2008

Das Dioxin hat Daddy umgebracht, sage ich zu Claudia, nachdem Daddy im Riverdale-Hospiz den Löffel abgegeben hat. Meine Schwester schaut mich an, als würde ich irgendeinen total behämmerten, super-gaga-erzbekloppten Oberscheiß labern. Nur ihr zu Ehren wiederhole ich noch einmal, dass Dioxin hochgiftig ist. Und der Hauptbestandteil von Agent Orange. Das Zeug hat unserem Vater die Organe weggefressen. Ich zeige ihr Zeitungsausschnitte, nikotinverfleckte Artikel, meinen Ordner mit Zeugenberichten anderer Blue-Water-Veteranen, die auf Flugzeugträgern in Vietnam gedient haben. Aber Claudia zuckt zurück und reckt mal wieder das Kinn vor, wie sie es schon gemacht hat, als wir noch kleine Mädchen waren und die zwei lahmarschigen Briten auf Shakespeares Schiff spielten.

»Es ist eben nicht alles ein gottverdammtes Theaterstück«, brumme ich. »Manchmal geht’s einfach nicht um das gottverdammte Theaterstück.«

»Ich bin ja auch die Tochter eines Seemanns. So wie du.«

»So geht das nicht.« Sie zuckt die Achseln. »So erweisen wir unserem Vater keine Ehre. Warum kannst du dir nicht erlauben zu trauern, Bev? Einfach nur zu fühlen, was du eben fühlen musst.«

Ich fühle. Wut. Weil der Daddy, den ich kannte, in drei Tagen beerdigt wird. Danach wird sein Körper in dem zwei Meter tiefen Grab zusammenfallen, sich blähen und aufplatzen. Maden werden sich einfinden, um ihr finsteres Werk zu verrichten, dem Wandel seiner sterblichen Überreste Beihilfe und Vorschub zu leisten. Die Haut, Daddys schöne, kastanienbraune Haut, wird vom Skelett abfallen. Schon heute Nachmittag, als ich ihn gewaschen habe, hatte die Verwesung eingesetzt, das Faulen der Organe. Leberkrebs macht die Leiche septisch. Und je septischer ein Leichnam ist, desto schneller fault er. Das Einbalsamieren hält den Prozess auf, aber begonnen hat er unweigerlich. Er findet jetzt gerade statt. Auf Edward Christies Totenschein wird Septisches Organversagen stehen. An solche Sachen will ich keinen beschissenen Gedanken verschwenden. Ich habe versucht, diese Dinge aus meinem Kopf zu verbannen, während ich meinen letzten Liebesdienst verrichtet habe, der darin bestand, Daddy zu waschen. Ich konnte nicht zulassen, dass die Hospizschwestern seinen kalten Leichnam saubermachen, so toll sie auch waren. Das war mein Job. Meine Art, Lebewohl zu sagen, adiós, arrivederci, Baby.

Claudia wird bei der Beerdigung sprechen. Sie wird trotz allem Schmerz das Philosophieren anfangen und sein Loblied singen, aber ich habe gesehen, wie seine Lippen bleich wurden, wie seine braunen Augen ihr Licht verloren. An seinem Totenbett hat Claudia gesäuselt: »Es ist gut, Daddy. Alles gut, Daddy. Du kannst heimgehen.« Sie hat ihm dieses beschissene Stück vorgelesen, Rosenkranz und Güldenstern.

 

»Du siehst mir nach einem klugen Mädchen aus.« Auf ihrem Namensschild stand: Barbara Camphor.

»Ich werd’s behalten.« Es war das erste Mal, dass ich mir erlaubte, den Satz laut auszusprechen.

»Na gut. Das ist eine Möglichkeit.«

Ich fand es ziemlich frech, wie sie das sagte. »Finden Sie, ich sollte das nicht machen?«

»Du hast es ja schon gemacht, Kindchen. Der Zug ist abgefahren, jetzt geht die Reise los.«

Ich weiß noch, wie ich gelacht habe, ihr aber am liebsten eine gescheuert hätte. Aber sie hatte ja die Spritze. Und sie sollte mir Blut

»Das musst du mit dir und Gott ausmachen.«

»Sie sind ja keine große Hilfe.«

»Ich helfe dir gerade herauszufinden, ob du das Virus hast, das zu AIDS führt. Ich hoffe sehr, du hast es nicht, aber falls doch, musst du einen Weg finden weiterzuleben. Ist das klar?«

Sie fand die Vene und musste die Spritze nur einmal ansetzen. Ein Piekser. Mehr nicht.

