zum Erkalten.
Bedauerlicherweise fehlt mir jedwede Erinnerung an den wesentlichen Teil dieser Nacht. Dennoch schwöre ich Dir, liebste Schwester, dass ich in jener Nacht niemanden getötet habe. Du weißt, ich bin Soldat. Ich kenne das Gefühl, einem anderen das Leben zu nehmen, besser, als mir lieb ist. Egal wie trunken und besinnungslos der Geist auch gewesen sein mag, der Körper erinnert sich an den tödlichen Stoß. Kurz, ich war mir sicher, nichts dergleichen in jener Nacht getan zu haben, und beteuerte meine Unschuld. Ich sehe den Leuten an, dass sie mir nicht recht glauben, selbst im Blick des loyalen Fornet liegen Zweifel, aber niemand scheint ein Interesse daran zu haben, mich offen anzuklagen. Die Trauer um den Müller Wild hält sich offensichtlich in Grenzen, und der verschlagene Magistrat Kunboldt gab mir sogar zu verstehen, dass sich der Fall zügig und geräuschlos ad acta legen ließe – wenn ich in Zukunft bezüglich der Steuern Wohlwollen zeige. Sicherlich ein gut gemeintes Angebot.
Doch ist es nicht gerade das, was der code civil zu ändern gedenkt? Keine Willkür mehr, sondern verlässliches Recht, das für alle gilt. Wenn die Menschen zu dieser Idee Vertrauen fassen, begreifen sie auch, was sie gewinnen können. Dafür haben wir doch all die Opfer gebracht. Insbesondere wir beide, liebste Schwester. Um diesen Geist einer neuen Gesellschaft in die Welt zu tragen. Oder wenigstens nach Tangermünde. Wie kann ich noch in den Spiegel schauen, wenn ich schon das allererste Verbrechen, mit dem ich geprüft werde, aus Bequemlichkeit vertusche?
Der Magistrat, der mürrische Wolter, Fornet und Grouillot, selbst das Fräulein Juliane, sie alle verstehen nicht, warum ich unbedingt die wahren Hintergründe dieser Tat ermitteln will. Sie drängen mich, Ruhe zu geben, aber ich spüre, dass es mein Schicksal ist, die Wahrheit herauszufinden.
Darum weiß ich mir nicht anders zu helfen, als Dich, liebste Amelie, um Rat zu fragen. Gibst Du mir recht? Oder befinde ich mich in einem Wahn, aus dem ich besser heute als morgen ausbrechen sollte?
In Liebe
Dein Bruder Philippe, Hauptmann von Tangermünde
Tangermünde, den 29. Mai 1807
Liebste Amelie,
Tangermünde, die Burg, ihre Umgebung, ja die ganze Altmark ist ein Traum im Mai. Zumindest wenn dieser so freundlich ist wie in diesem Jahr. Ein Storchenpaar, das heimliche Wahrzeichen der Stadt, hat sein Nest auf dem Eulenturm bezogen. Nun wacht es wieder den ganzen Sommer lang über die Träume und Schicksale der Menschen dieser Gemeinde.
Auch die düstere Stimmung, in die ich aufgrund der mühsamen Ermittlungen verfallen war, scheint vollends verflogen. Das verdanke ich, ich sage es frei heraus, in erster Linie dem Fräulein Juliane. Stets aufs Neue überredet sie mich zu Ausflügen in die wunderbare Umgebung. So viele zum Weinen schöne Ecken der Altmark zeigte sie mir bereits und erzählte dabei, mal lustige, mal unheimliche, ja geradezu erschröckliche Geschichten. Diese Gegend ist wahrlich reich an Anekdoten, Schauermären und verwunschenen Plätzen. Manche davon konnte ich sogar auch heimlich kartografieren. Diese Kenntnisse werden mir gewiss noch für meinen Geheimauftrag von Nutzen sein.
Am liebsten höre ich Juliane einfach beim Erzählen zu. Ihre Stimme ist so sanft wie ein Frühlingswind, so erfrischend wie ein kristallklar perlender Bach. So lebendig wie ein Haken schlagender Hase. Ihr Lachen lässt die Vögel kurz beschämt verstummen. Sieht man die Sonne verspielt in ihren ungezähmten roten Locken tanzen, hält selbst die vollkommene Natur für einen Augenblick ehrfürchtig inne.
Ja, es stimmt wohl, was Du jetzt sicher lächelnd vermutest. Zeitweise lesen wir uns auch die Stücke der neuen deutschen Dichter vor. Schlegel, Tieck und Novalis. Es ist, als würde dieses Land gerade anfangen, etwas von sich preiszugeben, was es bislang gut verborgen gehalten hat.
Doch am meisten fesseln mich Julianes «wahre» Schauermärchen wie die Sage über den Fürsten, der sich zusätzliches Wissen erträumen konnte. Im Schlaf konnte er ganze Leben durchlaufen. Am nächsten Morgen erinnerte er sich an alles, auch jede Fähigkeit, die er im Schlummer erlernt hatte. Er träumte vom Geigespielen und wurde über Nacht zum Meister auf diesem Instrument. Immer gieriger häufte er immer mehr Wissen an, bis er sich für einen Gott hielt, dem Wahn verfiel und schließlich eines Morgens von seinem Kammerdiener mit geplatztem Gehirn aufgefunden wurde.
Oder die Legende über unseren Lieblingsort, die Ruine vor Tangermünde, welche ich schon einmal erwähnt haben mag. Dort wo heute nur noch ein paar alte Steine von vergangener Größe zeugen, stand vor einigen Jahrhunderten eine durchaus wehrhafte, solide gemauerte Burg. Der Stammsitz der Grafen zu Dolmen, welche sich im dreizehnten Jahrhundert mit den askanischen Markgrafen im Bunde befanden. Diese gerieten 1239 in eine Fehde mit den Bischöfen von Magdeburg und Halberstadt. Was die Ursache und das Ziel dieser Auseinandersetzung war, blieb den Bewohnern bis zuletzt ein Rätsel. Irgendwann erschien ein mächtiges Heer in der Region und beanspruchte die Burg der Herren zu Dolmen. Aufgrund ihrer großen Überlegenheit überließ man sie ihnen beinahe kampflos. Fortan verschwanden in beinah jeder Nacht Frauen, junge Mädchen und Buben aus Tangermünde und den umliegenden Dörfern. Bevor das Heer am Ende des Winters weiterzog, schleiften sie die Burg, damit sie ihren Feinden nicht mehr von Nutzen sein konnte. Dabei kamen unzählige der armen entführten Seelen ums Leben. Die zurückgebliebene, geschundene Burg, die so viel Ungerechtigkeit und Leid hatte mitansehen müssen, vergaß nicht. Ein paar Monate später riss ein wilder Sommersturm viele der lockeren verbliebenen Steine in die Höhe, und diese erschlugen in selbiger Nacht viele Kilometer entfernt einen Großteil des Heeres. Seither nennt man die Ruine «die gerechte Burg», und auch heute noch geschieht es bisweilen, so die Sage, dass ein wütender Sturm einen Stein des Gemäuers fortreißt und damit einen Übeltäter erschlägt, der einem Unschuldigen großes Leid angetan hat. Mittlerweile ist nicht mehr viel von der gerechten Burg übrig, aber für ein paar dunkle Seelen würden die verbliebenen Steine wohl noch reichen. Ich gestehe freimütig, dass wir, kichernd wie Schulkinder, noch ein paar von ihnen lockerten, um es den gerechten Stürmen leichter zu machen.
