„Die erste Klasse entscheidet über den Rest des Lebens.” Klingt übertrieben, aber viele Eltern spüren diesen Druck und du vielleicht auch. Das beschert dir Ängste, die sich leicht auf dein Kind übertragen können. Mit dem Tag der Einschulung entsteht an einigen Stellen eine Last, die eure Beziehung stressen kann. Dieser Druck kann sich durch alle Grundschuljahre ziehen. Das muss aber nicht so sein!
„Geht es meinem Kind gut? Entwickelt es sich gut? Und kann ich seinen Weg gut begleiten?” Diese Gedanken hast du dir sicher auch gemacht, als dein Kind im Baby- und Kleinkindalter war. Im Jugendalter wird es wieder ähnlich sein: Die Gedanken und Sorgen sind dann bei deinem heranwachsenden Kind, bei deiner Beziehung zu ihm und auch bei deinen eigenen Ressourcen. In all diesen Phasen sind deine Überlegungen im Grunde immer auf eure Familie bezogen: „Ist mein Kind gesund? Kommt es zurecht? Wir Eltern auch? Wir alle gemeinsam?”
Mit der Einschulung und dem Grundschulalter ist es ein bisschen anders. Ich berate Familien und mir sitzen oft Eltern von gerade 4-Jährigen gegenüber, die den ersten Brief vom Schulamt bekommen haben und deshalb ganz neue Ängste durchleben. Es taucht die neue Frage „Wird mein Kind gut bewertet?” auf. Der Blick geht raus aus der Familie. Wahrscheinlich kennst du das auch schon?
Weitere Fragen kommen dazu, die alle sehr nach außen gerichtet sind: „Passt sich mein Kind an die Regeln an? Fällt es nicht auf? Welche Weichen muss ich jetzt schon stellen, damit ich ihm sein Leben nicht verbaue?” Hast du dir diese Gedanken auch schon gemacht?
Wenn du genau hinschaust, wirst du merken, keine der Fragen schaut wirklich darauf, wie es deinem Kind und dir geht. Der Gedanke an Schule lässt alles andere schnell unbedeutender werden. Oft schon weit vor dem ersten Schultag. Ängste und Druck bergen die Gefahr, dass du dich als Elternteil von deinem Kind und eurer guten Beziehung etwas distanzierst. Vor Angst wegen möglicher Probleme im Schulsystem verlierst du schnell Fragen wie „Ist mein Kind gesund? Kommt es zurecht? Wir Eltern auch? Wir alle gemeinsam?” ein wenig aus den Augen.
Das Risiko ist hoch, dass du den gefühlten Druck an dein Kind weitergibst. Wenn dann nach dem Schulstart der Streit um Hausaufgaben wichtiger wird als eure Beziehung, kann es schnell passieren, dass du mit deiner Familie nicht mehr auf einem guten Weg bist, der von einer starken Beziehung lebt.
Viele Ratgeber rund um das Thema Schule haben nur den Fokus, alles für gute Bewertungen zu tun: „So lernt dein Kind lesen. So rechnen. So fügt es sich in die Klasse ein. So konzentriert es sich endlich.” Das sind alles wichtige Felder, aber die Beziehung und das persönliche Wachsen deines Kindes im Grundschulalter haben dabei wenig Raum.
Auch dort, wo es keine institutionalisierte Schule gibt, bleiben Kinder zwischen 6 und 10 Jahren nicht einfach in ihrer Entwicklung stehen. Sie haben Entwicklungsaufgaben jenseits von ABC und Einmaleins, zum Beispiel gut zu kommunizieren, Verantwortung für bestimmte Bereiche ihres Lebens zu übernehmen oder mit anderen zu kooperieren.
Die Fragen danach, was dein Kind vor der Einschulung unbedingt können oder wissen sollte, haben zu oft nur diesen einen, leistungsorientieren Blick. Ob es die Schnürsenkel selbst binden kann, ob es den Stift richtig hält, ob es feste Schlafenszeiten hat, ob es bereits Mengen erkennen kann, ob es sich auf der Toilette perfekt abputzen kann, ob es schon mal gehört hat, wo die Babys wirklich herkommen, ob es schon mal woanders übernachtet hat – das sind typische Angaben in Aufzählungen dazu, was du deinem Kind vorab beigebracht haben solltest. Alle diese Gedanken sind nachvollziehbar und doch zweitrangig. Denn für alle diese Bereiche gibt es individuelle Lösungsmöglichkeiten. Dein Kind muss nicht perfekt ausgerüstet für alle Eventualitäten in die Schule kommen. Du brauchst dich nicht darum zu sorgen, dass es in jedem Moment die perfekte (und von dir vorgekaute) Lösung parat haben wird.
