2009

Ich bin staatlich geprüfte Krankenschwester in der Notaufnahme des Columbia Presbyterian Hospital. Meine offizielle Berufsbezeichung lautet Resource Coordinator. Ich habe vier weitere staatlich geprüfte Krankenschwestern unter mir: vier Krankenschwestern, die nach meiner Pfeife tanzen. Wenn ich wollte, könnte ich hier die Diktatorin spielen. So wie diese Chirurgen mit ihrem allwissenden Angebergehabe, als hätte Gott ihnen die Heilkraft in die Fingerspitzen gelegt. Aber wenn ich zur Arbeit komme, weiß ich, dass es nicht um mich geht. Und auch nicht um meine Mitarbeiter. Es geht um die Menschen, die hier im Krankenhaus liegen. Für manche bin ich vielleicht das letzte Gesicht, das sie sehen. Das ist ein Segen. Eine Ehre. Es erdet.

Ich hätte selbst Ärztin werden können. Aber ich habe es nicht hingekriegt, mich um einen Studienplatz in Medizin zu bewerben. In meiner Pflegeausbildung hatte ich nur Bestnoten. Peanut, mein

Ich habe dann nur gelächelt und den Kopf geschüttelt. »Glaubst du vielleicht, du hast alle deine Klugheitsgene nur von deinem Vater?«

Kevin, der Vater meiner Kinder, ist Polizist – Korrektur: Er war Polizist. Jetzt arbeitet er irgendwo im Westen, in der Wüste von Arizona, macht für den Grenzschutz Einwanderungskontrollen und schickt verzweifelte Menschen zurück nach Mexiko. Gut, dass wir auf der High School Spanisch hatten. Wir sind im Süden der Bronx aufgewachsen, ein paar Straßen östlich von Little Italy, wie das früher hieß. Damals wimmelte es in der Bronx von Puertoricanern, da haben wir ganz automatisch Spanisch gelernt, und in der Schule war es für uns ein leichtes Pflichtfach. Das sage ich auch meinen Kindern: Erst lernt ihr was, und im nächsten Moment bringt euch das Gelernte weiter. Am Anfang erkennt man noch nicht, worauf es hinausläuft. Geht also besser auf Nummer sicher und schaut, dass ihr den Anfang gut hinbekommt. Klar, Kevin hat mich immer aufgezogen und behauptet, ich täte mich mit Spanisch so leicht, weil mein Großvater Kubaner war, dabei gehörte der schon zu der Generation, die nur noch Englisch sprach.

Nach den Kindern – ich habe vier – blieben meine Bewerbungen fürs Medizinstudium einfach in der Schublade liegen. Kevin und ich haben vor allem versucht, mit den Rechnungszahlungen hinterherzukommen. Vielleicht mache ich irgendwann noch eine Zusatzausbildung zur klinischen Pflegeexpertin. Darin wäre ich bestimmt gut. Die Arbeitszeiten sind auch weniger extrem. So wie ich das sehe, haben Ärzte heute kaum noch Zeit. Und verdienen tun sie sowieso nicht mehr so viel wie früher. Die schneien vorbei und sind gleich wieder weg. Neulich habe ich mitbekommen, wie ein Arzt seinen Vorgesetzten angebrüllt hat. Der treibt seine Leute ständig an und sitzt ihnen im Nacken. »Wie soll ich denn an einem Tag

Und das ist also James, der alte weiße Mann. So nennt meine Schwester Claudia ihren Schwiegervater immer: den alten weißen Mann. Als sie mir das erste Mal von ihm erzählt hat, meinte ich: »Warum nennst du ihn so? Ist er Rassist oder was?« Claudia hat nur den Kopf geschüttelt. »Der ist kein Rassist«, sagte sie. »Er ist ein Verirrter.«

Der alte weiße Mann ist hier im Krankenhaus auf der neurologischen Intensiv gestrandet. Ich habe Claudia versprochen, mal nach ihm zu sehen, wenn ich Pause habe. Sie ist mit ihrem Mann Rufus irgendwo in Südfrankreich. Erst eine Konferenz in Dublin. Dann ein Frankreichurlaub. Manche Leute haben ein Leben. Jetzt sind sie allerdings auf dem Rückweg, weil der alte Knabe mit dem Kopf auf den Rand seines olympiagroßen Pools geknallt ist, als er meine Nichte Winona retten wollte, die fast ertrunken wäre. Das weiß ich zwar nicht mit Sicherheit, habe es mir aber aus den Einzelteilen zusammengereimt. Bei erster Gelegenheit habe ich mir Winonas Bruder Elijah geschnappt und ihn gefragt: »Was ist passiert, Elijah?«

Und der fünfjährige Elijah sagte: »Dieses Kringelding ist umgekippt, und Winnie musste schwimmen.«

Ich war fuchsteufelswild, als ich das hörte. Von Sorge direkt zu richtig schlechter Laune. Sofort war die ganze Gift-und-Galle-Energie meiner Schwester Claudia gegenüber wieder da. Ich hätte doch auf Winona und Elijah aufpassen können. Ich habe eine Wohnung aus der Vorkriegszeit in Washington Heights, mit vier Zimmern und einem Eins-A-Schlafsofa. Das hätte ich doch hingekriegt. Sie hätten ihre Cousins und Cousinen wiedergesehen, was ja auch nicht gerade häufig vorkommt. Wir hätten zusammen jede Menge Spaß gehabt. Ich wäre mit ihnen Pizza essen gegangen, in den Vergnügungspark oder in den Zoo in der Bronx. Da habe ich eine

Na, jedenfalls, dieser James Samuel Vincent liegt jetzt hier auf der Neuro-Intensiv, halb im Koma mit seinem zerdepperten Schädel, und seine Göttergattin Adele ist mit meinem Neffen und meiner Nichte zu FAO Schwarz und Dylan’s Candy Bar an der 60th Street abgezogen, vor lauter schlechtem Gewissen, weil die Kleine ihr fast ertrunken wäre. Und anstatt gemütlich eine zu rauchen, was ich eigentlich vorhatte, muss jetzt ich nach dem alten weißen Mann sehen, weil ich es Claudia versprochen habe. Ich halte meine Versprechen immer, so oder so.