»Verdienen Sie gut?«

»Das ist doch mal eine Frage, wie ich sie von einem Mädchen in deiner Lage hören will. So eine Frage würde ich auch stellen.« Ich sah zu, wie sie die Ampullen mit dem Blut auf ein Tablett legte und sich etwas notierte.

»Es könnte besser sein«, sagte sie. »Aber ich verdiene nicht schlecht. Und manchmal muss ›nicht schlecht‹ eben reichen.«

 

Ich hatte Shirley von der Schwesternschule erzählt. Wir schafften unseren Abschluss, schwänzten aber die Zeugnisverleihung. Meistens hingen wir bei mir rum und lernten. Lernen war das Einzige, wobei unsere Eltern uns noch unterstützten, denn als wir es ihnen schließlich sagten, wollten sie uns demonstrieren, dass wir Mist gebaut hatten und sie das nicht dulden würden. Ich sah, wie meine Mutter und mein Vater strahlten, als Claudia an der Columbia genommen wurde. Da bin ich doch lieber mit Kevin in eine Einzimmerwohnung gezogen, als dort zu bleiben und zuzuschauen, wie sie als Erste aufs College geht. Hat echt weh getan, dass meine kleine Schwester auf die Columbia geht. Aber scheiß drauf: Wenn ich schon nichts Besonderes sein konnte, dann würde ich wenigstens unabhängig sein. Ich entschied mich für die Notaufnahme. Shirley machte Altenpflege und wurde schließlich Hospizschwester. Sie hat mir eine Privatführung im Riverdale gegeben.

Es war ein ziemlich gutes Hospiz. »Er wird sich das nicht leisten können, Shirley«, sagte ich. Daddys Versicherung deckte kein Einzelzimmer ab.

»Bev«, sagte Shirley. »Das ist alles geregelt. Ich kümmere mich drum.«

Shirley brachte Daddy in einem Einzelzimmer unter, in dem ein zweites Bett stand und ein bequemer grüner Sessel, so dass Claudia, Mom und ich nachts bei ihm bleiben konnten. Es war ein Zimmer mit Blick auf den Garten. Im Garten wuchsen kleine, harte Birnen, die man vom Baum pflücken konnte, und Tulpen und Pfingstrosen und pinke Azaleen, die mich mit ihrem gierigen Blühen wahnsinnig machten.

 

Vierundzwanzig Stunden vor Daddys Tod dachten wir, er erholt sich wieder. In den letzten zwei Jahren hatte es mehrmals Spitz auf Knopf gestanden, er hatte sich aber immer wieder berappelt. Mom war an seinem Bett eingeschlafen. Das Metallgitter diente ihr als Kissen. Ich war nach unten gegangen, um eine zu rauchen. Claudia döste in dem grünen Ledersessel, der aussah wie ein Möchtegerndesignerstück. Als ich wieder ins Zimmer kam, saß Daddy mit weit offenen Augen da und sagte mit einer kräftigen Stimme, der man nicht angemerkt hätte, dass er nur noch zweiundfünfzig Kilo wog: »Wo ist das Erdbeereis?« Und ich drehte mich auf dem Absatz meiner Pseudoclogs um und suchte die Hospizschwester, und sie brachten ihm zwei Kugeln Erdbeereis im Pappbecher. Mom fütterte Daddy mit dem Löffel, und er verputzte das Eis, und dann fing er an, mit seinen komischen Briten zu reden, als säßen sie auch mit uns im Hospizzimmer.