Was genau aber deine Aufgabe ist und was dein Kind benötigt, lernst du in diesem Buch. Damit du dein Kind immer gut im Blick hast und ihr im guten Miteinander durch die Grundschulzeit kommt. Was es hingegen schulisch nicht verpassen sollte, erfährst du in der Schule.
Dein Kind braucht von dir mehr als Schleifenbinde-Training: dein Hinsehen, Hinspüren, Dasein, Zuhören, auch selbst Erzählen, deine Zeit. Es braucht Beziehung.
Dieses Buch wird dir zeigen, wie du das schaffen kannst. Wenn du dich um eine gute Beziehung bemühst und in eurer Familie gute Gespräche üblich sind, ist schon sehr viel gewonnen. Ich nenne das Beziehungsstärke. Dann könnt du und dein Kind Schule, Mitschüler*innen, Lehrkräfte und Co. relativ gelassen auf euch zukommen lassen. Dein Kind wird sich nämlich stark und sicher fühlen sowie für viele Probleme Lösungsideen entwickeln können, weil es dich hinter sich weiß. Du wirst ihm dann sehr wahrscheinlich anmerken, wenn doch mal etwas nicht in Ordnung ist, und kannst reagieren.
Beziehungsstärke
ist eines der am häufigsten genutzten Wörter in meinen Beratungen. Ein Kind, das immer höflich „Guten Tag” sagt, wirkt nach außen wohlerzogen, aber dahinter kann ein verängstigtes Kind stecken, das nur aus Druck und Angst höflich reagiert. Das ist keine gute Beziehung. Wichtig ist der Blick auf die darunterliegende Ebene, die alles trägt: Ist die Beziehung gut und stark? Ist die Eltern-Kind-Verbindung sicher und verlässlich? Dann handelt das Kind in dem Beispiel sicher auch leicht und gesund, nicht aus Angst. Auf der Grundlage guter Verbindung kann alles andere wachsen: zum Beispiel Höflichkeit beim Kind. Starke Beziehungen geben Kraft und ermöglichen gesunde Entwicklungen. Sei mit deinem Kind in guter, starker Beziehung! Dann könnt ihr vieles schaffen.
Viel wichtiger, als dass dein Kind in jedem herausfordernden Moment eine Patentlösung weiß, ist es, dass es in der Schule einen starken Rücken und ein sicheres Gefühl im Bauch hat. Ich spreche hier von Bewältigungskraft. Damit kann deinem Kind eine kluge Lösung einfallen. Es wird sich nicht allein und hilflos fühlen, auch wenn es ohne dich in einer großen, fremden Menge oder aber einem kalten, einsamen Flur steht. Es wird deine Wärme im Herzen tragen, deine Stimme im Ohr. Und es wird wissen, dass du später am Tag da bist, und sich spätestens dann mit Hilfe alles lösen lassen wird.
Bewältigungskraft
ist der andere wichtige Begriff in all meinen Beratungen. Eltern möchten ein glückliches Leben für ihre Kinder und viele sind bereit, dafür unglaublich viel Kraft herzugeben. Leider geraten sie leicht auf einen überfürsorglich-verwöhnenden Weg und bemühen sich darum, ihrem Kind alle Probleme und Konflikte aus dem Weg zu räumen. Das behindert aber die gesunde Entwicklung ihres Kindes. Es lernt nicht, Herausforderungen zu bewältigen, Fehler zu machen und sich dann zu verändern, was aber wichtig für seinen Lebensweg wäre.
Entscheidend ist Hilfe zur Selbsthilfe. Auch dein Kind braucht Unterstützung dabei, zu lernen, wie es Krisen bewältigen kann. Schenke ihm deshalb Bewältigungskraft!
Es ist verständlich, dass du und andere Eltern euch Sorgen macht, sobald die Schule Thema wird. Das ist etwas Neues, etwas Großes. In der Regel wollen alle Eltern das Beste für ihr Kind. Auch du wünschst dir für deines vermutlich eine stressfreie Schulzeit, gute Noten, nette Freund*innen, Spaß und später mal ein gutes Leben als Erwachsene*r. Weniger im Kopf hast du bisher wahrscheinlich die viel wichtigeren Bereiche wie die Beziehungsstärke und die Bewältigungskraft, die du gerade kennengelernt hast und die dir in diesem Buch immer wieder begegnen werden, sowie die drei Entwicklungsfelder Sicherheit, Gesundheit und Lernfreude. Mit meinem Buch lernst du, wie du dein Kind in allen fünf Bereichen stark machst.
1. Beziehungsstärke
Begleite dein Kind zugewandt und beziehungsstark und unterstütze es in seiner Entwicklung. Denn wenn du distanziert und von oben herab mit ihm umgehst, werdet du und dein Kind Herausforderungen eher nicht nachhaltig lösen können. In diesem Fall fehlt es an Vertrauen.