Genug von meinem Glück! Gewiss willst Du auch wissen, wie die Ermittlungsarbeit vonstattengeht. Nun, ich befragte jeden im Ort. Selbstverständlich auch die Kinder des Müllers, denen die Trauer allerdings nicht gerade ins Gesicht geschrieben stand. Man raunte mir zu, sie hätten wohl am ehesten einen guten Grund gehabt, ihren tyrannischen Vater zu meucheln, aber es sind unschuldige Kinder, auch wenn der Älteste schon sechzehn Lenze zählt. Ich sah jedem einzelnen von ihnen lange und tief in die Augen. Bei keinem war die Fähigkeit zum Morden zu sehen. Dessen bin ich mir sicher.
Auch sonst will niemand etwas gesehen oder bemerkt haben. Als ich in meiner Verzweiflung schon meinem Verstand zu misstrauen begann, erschien plötzlich ein neuer Zeuge. Der zwölfjährige Sohn des Schmiedes wollte tatsächlich beobachtet haben, wie eine dunkle, leider nicht genau von ihm zu identifizierende Gestalt, mir in jener Nacht den Degen entwendet hatte. Damit war zumindest meine Unschuld festgestellt. Alle schienen sehr glücklich über diese Wendung. Auch der alles in allem doch recht umsichtige Magistrat Kunboldt. Er betonte völlig zu Recht, das Wichtigste sei nun, Sorge zu tragen, dass den elternlosen Kindern der Wilds nicht die Mühle genommen werde. Leider sei der älteste Bube ja noch kein Geselle, geschweige denn Meister. Daher müsse die Zunft ihn nun schnellstens anerkennen. Diese kluge Sichtweise beeindruckte mich.
Zudem unterstützten er und der mürrische Wolter mich bei meiner Aufgabe. Mittels einigen Fässern freien Bieres, für das unser Kaiser Napoleon aufgekommen sein wird, wenn es zur Steuererhebung kommt, konnten wir nahezu die gesamte Stadt anlocken. Ich berichtete ihnen von den Vorteilen, die die Gründung des Königreiches Westphalen und die Einführung des code civil für sie mit sich bringen wird. Alle Menschen sind im Wert gleich und haben festgeschriebene Rechte, die ihnen niemand nehmen kann. Vor Gericht widerfährt jedem Mann und jeder Frau Gerechtigkeit. Wahre Gerechtigkeit. So sprach ich zu den Menschen, und sie waren nicht wenig beeindruckt. Ich bin mir nicht vollends sicher, ob unser Kaiser all diese Bürgerrechte im Königreich Westphalen überhaupt so weitgehend einführen will. Jedenfalls gab mir die Begeisterung, die mich im Zuge der Rede ergriff, ein angenehmes Selbstbewusstsein. Ich bin der Kommandant von Tangermünde. Den Kaiser interessiert diese Stadt ohnehin nur am Rande. Ich darf den Menschen hier so viele Rechte und Freiheiten geben, wie ich es für richtig halte. Ich kann in Tangermünde die Republik einführen, die ich einführen will. Die Republik, von der wir immer geträumt haben.
Leider gab es am Ende der gestrigen Versammlung wieder Zwist. Einige preußentreue Tangermünder Monarchisten begannen unter der Führung des Tischlermeisters Voss immer lauter zu pöbeln. «Wenn wirklich alle Menschen gleich sind, warum stinken dann die Franzosen so furchtbar?», brüllte dieser Armleuchter tatsächlich.
Eine Weile gelang es mir, Herr der Lage zu bleiben, doch als die Störungen immer heftiger und impertinenter wurden, übermannte mich mein Zorn, und ich rief: «Wenn Ihr auch nur eine Ahnung hättet, was Gleichheit bedeutet, würden nicht alle Eure Tische so furchtbar wackeln!»
Diesen Scherz nahm er leider nicht gut auf. Der weitere hektische Austausch wurde schnell persönlich, und noch ehe ich begriff, wie mir geschah, waren wir in eine ausgesprochen wilde Rauferei verstrickt. Diesmal prügelte fast der gesamte Ort mit. Nicht ohne Stolz möchte ich vermelden, dass ein nicht unbeachtlicher Teil der Leute auf meiner Seite kämpfte. Der kleinere Teil zwar, aber der beherztere. Man kann es nicht anders sagen, wir haben gesiegt! Oder uns doch zumindest formidabel geschlagen. Auch hieraus erklärt sich wohl meine Hochstimmung am heutigen Tage.
Nun muss ich enden, denn ich beteilige mich an der Vorbereitung des großen Pfingstfestes am Wochenende. Der Magistrat schlug mir vor, dort nochmals eine Rede zu halten. Wenn sich das herumspräche und wieder so eine feine Klopperei daraus entstünde, würde das womöglich Besucher von weit her anlocken.
Ich hoffe, er hat dies im Scherz gesprochen. Der Humor der Menschen hier ist ähnlich eigen wie ihre Kochkunst. Wobei Kunst in diesem Zusammenhang vielleicht ein etwas sorglos gewählter Begriff ist.
Es grüßt Dich, liebste Amelie,
Dein Philippe, Hauptmann von Tangermünde
Tangermünde, den 3. Juni 1807
Teure Schwester!
Ich schreibe Dir mitten aus einem Albtraum.
Um es geradeheraus zu verkünden: Es hat einen weiteren Toten gegeben. Den Bäckermeister Nolde, Trinkkumpan des Müllers Wild und Monarchistenfreund des Tischlermeisters Voss. Ein Raubein ohne Umgangsformen oder Anstand. Nicht selten marschierte er des Nachts direkt aus der Schankwirtschaft in die Bäckerei, prügelte den Gesellen, die Burschen sowie seine Frau aus dem Schlaf in die Backstube. Immer wieder entdeckte man Flecken auf seiner Ware, die wohl dem Blut seiner Leute entsprangen. Zumindest glaubten dies alle im Orte, und er tat nicht das Geringste, um diese Gerüchte zu zerstreuen. Ein böser Haudrauf, dem man aber doch ein solches Ende nicht gewünscht hätte.