»Na, wenn das nicht Ros und Gül sind«, sagte Daddy. »Wie habt ihr Strolche mich denn hier gefunden? Dann seid ihr also endlich auch an Land gegangen. Ja, ich habe schon bessere Tage gesehen.«

Und Mom sagte: »Na, das ist ja wie in alten Zeiten.«

Und als Claudia Daddy so reden hörte, sprang sie auf wie Dornröschen nach einem viel zu langen Nickerchen und kramte in ihrer Tasche nach ihrer Ausgabe von Rosenkranz und Güldenstern. Wenn Claudia nichts anderes mehr einfiel, hat sie Daddy immer vorgelesen. Sie kam an sein Bett und las die erste Zeile vor, auf die ihr Blick fiel.

»Fehler! Synonyme verboten. Eins zu eins!«, las Claudia. Sie wurde sofort zu Rosenkranz. Daddy lächelte. Also folgte ich ihrem Stichwort und wurde zu Güldenstern. Ich brauchte gar nicht ins Buch zu schauen, um die Rolle zu spielen. Das brauchte keiner von uns, außer vielleicht Mom, die den Text nie gelernt hat, weil schließlich einer in der Familie Zuschauer bleiben und den Wahnsinn ein bisschen eindämmen musste.

ICH ALS GÜLDENSTERN: Keine Frage! Zwei zu zwei. Letzte Runde.

CLAUDIA ALS ROSENKRANZ: Was ist heute los mit dir?

ICH ALS GÜLDENSTERN: Wann?

CLAUDIA ALS ROSENKRANZ: Was?

ICH ALS GÜLDENSTERN: Bist du taub?

CLAUDIA ALS ROSENKRANZ: Ob ich tot bin?

ICH ALS GÜLDENSTERN: Ja oder nein?

CLAUDIA ALS ROSENKRANZ: Gibt es eine Wahl?

ICH ALS GÜLDENSTERN: Gibt es einen Gott?

Daddy lachte so sehr. Wir waren seine britischen Narren auf dem Todesschiff, das sich nicht aufhalten ließ, und je mehr er lachte, desto mehr führten wir uns auf. Wir hätten auch wieder vier und fünf sein können, neun- und zehnjährige Mädchen, die bei ihrem Vater Eindruck schinden wollten, beim Spielen maßlos übertrieben.

»Kinder, Kinder!«, rief unsere Mutter.

Aber Daddy lachte immer noch, ganz high vom Morphium. So, wie er das sah, waren seine beiden Briten in Höchstform. Und in dem Moment kamen Minerva und Peanut rein. Minerva warf mir einen Blick zu, nach dem Motto: Doch nicht hier!

Mom wandte sich an Peanut. »Kannst du bitte irgendwo hingehen mit deiner Mutter?« Und Minerva, die in diesem Frühling, der viel zu viel Sommer war, ein Sommerkleid mit Spaghettiträgern trug, tauschte den Platz mit Mom und gab ihrem Großvater einen Kuss. Claudia hockte auf allen vieren vor dem Bett und versuchte, den Einband wieder am Buch zu befestigen.

»Claudia«, sagte Mom. »Wir haben es einmal repariert, wir können es auch wieder reparieren.«

Claudia sah zu mir hoch. »Es gibt eine Bezeichnung für Frauen, die so wie du durch die Welt gehen.«

Ich zuckte die Achseln. »Wütende Zicke?«

»Zornige schwarze Frau.«

Daddy hörte auf zu lachen. Meine Kinder sahen mich an. »Was ist denn falsch daran, zornig zu sein, wenn die Situation es erfordert?«, fragte ich.

Minerva warf mir einen Seitenblick zu. »Die Leute, die hierherkommen, wollen ruhen. In Frieden.«

Claudia stand auf und nickte Peanut zu, der es vorzog, sich in der Tür herumzudrücken. Er liebte seinen Großvater sehr, konnte aber nicht damit umgehen, dass er im Sterben lag. »Verzeih, lieber Neffe«, sagte Claudia. »Hier geht es gerade ein klein wenig lebhaft zu.«

Aber ich hielt den Mund und die letzten Restchen Frieden fest und ging mit Peanut aus dem Zimmer, auf den Flur hinaus. Dann sah ich meinen Sohn an. »Peanut, was meinen die Menschen, wenn sie einem sagen, man könne heimgehen? Wie kann man einem Sterbenden sagen, er könne heimgehen, wenn er doch nie einen anderen Ort gekannt hat als diesen hier?«

»Keine Ahnung.«

»Er stirbt«, sagte ich zu meinem Sohn. »Schlicht und einfach.«

»Ich versteh dich ja, Mom« – Peanut fasste mich fest an der Schulter –, »aber jetzt chill mal ein bisschen.«

»Ich hol dir Zigaretten«, sagte er, froh über jeden Vorwand, das Hospiz zu verlassen.