2. Bewältigungskraft
Dein Kind soll die Entwicklungsaufgaben meistern, die etwa im Alter zwischen 6 und 10 Jahren anstehen: Das sind die geistigen, an die du beim Wort Schule zuerst denkst, aber auch die sozialen und emotionalen. Denken, fühlen, mit anderen interagieren – reift dein Kind in diesen Bereichen gut, kann es sein Leben irgendwann gut allein bewältigen.
3. Sicherheit
Dein Kind soll sich sicher fühlen, wenn es in die Schule kommt. Bindungssicher und voller Urvertrauen kann es dort wachsen und lernen.
4. Gesundheit
Dein Grundschulkind soll seine Persönlichkeit frei entfalten können sowie bei allem körperlich und seelisch gesund bleiben.
5. Lernfreude
Selbstverständlich soll es nicht gleich in der ersten Klasse die Lust am Lernen verlieren und sich dauernd von Bewertungen bedrängt fühlen. Diesen Gedanken kannst du dir über die Jahre immer wieder in Erinnerung rufen – und so mancher Lehrkraft auch. Ohne Lernfreude wird es hart.
Urvertrauen und Bindungssicherheit
entstehen in den ersten Lebensjahren, wenn die elterliche Begleitung gut genug ist und äußere Belastungen nicht zu stark. Dann nimmt dein Kind das Gefühl mit „Ich bin sicher, nicht allein, meine liebsten Menschen sind gut zu mir.” Dadurch fällt es ihm leicht, irgendwann ohne dich die Großeltern, den Kindergarten und auch die Schule zu besuchen. Dank der Stressforschung ist inzwischen außerdem klar, wie eng (Bindungs-) Sicherheit mit Stressempfinden und Lernen verknüpft ist: Wenn dein Kind bindungssicher ist, seine Eltern hinter sich weiß, kann es mit Stress und Herausforderungen besser umgehen und ist zum Beispiel auch offener fürs schulische Lernen.
Beziehungsstärke. Bewältigungskraft. Beides ist miteinander verbunden. Bewältigungskraft wächst in der guten Beziehung zu dir. Dann muss dein Kind keine Angst vor der Schule haben oder du kannst sie gut begleiten, damit sie kleiner wird. Auch du musst keine Angst haben, denn du lernst ja jetzt, welche Aufgaben anstehen und wie du
eine hilfreiche Begleitung sein kannst.
Aber häng den Satz „Ich muss dafür sorgen, dass mein Kind ...” nicht zu hoch. Das kann dir wieder Druck machen.
„Ich möchte mit meinem Kind gut in Beziehung sein. Ich kann ihm helfen.” – Diese Sätze fühlen sich viel leichter an. Gegen Sorgen helfen vor allem Wissen und Vertrauen. So könnt du und dein Grundschulkind alle Aufgaben meistern.
Fünf Ziele: Beziehungsstärke, Bewältigungskraft, Sicherheit, Gesundheit, Lernfreude. – Du siehst, Mathematik und Sachkunde kommen in der Aufzählung gar nicht vor. Lesen zu lernen ist wichtig, rechnen zu können ebenso, aber andere Bereiche auch. Und zwar grundlegend. Der Preis für alles sollte stimmen und Schule nicht zur Belastung für die Eltern-Kind-Beziehung werden. Ihr habt einen entspannten Alltag verdient.
In diesem Buch zeige ich dir, wie sich deine Elternrolle verändert, wenn dein Kind ins Grundschulalter kommt, wie du es in starker Beziehung durch den typischen Alltag begleitest und wie du mit speziellen Situationen umgehen kannst, die auf dem Weg deines Kindes zum Problem werden können. In Beziehung lassen sich Herausforderungen leichter tragen.
IM HIER UND JETZT BLEIBEN
Geh als Elternteil die Schwierigkeiten an, die im Moment da sind, nicht diejenigen, die in einigen Jahren mal auftauchen werden. Das macht dich gelassen und eure Beziehung unbelasteter.
Den Eltern der 4-jährigen Kinder in meinen Beratungen sage ich übrigens etwas Ähnliches: „Nur weil euer Kind jetzt schüchtern ist, muss das nicht bedeuten, dass es sich mit 6 Jahren nicht trauen wird, ein Klassenzimmer zu betreten.” Oder: „Nur weil euer Kind zurzeit noch bei jeder Schwierigkeit aufgibt und ausrastet, muss das überhaupt nicht bedeuten, dass die Schulzeit eine Katastrophe wird. Es ist erst 4, es hat noch Zeit.”
Hast du noch ein Kindergartenkind, liest dieses Buch im Voraus und machst dir Gedanken dazu, ob dein Kind schulreif ist? Vielleicht weil es riesige Vorfreude auf die Schule zeigt und es sein großer Wunsch ist, endlich ein Schulkind zu werden? Seine Freude ist toll und macht erst einmal vieles leichter. Seine bloße Schullust macht es aber noch nicht schulreif.