Auch er wurde im Morgengrauen aufgefunden. Am Tag nach der Pfingstfeier. Mitten auf dem Marktplatz. Erstochen. Und was denkst Du, mit wessen Waffe? Mit der meinen!
Liebste Amelie, begreifst Du nun die ungeheuerliche Dimension dieser Katastrophe? Was geschieht da mit meinem Degen? Ist er womöglich tatsächlich von einer düsteren Macht besessen? Oder gar von einer hellen? Immerhin waren es grobe, grausame Männer, die er niedergestreckt hat.
Dir muss ich gewiss nicht erklären, dass es auch diesmal nicht meine Hand war, die den Todesstoß ausführte. Du kennst mich. Wäre ich gezwungen zu töten, würde ich es nicht verleugnen. Vor allem aber wüsste ich davon. Jedoch sind die Umstände denkbar unglücklich. Auch mit dem Bäcker Nolde lag ich im Streit. Mit Worten wie mit Fäusten. Noch am Vorabend seines Todes, bei der großen Schlägerei des Pfingstfestes, standen wir uns Aug in Aug gegenüber. Sein Antlitz dürfte dabei durchaus einigen Schaden genommen haben. Wenngleich selbst die kräftigsten Hiebe sein Aussehen wohl kaum verschlechtert hätten. Hat er doch eines dieser Gesichter, welche man auch unter größter Anstrengung kaum unansehnlicher gestalten kann. Natürlich wirft unser öffentlicher Disput nun ein äußerst schlechtes Licht auf mich. Spätestens nach Einbruch der Nacht war ich wohl ein Quäntchen trunkener als angemessen. Und in der Früh liegt mein Feind auf dem Marktplatz, abgestochen mit meiner persönlichen Waffe.
Sosehr ich auch beteuerte, dass ich meinen Degen diesmal gar nicht erst zum Feste getragen hatte, dass ich die Waffe sogar eingeschlossen hatte – Fornets Misstrauen ließ sich nicht besänftigen.
Er sei mittlerweile in wahrer Sorge um meinen geistigen Zustand, gestand er mir, und dieser Verdacht steht seither zwischen uns.
Auch das Fräulein Juliane wirkt sehr unglücklich. Dennoch ist sie, wie sie mir versicherte, entschlossen, der Güte meines Herzens weiterhin zu vertrauen.
Grouillot hingegen fragte nur immerfort, warum denn keine Einbruchsspuren in meinen Diensträumen festzustellen seien, wo doch jemand die Waffe von dort entwendet haben musste. Mein lieber Grouillot! Was meint er denn? Als würde ich mir diese simplen Fragen nicht selbst ununterbrochen stellen.
Am besonnensten hat noch der Magistrat reagiert. Er entwickelt sich mehr und mehr zu meinem engen Freund und Berater. Ein kluger Administrator und die gute Seele dieses Ortes. Längst hat er begriffen, welch ein Segen der code civil für Tangermünde sein könnte. Zumal wenn es unser eigener «Kot Siwiel» wäre. Eine Revolution ohne Krieg sei möglich, sagte er kürzlich zu mir. Wenngleich nicht ohne Opfer. Das ginge nur im Märchen. Es sei somit unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass zwei einzelne Todesfälle nicht die großen Entwicklungen gefährden.
Du siehst, meine liebe Amelie, mit welch unterschiedlichen Interessen und Meinungen ich mich hier auseinandersetzen muss. Hinzu kommt, dass ich nun nach dem wahren Täter fahnden muss, denn nur so lassen sich weitere Morde verhindern. Leider scheine ich mittlerweile der Einzige zu sein, der sich noch mit dieser Suche befasst. Alle anderen haben wohl, jeder auf seine Weise, ihre Schlüsse über die Identität des mordenden Racheengels gezogen. Indem sie mich verdächtigen, sitzen sie allesamt einem ärgerlichen Irrtum auf. Ich muss diese mysteriösen Taten nun schnellstmöglich aufklären. Es fällt meinem Verstand schwer, die notwendige Ruhe zu finden, um die Vorkommnisse zu ordnen. Immerhin haben mich diese Zeilen an Dich so weit ermüdet, dass mir nun wenigstens ein paar Stunden kraftspendenden Schlafes gelingen könnten.
In Dankbarkeit
Dein Philippe, Hauptmann von Tangermünde
Tangermünde, den 8. Juni 1807
Liebste Amelie!
Ich stehe unter Hausarrest. Das habe ich Fornet und Grouillot zu verdanken. Zu meinem eigenen Schutz, wie sie sagen. Die Stimmung im Ort sei zu feindselig geworden. Die Gefahr für mich, aber auch für die anderen, zu groß. Insbesondere seit vor zwei Tagen der Tischlermeister Voss im Morgengrauen tot auf dem Marktplatz entdeckt wurde. Natürlich war es wieder mein Degen, der in seinem Herzen steckte. Selbstredend waren wir in der Nacht zuvor heftig aneinandergeraten. Er hatte wüste Verdächtigungen gegen mich ausgesprochen, die ich zwar alle zu parieren wusste, doch der Eindruck, der am nächsten Morgen durch seine Ermordung entstand, war meinem Ruf nicht gerade zuträglich.
Erneut gibt es keine vernünftige Erklärung, wie mein Degen ein weiteres Mal als Tatwaffe genutzt werden konnte. Ich hatte ihn eingeschlossen, und es gab keinerlei Spuren, die auf einen Einbruch oder Diebstahl hinwiesen. Welch ein heillos vertracktes Rätsel dies doch ist!
Fornet und Grouillot haben bereits die Nerven verloren. Sie wollen mich erst wieder aus diesem Raum lassen, wenn alle Umstände der Verbrechen restlos aufgeklärt sind. Erkennst Du den Irrsinn? Nur dem Fräulein Juliane und dem Magistrat gestatten sie Besuche bei mir. Meine Waffe haben sie konfisziert. Mir ist es recht. Sollen sie doch fortan diesen verfluchten Todesboten bewachen. Denn das ist es, was ich mittlerweile zu akzeptieren beginne. Wenn alle logischen Erklärungen versagen, muss man irgendwann bereit sein, das Unglaubliche zu denken.
Und deshalb will ich Dir jetzt diesen Brief schreiben. Obwohl ich mich nun unter ständiger Beobachtung befinde. Wenn ich überhaupt noch auf Erlösung aus dieser erbarmungslosen Hölle hoffen kann, dann nur, indem ich mich offenbare. Und wem sollte ich mich anvertrauen, wenn nicht Dir. Hat doch vermutlich alles im Grunde mit unserer Geschichte seinen Anfang genom…
Tangermünde, den 9. Juni 1807
Liebste Amelie,
eine plötzliche, unangekündigte Befragung durch Fornet zwang mich, meinen Brief gestern abrupt zu beenden. Allein dies kann Dir schon einen Hinweis auf die Lage geben, in der ich mich mittlerweile befinde.