»Nein, Peanut, ich bin absolut in der Lage, mir selbst Zigaretten zu besorgen. Du musst jetzt wieder reingehen und dich von Grandpa verabschieden.«

 

Als ich am Morgen ins Hospiz gekommen war, hatte ich mir als Erstes Krankenhauskleidung übergezogen. Ich glaube ja nicht an Zeichen, aber im Rückblick war das vielleicht doch eines dafür, dass Daddy an dem Tag sterben würde. Als wir erfahren haben, dass er unheilbar krank ist, habe ich mir das Versprechen abgenommen, mein berufliches Ich und mein Lebensich streng auseinanderzuhalten. Ich wollte nicht abstumpfen, nicht bei Daddy in den Schwesternmodus fallen. Ich wollte an erster Stelle seine Tochter sein und erst an zweiter Stelle Krankenschwester. Wenn ich von der Arbeit komme, nehme ich sie nie mit nach Hause. Und wenn ich mich an die Arbeit mache, dann ganz sauber. Das ist eine von vielen Sachen, die ich von meinem Vater gelernt habe. Er hat immer strikt darauf geachtet, dass er die Uniform ausgezogen hat, bevor er nach Hause kam. Er hatte zwei Uniformen, die hat er immer in einem Wäschebeutel aus Nylon mitgebracht, damit Mom sie waschen und bügeln konnte. Es sollte in diesem Land Vorschriften geben, wie man als Krankenschwester zur Arbeit geht. Ich kapiere absolut nicht, wie man einfach so in Straßenklamotten da reinmarschieren kann, direkt aus der U-Bahn, sich die Hände waschen und dann Krankenhausbetten machen und irgendwen pflegen kann. So halte ich das nicht. Ich ziehe mich erst bei der Arbeit um und wasche mich. Ich glaube nicht an Gott, aber ich bete für mich und meine Patienten – für die, die ich kenne, und für die, die wieder gehen und es überstanden haben.

 

 

Ich bin ein Jahr älter als meine kleine Schwester. Es gibt Sachen, an die sie sich nicht erinnern kann oder die sie gerne vergessen möchte. Ich weiß noch, wie Daddy Wurstbrote aß und die Abendnachrichten auf CBS geschaut hat. Ich weiß noch, wie Daddy sich mit Tricky Dick im Fernsehen angelegt hat. Ich weiß noch, wie still es im Zimmer war, als er gestorben ist. Wie die Luft einfach aus ihm gewichen ist und es keinen Unterschied mehr gab zwischen seinem Leichnam und dem Metallbett, in dem er lag.

 

Daddy wurde im Krieg nicht eingezogen. Er hat sich freiwillig gemeldet. Daddy hat jedes Jahr am Vierten Juli den Unabhängigkeitstag gefeiert. Und den Memorial Day und den Veterans Day. Bei den Spielen der Yankees hat Daddy die Nationalhymne mitgesungen. Er war klug, aber er hätte noch klüger sein können. Er war nicht arm, aber er hätte auch reich sein können. Er war nicht der erste Vater, der seinen Töchtern erzählt hat, sie wären sein wahrer Reichtum – und auch nicht der letzte. Daddy hat nie über etwas geklagt. Und das macht mich so scheißtraurig. Vielleicht haben ihn ja eigentlich die Abgase an der George Washington Bridge umgebracht. Aber ich bleibe beim Dioxin. Ich will das Hässliche nicht schönreden. Menschen sind tot, die noch leben sollten. An jedem Scheißtag sterben Menschen. Und ich weiß, wo das Gift liegt.