Wenn Claudia sich mal die Zeit nehmen würde nachzufragen, dann wüsste sie, dass ich auch meine Probleme habe: Kopfzerbrechen XXL. Ich habe Miss Lydia angerufen, die Tagesmutter meiner Zwillinge, um zu fragen, ob meine Tochter Minerva sie abgeholt hat, weil Minerva ja nie ans Handy geht, und während ich noch mit Miss Lydia rede, simst mir Peanut: Hab ich heute Robotertechnik? Muss ich Keisha und Lamar abholen? Und ich nur noch: Herrgott, entspann dich doch mal eine Sekunde. Bitte! Peanut. Entspann dich.

Aber Minerva kam dann doch noch. Miss Lydia hat mich angerufen und mir Bescheid gesagt. Und ich hatte gleich so ein kleines Glücksflattern im Herzen. Vielleicht fängt Minerva sich ja doch wieder. Ich kann es kaum erwarten, ihr zu erzählen, dass ihre Cousine bei James und seiner versoffenen zweiten Frau fast ertrunken wäre. Ich kann es kaum erwarten, ihr zu erzählen, dass Adele versucht,

Ganz ehrlich: Dass es mit Minerva schwierig würde, wusste ich schon, als sie zehn war und ich mit ihr zu einem besonderen Mutter-Tochter-Nachmittag ins Serendipity an der Upper East Side wollte. Ich wollte mit ihr ins Serendipity, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass Diana Ross sich mit ihren Töchtern immer in der Limousine dorthin chauffieren ließ, wenn sie Geburtstag hatten, um Eis mit heißer Schokoladensauce zu essen. Ich dachte, ich zeige Minerva mal, wie die Reichen und Berühmten so leben. Doch als wir ankamen, hatte das Serendipity geschlossen. Es hatte komplett dichtgemacht, und ich war natürlich nicht auf die Idee gekommen, vorher anzurufen. Ich kam mir richtig blöd vor, aber Minerva zuckte nur die Achseln und meinte: »Wo gehen wir dann jetzt hin, Mom?« Und ich schaltete sofort von blöd auf Ich hab’s im Griff. Ich wollte mein Mädchen ja nicht enttäuschen. Also gingen wir los, als hätte ich ein Ziel im Kopf. Wir laufen durch die ganze Upper East Side, und mit jedem verdammten Schritt liegt mir das Joch der Armut schwerer auf den Schultern. Das kann passieren, wenn man sich der Upper East Side aussetzt. Von den Luxusnagelstudios über die kleinen Boutiquen, bei denen man eine silberne Klingel drücken muss, um überhaupt reinzukommen, bis hin zu den schicken Cafés mit den großen Fenstern, die wie moderne Kunst aussehen. Dann kamen wir zu Dylan’s Candy Bar, und der Laden war voll mit Kunden, jungen und alten, die ihrem Zuckerjieper nachgaben. Wir blieben kurz draußen stehen und sahen uns die Leute an, wie sie rein- und rausströmten.

Ich sagte: »Komm, da gehen wir rein.« Wir folgten den Massen. Und Minerva war selig. Sie machte sich daran, Süßigkeiten aus den Plastikschüsseln in kleine Tütchen mit roten Bändern zu füllen, mit denen man sie verschließen konnte. Whoppers, Hershey’s Kisses, Gummibärchen, Pralinen mit Erdnussbutter, Florentiner

Und da dachte ich mir: Wow, die ist klug. Das wird schwierig. Die musst du beschäftigt halten. Und eine Zeitlang habe ich das auch gemacht. Gymnastik. Schwimmunterricht. Spanischstunden. Die Bratsche. Sogar eine Lacrosse-Ausrüstung habe ich ihr spendiert. Aber dann ging meine Ehe kaputt und Minerva gleich mit.

Gerade könnte ich echt töten für eine Zigarette. Aber ich werde schön beim alten weißen Mann ausharren, bis meine Schicht wieder anfängt. Claudia macht mir die Hölle heiß, wenn ich mein Versprechen nicht halte. Es ist so ruhig und friedlich hier drinnen. Wie viel Ruhe und Frieden kriege ich sonst schon? Irgendwie vermisse ich bei dieser Ruhe Kevin. Ich sollte mich mal bei ihm melden, ihm sagen, er soll Minerva abholen. Der Kerl muss ja schließlich wissen, dass seine Tochter am Rad dreht. Aber dann denkt er wieder nur, ich will ihn zurück. Wenn ich ihn anrufe, denkt Kevin, es geht um Sex. Männer denken immer, es geht um Sex, wenn man anruft. Schon komisch – was wir in Beziehungen so alles falsch machen. Wir haben so viel falsch gemacht. Aber bei den Kindern waren wir meistens auf einer Linie. Und das Schwerste ist, uns das zu retten, was wir richtig gemacht haben. Weißt du, was ich meine, James? Hörst du mich überhaupt? Ich hoffe, du hörst mich. Hör gefälligst, was ich sage! Scheiße, vielleicht hörst du mich auch nicht. Kratz mir hier bloß nicht ab. Bleib im Spiel, James Vincent. Gott, warum ist das eigentlich so, dass Zigaretten nicht ins Krankenhaus gehören?