Ab der Mittagsstunde wird es unerträglich heiß in diesem Zimmer, aber das ist noch das geringste meiner derzeitigen Probleme. Immerhin wird es sich spätestens im Herbst von allein lösen. Was leider von meinen anderen Sorgen keineswegs zu erwarten ist.
Nach Fornet besuchte mich erfreulicherweise das Fräulein Juliane und schenkte mir ein wenig Zerstreuung. In der Nacht fiel ich in einen anstrengenden, traumgeplagten Schlaf, aus dem ich immer wieder aufschreckte. Dies alles führte dazu, dass ich erst jetzt, da die Hitze schon wieder kaum mehr auszuhalten ist, meinen Brief an Dich neu beginnen kann. Den gestrigen Anfang lege ich diesem Schreiben bei. So erspare ich mir die zeitraubende Abschrift.
Ich hatte gehofft, dass die Nacht die unerträgliche Wahrheit vertreiben würde. Das geschah leider nicht, und so will ich es frei heraus schreiben: Ich fürchte, mein Degen ist verflucht. Zwar ist es ein Fluch der Gerechtigkeit, aber eben doch ein Fluch. Alle Männer, deren Herzen er durchbohrte, waren Scheusale. Gewalttätig gegen die, die sie lieben und schützen sollten. Dreist im Umgang mit allen anderen. Der Tischler Voss, der Bäcker Nolde, der Müller Wild und … auch der Oberst Concourt.
Ja, es ist wahr, geliebte Schwester. Ich war es, der Deinen Peiniger, Deinen zu Recht verhassten Ehemann gestraft hat. Für all die Qualen, die er Dir zufügte. Zunächst versuchte ich ihn mit dem Gift aus Deinem Kräutergarten zu töten. Das Gift, welches Du schon früh für uns hergestellt hattest, damit wir einen letzten Ausweg hätten. Doch möglicherweise war es schon zu alt. Oder vielleicht war dem alten Teufel mit irdischer Tinktur nicht beizukommen. Er litt durchaus, aber er überlebte und schöpfte Verdacht gegen mich. Es kam zum Disput unter vier Augen, der damit endete, dass ich ihm meinen Degen tief ins Herz stieß. Noch heute staune ich über meine Kraft in diesem Moment. Es war, als ob mich eine höhere Macht bestärkte und meine Hand führte. Ein Engel der Gerechtigkeit, der sich nicht mehr anders zu helfen wusste.
Fornet und Grouillot halfen mir damals, mein Verbrechen wie den Überfall eines Spions aussehen zu lassen. Erfreulicherweise stellte niemand tiefergehende Nachforschungen an. Wir waren beliebt bei den Kameraden. Der Oberst hingegen, wie Du Dir denken kannst, nicht im Geringsten. Keiner weinte um ihn. Aus Anstand ließ man ihm ein weitaus besseres Gedenken zuteilwerden, als es ihm zugestanden hätte.
Sicher, liebste Schwester, denkst Du nun: «Wie kann er das nur schreiben? Was, wenn dieser Brief, dieses Geständnis, in die falschen Hände fällt?» Zumal Du sicher all diese Enthüllungen ohnehin schon vermutet hast.
Diese Überlegung ist nur richtig und vernünftig. Und bislang war ich ja auch vorsichtig. Hielt meine Briefe vollkommen unverdächtig und fast schon übertrieben freundlich dem Oberst gegenüber. Doch jetzt ist alles anders. Der Fluch, den ich mit dieser Tat auf den Degen geladen habe, ist zu mächtig geworden. Ich kann ihn nicht mehr kontrollieren. Er verspottet mich und meinen Geist geradezu. Vielleicht hat er sich mit der magischen Aura der Ruine, der Burg der Gerechtigkeit, verbunden, ist mit ihr zu einer gewaltigen Macht verschmolzen.
Mir rinnt der Schweiß. Das salzige Nass fließt in Rinnsalen von mir auf das Papier, den Tisch, den Stuhl, den Boden, als wollte die Sonne oder das Schicksal etwas aus mir herausdestillieren. Eine Einsicht, Reue oder Schuld. Nur wenn ich mich zu dieser Tat bekenne, kann ich die Verbrechen, die seither in meinem Namen geschehen sind, in Zukunft unterbinden. Missetaten, die von einer höheren Macht möglicherweise aus guten Gründen herbeigeführt werden, da sie eine tiefere Gerechtigkeit fördern. Doch darf das nicht unser Weg sein, denn so wären wir nicht besser als die jakobinischen Schlächter, die unsere lieben Eltern gemetzelt und uns in die Obhut des Unholds Concourt getrieben haben.
Es ist meine feste Überzeugung, dass der Fluch des Degens nur gebrochen werden kann, wenn ich mich Dir gegenüber bekenne. Zu der Untat, die ich für Dich, in Deinem Namen beging, obwohl Du mich nicht darum gebeten hattest. Bitte verzeih mir, liebe Schwester! Es ist nur eine vage Hoffnung, aber was bleibt mir anderes?
In unerschütterlicher Zuneigung
Dein Dich über alle vorstellbaren Maße liebender Bruder Philippe
Tangermünde, den 28. Juni 1807
Liebste Schwester,
heute früh sind die französischen Gardisten wieder aufgebrochen. Vor fünf Tagen war uns ihr Besuch angekündigt worden, und vor drei Tagen kamen sie mit gleich sechs großen Kutschen in Tangermünde an. Fornet, Grouillot und der Magistrat beschlossen daher kurzerhand, mich aus der Schutzhaft zu entlassen, um lästige Befragungen oder gar eine offizielle Untersuchung zu vermeiden. So konnte ich, wie geplant, gemeinsam mit den Soldaten meinen Geheimauftrag erfüllen.
Die Tage in der Schwitzstube haben meinen Geist gereinigt und mich vom Bier und von der Schankstube ferngehalten. Das führte zu einer Entgiftung meiner Körpersäfte und einer allgemeinen Gesundung meiner Person, was auch meinen Bewachern und Freunden nicht entging.
Ich habe ihnen nichts vom Fluch des Degens erzählt. Das hätte sie nur wieder von mir entfremdet. Es bleibt also vorerst unser Geheimnis. Dennoch muss ich einen Weg finden, den Fluch zu brechen, damit das Morden aufhört. Oder verliere ich den Verstand? Nein, auch mit klarem Kopfe will ich meine Überzeugungen noch einmal bekräftigen: Ich bekenne mich zur Verantwortung für den Tod Deines Gemahls und Peinigers. Die Morde an den Männern in Tangermünde waren hingegen nicht meine Taten. Wurde ich zum Werkzeug des besessenen Degens? Was denkst Du? Sollte ich wenigstens das Fräulein Juliane ins Vertrauen ziehen? Oder meinen treuen Freund Fornet? Den gutwilligen Magistrat? Mein Leben lang konnte ich mich Dir, meiner großen Schwester, in allen wichtigen Fragen anvertrauen, auch wenn Du nur drei Minuten älter bist. Seit der Krieg uns trennte, ist mir, als würde ein Teil meiner selbst fehlen. Könnte das Fräulein Juliane zu dieser mir so sehr fehlenden Ergänzung werden?