Hinter der Vorfreude kann nur stecken, dass dein Kind die Schule durch ältere Freund*innen kennt, deren coole Klassenkamerad*innen mag oder den abenteuerlichen Schulhof oder die riesige Turnhalle erkunden will. Oder dass es schon seit Jahren in die gleiche Kita geht, langsam die Nase voll davon hat und voller Neugier auf das nächste Kapitel ist.
Es kann auch sein, dass ihm die Erwachsenen in seinem Umfeld vermitteln, wie toll Schule sei und auch, dass das Schulkindsein etwas „Besseres” sei als das Kindergartenkindleben: „Dann bist du endlich groß!” So kann die Lust in deinem Kind natürlich wachsen und echt sein, was eine großartige Voraussetzung für den Schulstart ist. Aber die Lust oder der Wunsch allein sagen leider nichts darüber aus, ob dein Kind auch so weit ist.
Denkst du über eine Kann-Kind-Einschulung nach – ein Jahr bevor dein Kind eigentlich schulpflichtig wäre? Dann nimm es ernst, wenn dein Kind Vorfreude zeigt, aber dieses Gefühl sollte niemals allein entscheidend sein. Denn was der Wunsch tatsächlich mit sich bringen würde, weiß dein 5-jähriges Kind auf gar keinen Fall.
Unser Schulsystem ist nicht nur ein Geschenk, bedeutet nicht nur Bildung für alle und ein fröhliches Schulkind-Leben. In die Schule zu gehen, heißt auch:
• weniger Spielzeit
• mehr kooperieren müssen
• Impulse besser kontrollieren müssen
• anstrengendere Tage
• Hausaufgaben
• Freundschaften, die zu Ende gehen
• Zeitdruck
• Konkurrenzdruck
• Bewertungsdruck
Das kann dein Kind nicht überblicken. Die Verantwortung für die Entscheidung kannst du nicht abgeben, egal was dein Kind sich wünscht.
Klar, ein weiteres Kindergartenjahr kann für dein Kind und auch für dich in der Begleitung herausfordernd werden, wenn es sich an dem Ort langweilt. Aber ein frühes erstes Schuljahr kann nicht nur in diesem einen Jahr eine starke Belastung sein. Es kann in der Folge während der ganzen Schulzeit zu Stress führen, beispielsweise wenn alle in der Klasse pubertär werden, aber dein Kind noch absolut verspielt ist.
Für die Schulreife ist schon lange nicht mehr das einzige Kriterium, motorisch und kognitiv in der Lage zu sein, schreiben und lesen zu lernen. Fähigkeiten im Bereich Konzentration, Motivation und Sprache kommen hinzu, aber besonders auch im Bereich soziales Verhalten:
• Ist dein Kind imstande, häufig mit Gleichaltrigen zu kooperieren, zu diskutieren und in Konflikten Lösungen zu finden?
• Mag es freiwillig helfen, trösten und unterstützen, dass eine Gruppe gut zurechtkommt?
Dann hat es diese sozialen Skills und diese Bewältigungskraft sicher in Beziehungsstärke mit dir entwickelt. Sie sind die besten Grundsteine, um Schullust um das zu ergänzen, was für die Schulreife notwendig ist.
Muss dein Kind zur Schule, aber du sorgst dich, dass es noch nicht komplett schulreif ist? Wenn dein Kind kein Kann-Kind ist und die Einschulung dank Geburtsdatum nicht mehr warten kann, ist es möglich, dass einer der oben genannten Bereiche trotzdem noch sehr ausbaufähig ist. Dennoch wird es wahrscheinlich in die Grundschule geschickt, wenn zur Schulreife nichts Gravierendes fehlt.
Auch dann sind die Beziehungsstärke und die Bewältigungskraft, die dein Kind durch dich erwirbt, das entscheidende Fundament, um im neuen Alltag gut zurechtzukommen und alle wichtigen Entwicklungsschritte zeitnah gehen zu können.
SCHULWAHL
Manchmal hast du den Eindruck, die Auswahl der richtigen Grund- und später auch weiterführenden Schule gleicht einer Doktorarbeit. Lass dich von diesem Trend nicht mitziehen. Herausforderungen gibt es überall. Kurze Wege und ein erstes gutes Bauchgefühl sind ganz gute Kriterien. Schau dir alles an, fühl die Atmosphäre und frag Kinder, die zu der jeweiligen Schule gehen. Das ist wichtiger als auf Tratsch von irgendwem zu hören. Vermeiden, dass der Ort möglicherweise ein schwieriger wird, kannst du aber nie vollkommen.