Nun zu meinem Geheimauftrag. Ich brenne regelrecht darauf, Dir endlich von ihm zu erzählen. Bis vor drei Tagen wusste auch ich nur, dass ich möglichst viele Orte in und um Tangermünde herum finden sollte, die sich als Verstecke eignen würden. Da mich der Kaiser selbst darum gebeten hatte, vermutete ich bereits, dass es kriegswichtige Dinge sein würden, die dort untergebracht werden sollten. Die Lagerstätte müsse, so befahl es mir seine Majestät, wohltemperiert und trocken sein.
Tangermünde liegt direkt vor den Toren Preußens, was mich hatte vermuten lassen, es ginge um geheime Arsenale. Waffen, schwere Infanterie, Schwarzpulver. Doch ich hatte mich getäuscht. Wie groß war meine Überraschung, als ich in die Kutschen blickte: Einige wenige Waffen lagen dort zwar, aber vor allem Kunst! Bilder! Skulpturen!
Mir war bekannt gewesen, dass Napoleon zahlreiche Kunstwerke erbeutet hatte, nicht zuletzt die großen Schätze, die sich in Kassel befunden hatten. Viele davon ließ er in den Louvre transportieren, um sie dort der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Allerdings hatte sich Napoleon als kluger Feldherr wohl auch entschlossen, ein paar Ersparnisse zu bilden. Eine Art schwarzer Kriegskasse für zukünftige Aufgaben. Dies würde ihm eine gewisse Unabhängigkeit erhalten. Erkennst Du, welch großer Visionär unser Kaiser ist?
Eine beträchtliche Zahl von Kunstwerken ist also nicht in den Louvre, sondern nach Tangermünde gereist. Bis ihr Fehlen bemerkt wird, sollte einige Zeit vergehen. Man wird sie sicher als verschollen klassifizieren. Vermuten, dass sich hier und da einzelne Soldaten bereichert haben. «Ein bisschen Schwund ist immer», sagte der lebenskluge Magistrat einmal bei anderer Gelegenheit. Eine Tangermünder Redensart, die sich auch in Frankreich durchsetzen könnte. Sicher hat der Kaiser längst Pläne, wie er diese Kunst bei Bedarf zügig in Kanonen, Schwarzpulver und Soldaten verwandeln kann.
Stell Dir vor, neben vielen Tischbeins haben wir jetzt einen echten Caravaggio hier in Tangermünde. Zwei Rubens, mehrere Rembrandts, einen großen Hieronymus Bosch und noch einiges mehr. Doch nur ich weiß, wo genau die Bilder versteckt sind. Das war der ausdrückliche Befehl des Kaisers.
Wir schickten des Nachts alle anderen Gardisten mit zwei Kutschen in die Umgebung. Tagsüber studierte ich mit ihnen den Weg, damit sie sich auch im Dunkeln nur im Licht ihrer Fackeln zurechtfinden konnten. Schwer bewaffnet, wie sie waren, hätte sich niemand getraut, sie zu überfallen, aber man hätte ihnen wohl folgen können. Was auch geschah, jedoch war dies unsere Absicht. Es war natürlich alles nur Ablenkung. Einer der Gardisten zog sich sogar meine Kleidung an, um die Illusion zu vervollkommnen. Am Ende ist immer alles nur Ablenkung. Das gesamte Geschehen der Welt besteht bei näherer Betrachtung nur aus Ablenkung. Das ist es, was sie im tiefsten Kern antreibt. Diese Wahrheit erkannte ich, als ich in jenen Nächten völlig unbeobachtet die Kunstwerke in ihren tatsächlichen neuen Heimstätten deponierte.
Wo genau sich diese befinden, kann ich leider nicht einmal Dir verraten. Ist Dir klar, welche Bedeutung mir dadurch zuteilwird? Das zukünftige Schicksal Napoleons und damit Frankreichs hängt fortan von meinem Wissen ab. Bald schon wird er mir eigene Soldaten schicken. Eine persönliche Leibgarde, die mein Geheimnis und mich schützen soll.
Liebste Amelie, auch wenn es durchaus noch manches mehr gäbe, was ich Dir berichten möchte, muss ich enden, denn es ist eine kleine Festlichkeit für den Abend geplant. Um den erfüllten Auftrag sowie meine vollkommene Gesundung zu feiern.
In Liebe,
Dein Bruder Philippe Robert, Hauptmann von Tangermünde
Tangermünde, den 29. Juni 1807
Liebste Schwester,
wie verwirrend alles ist. Ich schreibe Dir diesen Brief aus der Ruine der gerechten Burg, da ich mich auf der Flucht befinde. Ja, Du hast richtig gelesen. Auf der Flucht! Was ist geschehen? So vieles. So plötzlich. Wo fange ich an?
Mein letzter Brief endete mit meinem Aufbruch zum Fest. Es war eine unbeschwerte Feier, kaum Streitereien mit Ausnahme einer kleinen Auseinandersetzung mit dem Krämer Zimmich. Der meinte, es habe noch nie so viele Tote in Tangermünde gegeben, wie in dieser kurzen Zeit der französischen Bürgerherrschaft. Wenn das der Segen des «Kot Siwiel» sei, könne er gerne darauf verzichten. Mehr nicht. Wir prügelten uns nicht einmal. Der friedliebende Magistrat beruhigte mich und sagte, ich solle lieber ausgiebig feiern und trinken. Was wir dann auch taten. Und wie wir das taten. Dann jedoch verschwimmen meine Erinnerungen. Ich weiß noch, wie Fornet mich aus dem Schlaf brüllte. In allerfrühester Früh. Man habe den Krämer gefunden. Auf dem Marktplatz! Mit meinem Degen im Herzen!
Wie absurd! Plötzlich so viele Menschen in meinem Zimmer. Auch Juliane und der Magistrat. Fornet liest meinen letzten Brief an Dich, der offen auf dem Schreibtisch liegt. Dann durchsucht Grouillot in grenzenloser Unverschämtheit alle Schubladen des Dienstzimmers. Auch die verschlossenen. Bis es schließlich kommt, wie es kommen musste. Er findet meine gesamte Korrespondenz mit Dir, liebste Amelie. All meine Briefe an Dich! Und er liest sie auch sofort. Laut. Für alle hörbar. Als gäbe es kein Postgeheimnis. Um sich dann mit Fornet im Verein aufzuspielen. Seit wann ich denn schon Briefe an meine tote Schwester schriebe? Zu welchem Behufe? Ob ich denn nicht begreife, dass sie sich selbst das Leben genommen habe? Dass sie es satthätten. Treu hätten sie mich gedeckt nach meinem Mord am Oberst Concourt. Doch dieses Weitermorden in Tangermünde sei nicht mehr zu tolerieren und noch weniger meine wahnsinnige Geschichte um einen verfluchten Degen der Gerechtigkeit. Ich hätte wohl endgültig den Verstand verloren!
So ging ihr Geschrei über Minuten. Man konnte sich wohl fragen, wer hier von Sinnen war. Zugleich keimte in mir ein Verdacht auf: Ob es nicht doch auch verletzte Eitelkeit war, darüber, dass ich mich Dir, liebste Amelie, anvertraut hatte und nicht ihnen. Wenn nicht sogar der Dämon des Neides. Dass sie womöglich selbst Hauptmann sein wollten. Und sodann begriff ich ihren Plan. Sie wollten mich unter Arrest stellen. Mich wegsperren. Deshalb waren sie alle da. Ich musste unverzüglich handeln. Ohne Zögern, ohne Gnade. Selbst wenn dies Opfer zur Folge haben sollte.
Plötzlich fiel einer der frühen Sonnenstrahlen auf den blutverschmierten Degen. Die Tatwaffe, die irgendjemand, wohl zum Beweis, in das Amtszimmer getragen hatte. Es war, als wollte mir jemand ein Zeichen geben. Warst Du das, Amelie? Sei gewiss, ich habe Deine Botschaft erhalten.
Ich konnte sie alle überrumpeln. Ich sprang mit der Geschicklichkeit eines Raubtiers aus dem Bett und hielt, ehe sie sich versahen, den Degen der Gerechtigkeit in der Hand. Sofort spürte ich sie, die märchenhafte, übermenschliche Kraft, die er mir verlieh. Ich riss die völlig aufgelöste Juliane an mich und drückte ihr die noch blutverschmierte Klinge an die Kehle. Und siehe da: Schlagartig verstummte das Geschrei. In ruhigem Ton wies ich die anderen an, mir eine Tasche zu packen mit allem, was ich benötigte: Schreibzeug, Geld, Kleidung, Wasser, notwendigen Alkohol zur Beruhigung der Nerven und sogar Rasierzeug. Dann schickte ich sie sämtlich in die Kammer, in der sie auch mich gefangen gehalten hatten. Es versprach ein sehr heißer Tag zu werden. Sollten sie einmal ihre eigene Medizin schmecken. Ich ließ Juliane die Tür mehrfach verriegeln. Gemeinsam schoben wir noch die schwere Anrichte davor. Durch die vergitterten Fenster war eine Flucht unmöglich. Die nahe Mühle sowie der Wind würden wohl auch ihre Schreie übertönen.
Es blieb die Frage: Was tun mit Juliane? Als sie mich trotz allem noch immer so sanft, offen und voller Liebe anschaute, wäre ich um ein Haar meiner Schwäche erlegen. Da befahl mir eine innere Stimme, ihr Fesseln und Knebel anzulegen. Ohne den geringsten Vorwurf in ihrem Blick ließ Juliane es über sich ergehen. Ich nahm mir ein Pferd und ritt mit ihm flink wie der Morgenwind aus der Stadt. Nach gut zwei Kilometern hielten wir an. Ich ließ den Hengst grasen. Währenddessen lud ich Steine, in etwa meinem Gewicht mit Gepäck entsprechend, in die Satteltaschen und jagte das Tier die Straße Richtung Stendal hinunter. Es kannte den Weg und würde ihn allein zurücklegen. Ich selbst schlug mich in die Büsche und ging sodann zu Fuß weiter. Ablenkung ist alles, wie Du weißt, liebste Amelie.
So bin ich also hierhergelangt, in die Ruine der gerechten Burg. Nach Einbruch der mondlosen Nacht sitze ich an meinem kleinen Feuer und schreibe diese Zeilen. Zu gerne hätte ich mich schlafen gelegt. Doch dann entdeckte ich die Lichter. Zwei flackernde Fackeln näherten sich. Da wusste ich, die Zeit ist knapp. Sofort und hastig musste ich Dir schreiben, denn die Minute der Entscheidung ist nah. Nur Juliane kann wissen, an welchen Ort ich mich zurückziehen würde. Sie muss mich verraten haben. Hätte ich sie zum Schweigen gebracht, als die Gelegenheit war, wäre ich sicher entkommen. Dennoch bin ich am Ende froh, nicht auch noch diese Schuld auf mich geladen zu haben. Bin ich deshalb verrückt? Wir wissen beide, nur die Liebe ist stärker als jede Vernunft. Und es ist wahre Liebe, die ich für sie empfinde.
Jetzt muss ich enden, denn die Fackelträger haben mein Lager fast erreicht. Sollen sie nur kommen! So geht es nun in den letzten Kampf. Für Frankreich! Für den Kaiser! Für die Liebe! Meinen Degen dürstet es nach Gerechtigkeit!
Dein Dich ewig liebender Philippe, stolzer Hauptmann von Tangermünde
Au revoir!
Charlottenburg, den 15. November 1813
Liebste Amelie,
bitte verzeih, dass ich Dir so lange nicht mehr geschrieben habe. Ich war mit meinen Freunden übereingekommen, dass es zur Gesundung meines Gemüts erforderlich wäre, Dir keine weiteren Briefe ins Jenseits zu schreiben. Doch nun, da meine eigene Person, der Major Philippe Robert, gestorben ist, erscheint mir ein letzter Brief an Dich angemessen. Von gleich zu gleich sozusagen.
Major Philippe Robert ist gefallen am 18. Oktober 1813 in der großen Völkerschlacht zu Leipzig. So steht es nun in den Annalen der französischen Armee.
Doch bedaure ihn nicht, liebste Schwester, denn zuvor waren ihm noch einige Jahre wahrhaften Glücks vergönnt. Stell Dir vor, Du bist Tante geworden. Zwei wunderbare, strahlende Töchter, die das wilde rote Haar ihrer Mutter und Dein so schmerzlich vermisstes Lachen geerbt haben. Amelie, die ältere, ist gerade vier Jahre geworden. Roberta feiert im Januar ihren dritten Geburtstag. Sie sind die Sonnen meines Lebens. Du siehst also, Dein Name und der Name unserer Familie werden fortleben. Und das in den beiden liebenswertesten Geschöpfen des Planeten. Ganz wesentlich war ihr Anteil daran, dass ich fünf wunderbare Jahre meines Lebens als Hauptmann in Tangermünde verbringen durfte. Dann beförderte der Kaiser mich zum Major und berief mich zurück ins Feld. Er hoffte, meine tiefen Kenntnisse über die Deutschen würden ihm in den Schlachten von Nutzen sein. Ich fürchte, ich habe ihn enttäuscht trotz meiner aufrichtigen Bemühungen. In meinem Herzen kämpfte ich ohnehin mehr für das Königreich Westphalen als für Frankreich oder den Kaiser. Es war uns gelungen, in Tangermünde den Geist der Revolution, der Ideen, des code civil zu leben. Beinah eine Republik, wenn auch mit einem Hauptmann. Eine Gesellschaft, die auch nach Fornets, Grouillots und meiner Abreise in den Krieg weiter reibungslos funktionierte.
Du wirst Dich fragen, wie sich die Dinge überhaupt so wunderbar entwickeln konnten. Schließlich taugte die Lage, in welcher ich mich beim Verfassen des letzten Briefes in jener schicksalhaften Nacht vor sechs Jahren befand, nun wirklich nicht zur Zuversicht. Du erinnerst Dich, ich saß an meinem kleinen Feuer in der Ruine der gerechten Burg und schrieb in unruhigem Geist einen Abschiedsbrief an Dich. Zwei Fackeln näherten sich meinem Lager, ich vermutete einen Angriff. Daher machte ich mich, zum Äußersten entschlossen und mit dem Degen in der Hand, bereit, die Sache ein für alle Mal auszufechten. Bis zum Tod!
Doch was erblickte ich im flackernden Schein der schwachen Feuer? Julianes Antlitz. Neben ihr ein junges Mädchen, dessen Gesicht mir wohl bekannt erschien, das ich jedoch nicht gleich zuzuordnen vermochte. Noch ehe ich meinem Erstaunen Ausdruck verleihen konnte, sank das Kind auch schon auf die nackten Knie und bat mich um Verzeihung. Mich! Den grauenerregenden Wüterich, der sich mit blutiger Waffe in der Hand zum wilden Sturm rüstete.
Trotz seiner offensichtlichen Panik sprach das junge Ding weiter. Zitternd vor Angst, doch aufrecht im Mute, als wäre sie überzeugt, dass nur ihre Worte die Erde vor dem Hereinbrechen sämtlicher Dämonen der Hölle bewahren könnten. Sie wolle sich entschuldigen für all das Grauen, das sie mit ihrer verzweifelten Tat für ihre Stadt und mich heraufbeschworen habe. Ich konnte nichts sagen. Auch Juliane schwieg. Nur das Mädchen sprach mit leiser, aber gut verständlicher Stimme.
Sie sei Rosemarie, die älteste Tochter des Müllers Wild. Dieser sei in jener unheilvollen Nacht wie so oft trunken, laut, polternd heimgekommen und habe die Kinder aus den Betten geschrien. Sie erblickten sein geschundenes Gesicht, welches in der Prügelei von mir heftig malträtiert worden war. Da wussten sie um seine für sie äußerst gefährliche Laune. Der Vater lachte wüst und präsentierte ihnen einen Degen. Das sei das Schwert des neuen französischen Großmauls, dem er heute ein paar ordentliche Begrüßungshiebe verpasst habe. Auf dass der dreckige Franzose Manieren lerne. Er habe dem Trottel außerdem noch seine Waffe stehlen können. Und nun wolle er, der Müllermeister Wild, auf diesen Franzmannhobel pissen. Einen richtig fetten deutschen gelben Strahl. Um ihm im Namen aller Tangermünder die Demütigung heimzuzahlen. Und alle Kinder sollten dabei zusehen und es später bezeugen. Von nichts anderem sollten die Leute reden.
Daraufhin befahl er seiner ältesten Tochter, also ihr, den Degen zu nehmen. Schlotternd vor Furcht habe sie die Waffe gehalten. Er schimpfte, sie solle nicht so herumwackeln. Und dann sei etwas in sie gefahren. Eine plötzliche Kraft, ein unbekannter Mut. All die unvorstellbare Pein, die er ihr schon in jungen Jahren zugefügt hatte. Die ständige Prügel für sie und ihre Geschwister, das Geschrei, die totgeschlagene Mutter, all dieser Schmerz sei schlagartig in ihre Faust gefahren. Es war, als hätte der Degen ihre Hand geführt und wie selbsttätig zugestoßen. Mit ungeheurer Wucht, mitten in das Herz ihres Vaters.
Die umstehenden Geschwister waren zugleich schockiert und erleichtert. Ein Bruder versuchte die Waffe aus dem Vater herauszuziehen, aber sie schien verkantet. Verzweifelt überlegten sie, was zu tun sei. Sie beschlossen, die Leiche im Schutze der Nacht mitsamt dem Degen in die Elbe zu werfen. Doch unterschätzten sie das Gewicht und die Unhandlichkeit ihres Erzeugers. Schon auf dem Marktplatz verloren sie den Elan. Es überkam sie die Furcht, entdeckt zu werden. Sie ergriffen wie von Sinnen die Flucht und ließen ihn dort liegen. So kam es, dass der Müller im Morgengrauen des nächsten Tages mit meiner Dienstwaffe in seinem Herzen auf dem Marktplatz aufgefunden wurde.
Fortan lebten die Kinder in Angst. Würde der Vatermord entdeckt werden? Was sollte ohne Eltern aus ihnen werden? Stündlich rechneten sie mit einer Katastrophe, aber nichts dergleichen geschah. Unter Führung der beiden ältesten Brüder waren sie tatsächlich in der Lage, die Mühle zu betreiben, ganz ohne Trunksucht, Prügel, Demütigung und Geschrei schien die Arbeit sogar weniger geworden zu sein, obwohl die beiden kräftigsten Hände fehlten. Niemand verdächtigte die Kinder, außer vielleicht dem Magistrat Kunboldt. Allerdings hatte der offensichtlich kein Interesse an einer Aufklärung des Falls, da ihm die offene Mörderfrage wohl anderweitig mehr nutzte. Niemand hatte den Müller gemocht, alle wollten die Kinder als unschuldige Opfer sehen. Ihr Fleiß und ihre Freundlichkeit imponierten den Menschen. Man half ihnen, damit sie die Mühle der Eltern weiterbetreiben konnten. Die Jungen und Mädchen des Müllers nahmen es als Wunder. Wenn eine solche Tat folgenlos war, konnte sie so böse nicht gewesen sein.
Doch blieb ihr Schicksal, ihre Befreiung, in der Stadt nicht unbemerkt. Angespornt von ihrem Beispiel, wagten nun auch die Söhne und Töchter anderer brutaler Väter den Ungehorsam. Einige Nächte später wollte der gleichfalls furchtbar vermöbelte, zornige Bäcker Nolde seine Wut an seinen Söhnen auslassen. Diese setzten sich unerwartet zur Wehr. Der Kampf artete aus, und als alle wieder leidlich bei Sinnen waren, lag der Bäckermeister leblos am Boden. Gewissermaßen ein Unfall, aber totgeschlagen hatten sie ihn wohl. Nun waren die Folgen der tödlichen Schläge der Buben nicht von den bei der Wirtshausschlägerei entstandenen Verletzungen zu unterscheiden. Daher beschlossen die Kinder, es so zu machen wie beim Müller Wild. Das kleinste von ihnen stieg ins Dienstzimmer des Hauptmanns ein. Wie erwartet, befand sich der Degen hinter der einzigen verschlossenen Schranktür, die sich mit einem gebogenen Nagel leicht öffnen ließ. Dann schleppten sie den toten Vater in der dunklen Nacht auf den Marktplatz. Sie benötigten mehrere Versuche, bis der Degen in der Brust versenkt war, der Rest der Geschichte ist bekannt.
Die Müllerstochter erläuterte mir schließlich auch noch die Tode des Tischlers und des Krämers, welche nach ähnlichem Muster abliefen. Da saßen wir schon zu dritt an meinem Feuer.
So hatte sich nun also manches zur Zufriedenheit der Kinder entwickelt, doch als Rosemarie Wild hörte, dass all diese Ereignisse den Hauptmann, also mich, in den nervösen Wahn getrieben hatten, plagte sie ihr Gewissen aufs Heftigste. Sie vertraute sich daher dem Fräulein Juliane an, das sie daraufhin bat, gemeinsam nach mir zu suchen.
Wir redeten noch lange weiter, und ich begriff in jener Nacht, dass die große Revolution, die wirkliche Befreiung, nicht mit dem Stürzen von Kaisern beginnt. Ohne das Ende der unmittelbaren Gewalt, der fortwährenden Angst, können wir weder Freiheit noch Sicherheit anstreben. Darin bestand der grundlegende Irrtum der Jakobiner.
Wir beschlossen, bei Sonnenaufgang gemeinsam nach Tangermünde zurückzukehren. Wenn wir unseren Freunden die gesamten Umstände in aller Ehrlichkeit und Offenheit darlegen würden, sollte sich gewiss eine Lösung finden.
Und so kam es tatsächlich. Ich denke, ich habe keinen Menschen auf Erden je glücklicher erlebt als meinen lieben Freund Fornet, nachdem ihm klar wurde, dass ich doch kein vom Irrsinn befallener Serienmörder war. Auch Grouillot war sehr erleichtert.
Einzig mit dem Magistrat Kunboldt hatten wir es nicht leicht. Es stellte sich bald heraus, dass er mir wohl doch nicht so ein guter Freund war, wie ich angenommen hatte. Nicht nur, dass er meine verhängnisvolle Trunksucht stets aus niederen Motiven anspornte. Er soll auch von den Müllerkindern ein Drittel der Gewinne der Mühle als Schweigegeld verlangt haben. Beweisen allerdings ließ sich ihm nichts. Er war stets äußerst vorsichtig.
Ich heiratete Juliane, und sie schenkte mir, wie schon erwähnt, zwei Töchter, die auch ihren Großvater, den mürrischen Wolter, oft zum Lachen brachten. Auch Fornet fand sein Liebesglück in Tangermünde und wollte bleiben. Grouillot hingegen drängte es zurück in seine Heimat, die Normandie, wo er noch einige Jahre als Bauer auf dem elterlichen Hof zu verbringen hoffte. Doch zuvor wurden wir noch einmal in die Schlacht gerufen. In einen Krieg, aus dem nur sein Name zurückkehren sollte.
Gegen Mittag des 18. Oktober entdeckten wir seinen Leichnam. Niedergestreckt auf dem Felde. Trotz aller Trauer regte Fornet geistesgegenwärtig an, den furchtbaren Verlust unseres Freundes Louis Grouillot nun wenigstens zu nutzen. Wenn man ihn für mich hielte, könnte ich so der Armee und weiteren Kriegen für immer entrinnen. Louis wäre nicht vollkommen umsonst gestorben.
Also tauschte ich mit dem toten Freund die Uniform und legte noch, um alle Zweifel an der Identität zu zerstreuen, den Degen der Gerechtigkeit neben ihn. Längst hatte meine Waffe eine gewisse Berühmtheit auch über Tangermünde hinaus erlangt. Sie fiel nun den Preußen in die Hände. Wahrscheinlich liegt der Degen heute in ihren Militärarchiven und führt nie wieder einen strafenden Hieb aus. Das dürfte auch das Beste sein.
Fornet und Grouillot, zu dem ich nun geworden war, ließ man schon kurz darauf nach Tangermünde zurückkehren. Dort angekommen, trafen wir in gebotener Eile die notwendigen Entscheidungen. Louis Grouillot ehelichte Juliane Wolter. Da Grouillots Gesicht in Tangermünde bekannt war, vollzog man die Trauung in aller Stille. Unmittelbar im Anschluss ging es mit den beiden Töchtern in die preußische Hauptstadt Berlin. Um uns dort das Leben zu erleichtern, deutschten wir den Familiennamen ein. Fortan waren wir also die Eheleute Ludwig und Juliane Grollow. Wir reisten mit leichtem Gepäck, nur ein kleines Bild hatten wir dabei. Einen echten Rembrandt immerhin.
Die restliche Kunst versteckten wir an einem Ort, der so sicher war, dass keine Soldaten Napoleons und auch keine hinterlistigen Tunichtgute wie der Magistrat Kunboldt sie finden würden. Denn welchen Sinn hatte Kunst, wenn sie nur dazu diente, einen weiteren Krieg zu finanzieren? Von dem Tangermünder Versteck aus würden wir die restlichen Kunstwerke im Laufe der Jahre unauffällig in die Welt zurückbringen.
Über alles Weitere beschlossen Fornet sowie Juliane und ich, Ludwig Grollow, in Kontakt zu bleiben.
Du siehst, liebste Amelie, die Dinge haben sich gefügt, und wahrlich nicht zum Schlechtesten.
Du wirst in Deinen Nichten Amelie und Roberta Grollow fortleben, die wie ihre Mutter als Wirtshauskinder aufwachsen werden. Denn wir haben bereits den Erwerb einer Lokalität im benachbarten Städtchen Charlottenburg in Aussicht, für die wir nur noch nach einem passenden Namen suchen.
Der alte Wolter, dem der Abschied von Juliane und vor allem von seinen beiden Enkelinnen wohl das Herz zerriss, schlug seiner Tochter hierzu nicht ohne Bitternis «Die Treulose Tomate» vor. Ich könnte mir vorstellen, dass wir seinen und den Schmerz aller unglücklich liebenden Menschen in dieser Weise ehren werden.
Doch nun, liebste Amelie, heißt es Adieu sagen.
Dein Dich ewiglich liebender Bruder, Major Philippe Robert, der im Felde sterben musste, um in Freiheit leben zu können.